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Heyoka Notizen zu einem Ausstellungsprojekt

Das PAN kunstforum in Emmerich am Rhein betreibt eine Museumspolitik, bei der Kunst nicht in einem elitären und gesellschaftlich isolierten Raum dargeboten werden soll. Stattdessen stellt man dort künstlerische Positionen vor, die sich ganz bewusst aus einem engen Kontakt zur Alltagsrealität entwickeln, und die sich auch permanent verändern. “Energie, Materie, Transformation” lauten die Stichworte für eine Projektreihe mit mehreren geplanten Ausstellungsstationen, für die der “Heyoka” das Leitmotiv darstellt: Er ist der schamanistische Clown in der nordamerikanischen Indianerkultur (Sioux), der mit seinen Handlungen einen ständigen Perspektivwechsel bewirkt.

Der Heyoka hat in seiner Kultur die soziologische Funktion, das Gesellschaftssystem kritisch zu befragen, vergleichbar mit dem Hofnarren in der früheren Feudalepoche unserer Kultur. Allerdings ist der Heyoka nicht jener Clown, der scheitert, wie bei uns im Zirkus der tolpatschige dumme August, sondern als Schamane ist er ein Mittler zwischen den Welten, zwischen seinen Stammesgenossen und einer verborgenen Wirklichkeit.

Dieser Heyoka-Clown ist mithin eine mystische Figur, aber nicht in jenem Sinne, wie z.B. im europäischen Mittelalter die Scholastik die Mystik begriffen hat und in jener Epoche das Innere der gotischen Kathedrale zu einem mystisch-entrückten Raum wurde. Dieser Raum wurde von einem spirituell wirkenden Licht durch die bunten Glasfenster erleuchtet: das war eine schöne, kontemplative Welt jenseits des Alltags mit all seinen Mühen und Plagen. Nein, der Heyoka-Narr steht zwar außerhalb dieser Welt, aber in der eben erwähnten Mittlerrolle behält er trotzdem zu ihr den Kontakt und hält ihr von außen seinen Narrenspiegel vor.

Es geht in der Kunst seit dem Beginn der Moderne vor ziemlich genau 100 Jahren ja nicht mehr um die bildliche Illusion, sondern um die Wahrheit im philosophischen Sinne, besser: Wahrhaftigkeit, oder wie man es heute gerne mit einem Modewort ausdrückt: Die Kunst soll authentisch sein. In diesem Sinne hat sie die Aufgabe, uns eine Sicht der Dinge zu offerieren, die eine ganz andere ist als jene der Medien, der Religion, der Philosophie und der Wissenschaften. Für diese spezifische künstlerische Sicht gilt der Leitsatz: “Wissen gründet in sinnlicher Erfahrung” (Rainer Junghanns).

Die meisten Naturvölker leben mit einem Weltbild, das durch die zyklischen Abläufe in der Natur bestimmt ist. Dies als Ausgangspunkt geschichts- und kulturphilosophischer Betrachtungen zu nehmen, ist uns aber auch aus der europäischen Geistesgeschichte vertraut: Im 18. Jh. beschrieb z.B. Johann Joachim Winkelmann kunsthistorische Epochen mit einer Metapher aus der Botanik als Stadien der Knospung, Blüte und des Verwelkens, mithin als ständige Veränderung. Den Austausch zwischen Energie und Materie hat auch Joseph Beuys am Prinzip seiner “Honigpumpe” demonstriert - durch Zugabe von Wärme verflüssigt sich eine Materie wie Fett oder Honig; durch Erkalten, also Energieabnahme, verfestigt sie sich. Dieser permanente Energieaustausch lässt sich beim “Heyoka”-Projekt in die Formel fassen: “Kunst findet durch Begegnung und Transformation statt”.

Mit dem “Heyoka”-Prinzip soll also umschrieben werden, dass zwar fertige Produkte, also Kunstwerke im traditionellen Sinne, in dieser Ausstellungsreihe präsentiert werden, doch zugleich sind alle Teilnehmer bei ihrer jeweiligen Arbeit in einen prozesskünstlerischen Ablauf eingebunden, bei dem sich die einzelnen Stationen aus früheren Aktivitäten und Kontakten entwickeln, auch aus früheren Ausstellungen im PAN kunstforum.

