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Eröffnung: Freitag, 16. Mai 2008, ab 19 Uhr

Henrik Schrat und sein Indien-Projekt "Outsourcing" von Jens Hinrichsen

Es war einmal in Indien. Irgendwo im Bergland an der Ostküste lebte ein Dorfhäuptling, dem es an Schätzen und Gütern nicht mangelte. Nur einen Sohn hatte seine Frau ihm nie geboren, und so fragte sich das Paar, auf welche Weise ihr Name im Menschheitsgedächtnis wohl fortbestehen könnte. Schließlich hatten sie eine Idee: Sie wollten einen gewaltigen Teich graben lassen, zum Wohlgefallen der Menschen und zur Verewigung des eigenen Namens. Arbeitsplätze wurden geschaffen, drei Jahre lang schaufelten Tausende an diesem Teich, zum doppelten Tagelohn, bis das Werk vollbracht war. Das Märchen ist mit dem glücklichen Abschluss des Projekts noch nicht zuende, aber hier soll zunächst vom Unternehmen Henrik Schrats erzählt werden.

Nein, mit Land-Art hat Schrat trotz vielseitiger Interessen bisher nichts am Hut gehabt. Die Gemeinsamkeiten fangen an, wenn wir den Dorfhäuptling im Märchen - etwas spekulativ - als Künstler bezeichnen, der sich mit seinem Werk in die (Kunst-)Geschichte einschreiben will. Jeder Künstler will das. Während der Häuptling die Option des Schöpferischen als neuen Weg beschreitet, vom materiellen Überfluss kommend, die Sphäre des Ideellen entdeckend, verhält es sich bei Henrik Schrat eher umgekehrt. 1968 in Greiz/Thüringen geboren, in Dresden und London ausgebildet, hat sich der Künstler mit den Jahren zum Grenzgänger entwickelt. Er kommt vom Comiczeichnen, vom Fabulieren und von der Kunst, interessiert sich aber brennend für Fragen der Ökonomie, so brennend, dass er ein Doktorandenstudium an einer renommierten Business School in England aufgenommen hat. Dort wird mit avantgardistischen Formen von Management experimentiert, wie es seit den Neunzigerjahren zunehmend diskutiert wird. Die Sphären von Kunst und Wirtschaft vermischen sich. Künstler begreifen sich als Unternehmer, Unternehmer flirten mit dem Selbstbild "Künstler". Voller Skepsis spricht Diedrich Diederichsen von einer magischen "Formel, mit der Wirtschaftsführer sich an der ganz besonders exquisiten Legitimationsressource Kunst (und ihrem metaphysisch-immateriellen Flair) gütlich tun bis berauschen". Gleichzeitig gäben Künstler mehr und mehr den Gedanken der Autonomie auf, der "strategische Vorteile" bringe: "Von der Kompetenz für ästhetische Werte aus […] war es noch möglich, Kritik an der materiellen Welt zu formulieren", schreibt Diederichsen in "DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst". Henrik Schrat hat den Autonomiestatus keinesfalls aufgegeben. Er gehört jedoch nicht zu denjenigen, die Kunstschaffen als metaphysische Ideenproduktion fernab von Alltags- und Konsumwelten auffassen.

Schrat bringt ästhetische Kompetenz und kritische Reflexionsfähigkeit ein, wenn er sich spielerisch in die Sphäre der Ökonomie verwickelt. "Cutting edge management" lautet das Zauberwort der Finanzelite mit geschärftem Kulturbewusstsein. Mit scharfen Kanten ist auch der Künstler Henrik Schrat bekannt geworden. Seine Silhouetten-Arbeiten leben vom Wellenschliff und der gezackten Linie - und von den schwarzen und weißen Flächen, davon umschrieben werden. Wer lange genug auf das flächige Schattenspiel blickt, dem tun sich die verborgenen Räume auf, das Hinter-, Um- und Miteinander von Alltags-, Comic- und Märchenfiguren, von fliegenden Teppichen und Tannenwäldern. Schrats Schattenriss-Raumgestaltung im Casino des Deutschen Bundestages ("Milch & Honig", 2003/04) überträgt den Mythos vom Schlaraffenland auf die zeitgenössische Ökonomie und inszeniert ein ironisches Spiel mit Bildzeichen der Wirtschaftswunderwelt, die in Münder fliegen, auf der Wand frei flottieren oder sich zu unheimlichen Klumpen verdichten, zu paradoxen Schwarzen Löchern, die Ressourcen und Energien eher absaugen statt sie freizugeben. Voller Irrwitz stecken auch die Comiczeichnungen von Henrik Schrat, die er als schnelles Medium nutzt, um die hochkomplizierte Mechanik der Haussen und Baissen, der Bullen- und der Bärenfallen auseinanderzuschrauben.