Der Beitrag von Uwe Poth z.B. war schon vorher im Emmericher Museum als eigenständige Installation präsent und wird nunmehr in das neue Projekt integriert. Die Installation “Pantheon - ein Himmel für Raphael” besteht aus einem Konvolut von 140 Bildern; 83 hiervon sind im PAN zu sehen. Seit den siebziger Jahren befasst sich Poth mit solchen projektbezogenen seriellen Arbeiten: Es sind Zyklen von Zeichnungen, Bildern und Objekten zu kunst- und kulturgeschichtlichen Themen. So arbeitete er z.B. über Hieronymus Bosch und dessen berühmten “Garten der Lüste”, oder er folgte Goethes Reiseroute durch Italien, um solchermaßen die Erfahrungen und Emotionen des Schriftstellers nachzuempfinden.

Bei seiner “Pantheon”-Installation geht es in ähnlicher Weise um ein hermeneutisches Sich-Hinein-denken in den Maler Raphael. Folgt man dem Hermeneutik-Begriff von Friedrich Schleiermacher, dann ist jede sprachliche oder künstlerische Äusserung etwas Überindividuelles, zugleich aber wird durch das neue konkrete Kunstwerk ein vorgegebenes ästhetisches System innovativ verändert.

Ganz allgemein gilt auch für die anderen Beiträge in dieser “Heyoka”-Ausstellung: Eine solche künstlerische Weiterentwicklung ist immer durch eine poetische Kraft charakterisiert, durch die sich z.B. auch die fotografischen Beiträge von Rainer Junghanns von der Alltagsfotografie unterscheiden und seine Installationen eine spezifische Aura kommunizieren.

Junghanns zeigt “Schlüsselbilder” zu einer Prozess-Skulptur mit dem Arbeitstitel “Global Move”. Dabei weist der Künstler alltagskulturellen Kommunikationszeichen eine persönliche Bedeutung zu: Eine Aufnahme von der Statue des Bruno Giordano in Rom, der als Ketzer verbrannt wurde, markiert den Beginn seines Projektes. Dieses Motiv korrespondiert alsdann mit einem Foto aus Dubai, der zweiten Projektstation. Es zeigt die Rückenansicht einer Frau an der Anlegestelle eines Flusses. Sie betrachtet drei Moscheen im Bildhintergrund. Eine weitere Fotoarbeit mit dem Titel “Heyoka Bangkok” zeigt eine aufgemalte Theaterfigur auf einer Wand in der thailändischen Hauptstadt. Und dann wirbt ein Schild an einer New Yorker Straßenbrücke kurioserweise für “Free universal creative Karma”. Ein fünftes Bild stammte aus Junghanns' Projekt “New Places”, in dem er die Bewohner von südafrikanischen Townships fotografierte und befragte, wie sie sich eine (humane) Architektur der Zukunft vorstellen: Erst in der persönlichen (Ab)-Sicht des Künstlers, in der sich Orte auf allen Kontinenten der Erde miteinander verbinden, entsteht ein strukturalistisches Beziehungsgeflecht von Bildern, Bedeutungen und Nebenbedeutungen.

Aus einem anderen Projekt mit dem Titel “Neue Tischgemeinschaften” stammt die Arbeit mit dem Zitat der Sioux-Indianerin Lynne Allen. Rainer Junghanns hatte 24 Künstler um ein Statement zum Thema “Zeit” gebeten, und von Lynne Allen kam der Beitrag: “y me nu men a ha pi”. Die Übersetzung lautet dem Sinn nach: “Zeit ist für uns nicht existent”. In dieser mentalen Perspektive offenbart sich ein anderer Zeitbegriff als bei der chronometrischen Zeitmessung im europäischen Denken und dem insgeheimen Wunsch der meisten Künstler des 19./20. Jh., zeitenüberdauernde Ewigkeitswerte zu schaffen.

Bei Rainer Junghanns wie auch bei Martin Müller scheint mir eher eine Haltung die Arbeit zu beeinflussen, die durch das Denken in Äquivalenzen des strukturalistischen Soziologen und Ethnologen Claude Lévi-Strauss bestimmt ist. Er beschrieb das Rohe und das Gekochte, das Nicht-Hergestellte (Natur) und das Hergestellte (Kultur) als binäre Oppositionen. Darauf fußt z.B. die rituelle Vorschrift der Eingeborenen Guayanas, nach dem Räuchern von Fleisch die Räucherhütte zu zerstören: Ist das Produkt (geräuchertes Fleisch) dauerhaft, muss das Produktionsmittel (Hütte) unbeständig sein, um einen Ausgleich zwischen Natur (=Sphäre des getöteten Tieres) und Kultur (=zubereitetes Fleisch) zu gewährleisten.