"Outsourcing" heißt die neue Arbeit. Es ist nicht das erste Mal, dass Schrat die Form einer Intarsienarbeit gewählt hat. Die Idee kam erstmals bei einem Gestaltungsauftrag für eine Privatbibliothek in München auf. Es war klar, dass der handwerkliche Teil Sache eines Spezialisten sein würde. Künstler wie Jeff Koons machen kein Aufhebens davon, wenn sie die Realisierung eines Entwurfs einem Glasbläser oder einem Oberammergauer Herrgottschnitzer übertragen. Schrat dagegen macht dieses Outsourcing auf der Mikroebene zum Thema seiner indischen Bildergeschichte, die als Intarsienarbeit von eben jenem Handwerker gefertigt wurde, der auch Teil der Geschichte ist, die mit Schrats Stipendienaufenthalt 2007 in Indien ihren Anfang nahm.

Die Erzählung beginnt mit dem Landeanflug. Im südindischen Mysore sucht der Künstler-Unternehmer einen Kunsthandwerker, den er schließlich ausfinding macht. Alltag und Arbeitsweise des Intarsienschneiders Taufequ Ahmed werden skizziert, wobei die menschliche Begegnung auch formal betont wird: Im Zentrum der Arbeit steht ein größeres "Freundschaftsbild"; Künstler, Handwerker sitzen gemeinsam mit einem Elefanten beim Abendessen unter freiem Himmel. Elefantengott Ganesha verkörpert Intelligenz, Wissen, Weisheit, Erfolg und Ausdauer in der hinduistischen Tradition; das sind Tugenden, die auch im Kapitalismus eine übergeordnete Rolle spielen. Die Geschichte klingt aus mit dem Abflug des Auftraggebers, dem Schiffstransport des Werks, der Galerieausstellung und einer Gewinnerwartung in Form von Geldregen, den eine Teufelsfigur (!) aus einem Füllhorn rieseln lässt. Auf den beiden letzten Bildtafeln sind der Handwerker und der Künstler verewigt, als Porträt und als Signatur. Ins Auge fällt zuallererst der ästhetische Reiz der Arbeit. Die gegeneinander spielenden Maserungen der neun verwendeten Hölzer unterschiedlicher Helligkeitsstufen erzeugen einen malerischen Effekt, eine "kulturelle Temperatur" (Schrat), die sich vom Erscheinungsbild herkömmlicher Comics deutlich absetzt und teils wie eine ironisierende Instandsetzung des Kolonialstils wirkt. Darüber hinaus spiegelt sich in der patchwork-artigen Materialität des Werks aber auch der hybride Charakter seiner Entstehung. Ein Mischung aus Zufällen, kulturellen Besonderheiten, persönlichem Geschmack hat dem Ergebnis das spezifische Aussehen gegeben. Dank seines ästhetischen Mehrwerts unterscheidet sich Schrats "Outsourcing" deutlich von den Anforderungen eines, sagen wir, Handyherstellers, der die Fertigung seiner Ware in Billiglohnländer verlegt und trotz günstiger Produktion stromlinienförmig-perfektes Aussehen erwartet - so als wäre das Produkt in der Fabrik nebenan gefertigt. Schrat hat in sein "Produkt" demgegenüber die andere Kultur gleichsam einwachsen lassen, in etwa nach dem Prinzip des Aufpfropfens bei Obstbäumen. Während die Bildtafeln und ihre Unterschriften vorwiegend anekdotischen Charakter tragen, erweitert das Band von Begriffen und Symbolen, das den Rand der Arbeit umläuft, den Kontext, provoziert weitere Fragen, die für die Verschlungenheit von Kunst und Ökonomie, von ideeller und materieller Ebene stehen.