Martin Müller beschäftigt sich schon sehr lange damit, verschiedene Bildebenen bzw. verschiedene Realitätsebenen gegeneinander zu stellen. In einem Diptychon aus dem Jahre 1988 (“sum up”) kombiniert er z.B. eine gestisch-expressiv orientierte mit einer akurat-abbildenden Malerei. An einen Werkzyklus mit Realzitaten aus der Kunstgeschichte schließt sich dann etwa ab dem Jahre 2000 eine neue Schaffensphase mit digitaler Airbrushtechnik an. “Heyoka” (2000) nimmt in dieser Werkserie ebenfalls die Funktion eines Schlüsselbildes ein: Hier liegen ebenso zwei heterogene Bildebenen übereinander. Signifikant ist die Übermalung des Sujets durch eine dynamische rote Farbfläche, die den Betrachter zur gestaltpsychologischen Ausdeutung reizt. Wirken Müllers Papierarbeiten collagehaft, so kommunizieren die Leinwände gerade durch eine solche Überlagerung von Wirklichkeitsebenen eine Aura von Räumlichkeit, wobei der Künstler auf Mittel der perspektivischen Konstruktion allerdings konsequent verzichtet.

In anderen Arbeiten bildet auch die Schrift eine eigene Ebene, etwa beim Bild “Kachina sunday 2”. “Kachina” nennt man die Puppen der Hopi-Indianer. Sie tauchen hier nur im Titel, nicht aber im Bild selber auf. Wir sehen stattdessen im linken Teil dieses Diptychons ein Porträt des Dichters Gottfried Keller sowie das Bildzitat einer Elefantenfigur von Otto Pankok und im rechten Teil Anspielungen auf den Übergang von der romanischen zur gotischen Kathedralenarchitektur in Frankreich. Häufiger taucht ein Elefantenmotiv in Martin Müllers Arbeiten auf, und wenn man sich um eine ikonografisch-semantische Analyse bemüht, dann lassen sich diese Arbeiten durchaus als eine strukturalistische Malerei im oben skizzierten Sinne begreifen. Denn diese Malerei kreist um die Beziehung zwischen dem Bedeutenden, d.h. dem abgebildeten Gegenstand, und dem Bedeuteten, also dem poetisch-metaphorischen Inhalt dieses Bildzeichens.

Mit Umdeutungen - die im übrigen humorige Anklänge ahnen lassen -, haben wir es indessen bei dem Beitrag von Dieter Rogge zu tun. Er konfrontiert den Betrachter mit einer transformierten Technik, die als solche nicht funktionieren kann. Auf 119 Seiten mit Zeichnungen hat er “Jane's Airport Equipment” ausgebreitet. Dabei handelt es sich um das Sortiment eines Ladens für Flugzeugteile wie Propeller etc.. Ausgangspunkt ist ein Heft mit tatsächlicher Maschinenausrüstung für Flugzeuge, doch in der künstlerischen Umdeutung tritt ein Moment des Grotesken und des Absurden hinzu: Es ist ein freimütiges Spiel mit dem Rationalismus unserer funktionalistischen Welt.

Rogge wählt Dinge wegen ihrer Form und damit wegen ihres ästhetischen Gehalts aus, d.h. ob sie in einem künstlerischen Sinne “schön” sind, und nicht danach, ob sie technisch intakt sind. Kunst hat es ja auch mit den wenig nützlichen, gar unnützen Dingen zu tun, und damit stellt sie ein Gegenmodell zum Zweckdenken dar, das unseren Alltag beherrscht - gleichwohl entstammen Rogges Vorlagen paradoxerweise aber diesem Alltag!

Einen spielerisch-utopischen Charakter haben auch die plastischen Gebilde und Installationen von Andreas Hetfeld. Er präsentierte 2005 in Emmerich ein interaktives Nestbauprojekt, an dem sich 700 Personen beteiligten, und inszenierte 2001 im Valkhofpark von Nijmegen ein Zeppelinprojekt - diese beiden Arbeitsprojekte haben eine exemplarische Bedeutung für sein gesamtes künstlerisches Schaffen. Hetfeld war schon in früher Jugend fasziniert von allem, was kreucht und fleucht und fliegt. Er interessiert sich für alle Wesen und Phänome, die versuchen vom Grund loszukommen - ob das nun Flugtiere sind, Insekten, speziell auch Vögel, daraus ergab sich ein Ansatzpunkt zum Nestbauprojekt... Man mag seine Arbeiten in der Tradition jener Flugmaschinen sehen, die schon Leonardo als Utopien konstruierte, aber sie sind aerodynamisch nicht wirklich zum Fliegen gedacht. Andreas Hetfeld kombiniert stattdessen die menschliche Figur mit Konstruktionen, die ein abenteuerliches Gefühl von Befreiung spüren lassen. Steht bei Rogge mehr die demonstrative Geste im Vordergrund, so ist es bei Hetfeld das konstruierende Machen.

Das Nest, für das die Teilnehmer in Wäldern Deutschlands und der Niederlande Äste, Blätter, Erde und Moos sammelten, hat natürlich in diesem Kontext eine metaphorische Bedeutung: Die mütterliche Bauchhöhle stellt eine “Urhöhle” dar; die Ei-Schale, aber auch Schneckenhäuser und Schildkrötenpanzer sind Pendants dessen in der Fauna. Die äusserliche Schutzfunktion dieser Gebilde vermittelt zugleich eine emotionale Geborgenheit. Das gilt auch für das Nestbauverhalten. Das Nest als sicherer Ort des Brütens ist Metapher für ein Territorialverhalten, das beim Menschen evolutions- und sozialgeschichtlich in die Idee von der Privatsphäre und dem immobilen Privateigentum mündet.

Neben diesen großen skulpturalen Gebilden wie dem Nest und dem Zeppelin weist Hetfelds Schaffen ein recht vielseitiges Werk auf, nämlich große Rauminstallationen ebenso wie monumentale Malerei, Zeichnungen mit Tusche auf Papier oder Materialcollagen. Sie sind - ähnlich wie die Projekte von Uwe Poth, Dieter Rogge oder Rainer Junghanns - immer themenbezogen und tangieren Interessen jenseits der Kunst. Die interdisziplinären Bezüge zwischen Kunst und Technik, oder zwischen Kunst und Physik lassen sich sowohl mit einer stilistischen Strenge ausloten (wie bei manchen skulpturalen Lösungen, zu denen Junghanns gelangt), sie können aber - wie bei Poth und Rogge - durchaus auch eine Komponente enthalten, die an Johan Huizingas Beschreibung des “homo ludens”, des spielerischen Menschen gemahnt, wie oben bereits angedeutet wurde.

Anya Janssen hat in ihrer Serie “Twins” Zwillinge aufgenommen. Es sind reale Zwillinge in Situationen, in denen sie miteinander kommunizieren. Sie umarmen sich oder stehen in ähnlicher Weise in einer innigen Beziehung zueinander. Allerdings spürt der Betrachter, dass eine solche Beziehung durchaus ambivalent sein kann: Zwillinge lassen zwar eine manchmal weitaus engere und intensivere Bindung erkennen als dies normalerweise unter Geschwistern unterschiedlichen Alters üblich ist. Aber zugleich empfinden sie es auch als Last, durch die ständige Konfrontation mit einem “Alter Ego” in der Entwicklung ihrer Individualität gehindert zu sein. Man sieht ja ständig jemanden, der genauso aussieht wie man selbst, und sehr zum Verdruss der beiden Geschwister staffieren die Eltern sie auch noch als “doppeltes Lottchen” in identischer Kleidung aus.

Reflektieren die Beiträge der anderen Künstler die menschliche Existenz an sich und unsere exis-tenziellen Empfindungen (z.B. von Zeit), so geht es bei Janssen in einem sehr konkreten Sinne um die Befragung der individuellen Identität (das ist kein Pleonasmus!) und ihrer Spiegelung - hier eben im Alter Ego. Da der Mensch das einzige Wesen ist, das über sich selbst nachdenken kann, beschäftigen wir uns immer wieder mit den gleichen Grundfragen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Welche Verantwortung tragen wir? Wer sich diese Bilder der Zwillinge betrachtet, dem muss das biotechnische Klonen von Erbgut als etwas Ungeheuerliches vorkommen.

Die Epoche der Moderne war durch einen grenzenlosen technischen Fortschrittsoptimismus bestimmt. Mit dem Kernkraftwerk-GAU von Tschernobyl, der vor genau zwanzig Jahren 1986 erfolgte, sind diese Fortschrittsutopien zutiefst erschüttert worden. Und deswegen sind die skep-tischen Arbeiten von Anya Janssen, Dieter Rogge und Andreas Hetfeld in der heutigen aktuellen Stimmungslage absolut zeitgemäß.

Jürgen Raap

Pressetext

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Heyoka
Energie - Materie - Transformation

01.04.-07.06.2006 Ausstellung 1
und
20.04.-14.05.2006 Ausstellung 2

mit Anya Janssen, Uwe Poth, Rainer Junghanns, Andreas Hetfeld, Dieter Rogge, Martin Müller