Das Schlagwort "Colonialism" rührt an die Wurzeln einer wirtschaftlichen Ungleichheit, aus der sich Indien als Schwellenland zu befreien sucht. Begriffliche Verweise auf Steuern, Transportkosten und Galerieprozente erinnern daran, dass der Künstler und Auftraggeber den Kosten-Nutzen-Aspekt nicht aus den Augen verliert. In Begriffen wie "Kaufkraft", "Einkommen" und "Lebensstandard" manifestiert sich die Verantwortung des Unternehmers, seinen Mitarbeiter anständig zu entlohnen. Hier hat Schrat erfahren, dass der faire Austausch von Leistungen beim Outsourcing praktisch einer Quadratur des Kreises gleichkommt. Eine begründete "Übersetzung" von einem Niveau aufs andere war aufgrund eines Gestrüpps von Parametern unmöglich.

No "Risk", no "Fun". Beide Begriffe ergeben, nebeneinander am Rand vermerkt, zwei Seiten einer Medaille. Der "Spaß" kommt aus dem Spiel, das Schrat spielt. In der sprunghaften Erzählung, der Abfolge der Bilder, zeigt sich aber auch das unternehmerische Risiko. In der Wirtschaft gehen Firmen, die Outsourcing betreiben, hohe Risiken ein. Unvorhersehbare Ereignisse wie Stromausfälle oder Seuchen, ethnische Besonderheiten oder religiöse Barrieren können das Outsourcing zur Pleite werden lassen. Zwar erwähnt Schrats Bildergeschichte bloß geringere Widrigkeiten während der Reise und des Arbeitsprozesses - ein Deckenventilator kündet von den extremen Klimabedingungen, einmal schwirrt ein Schwarm lästiger Rieseninsekten herbei. Dennoch wird spürbar: nach jedem Bildsegment könnte der Erzählfaden abreißen, das Unternehmen scheitern. Die unterste Reihe schildert sogar Stationen, die zu Zeiten von Entwurf und Ausführung noch gar nicht erreicht waren. Transportschiffe gehen unter. Aus tausenderlei Gründen schafft es ein Kunstwerk dann doch nicht in die Galerie. Oder es findet wider Erwarten keine Käufer.

Henrik Schrat ist ein Spieler, wie ihn der Soziologe Richard Sennett beschreibt, in seinem Essay "Der flexible Mensch" über die Akteure des Turbokapitalismus. Darin deutet Sennett auf die krass unterschiedlichen Betrachtungsweisen von "Risiko": Während Management-Handbücher den Risikobegriff glorifizierten, sei riskantes Verhalten für Individuen negativ konnotiert und werde meistens auch als deprimierend erlebt. Einzig die Spielernatur finde einen psychischen Ausweg aus der ernüchternden Tatsache, dass jede Kette riskanter Maßnahmen, jede Reihe von Würfen, statistisch zu einem Mittelwert tendiert, was Sennett "Drift" nennt. Der Spieler leugne die schlichte Tatsache, dass es mit jedem Mal reiner Zufall ist, wie der Würfel fällt: "Dem Eingehen von Risiken fehlt mathematisch die Qualität einer Erzählung, bei der ein Ereignis zum nächsten führt und dieses bedingt. Natürlich kann man die Tatsache der Regression [zu einem Mittelwert] leugnen. Der Spieler tut es, wenn er sagt, er habe eine Glückssträhne; er redet so, als wären die verschiedenen Würfe irgendwie miteinander verbunden. Damit verleiht er dem Akt des Risikoauf- sich-Nehmens das fiktive Wesen einer Erzählung." Was ist die Arbeit "Outsourcing" anderes als eine ins Bild gesetzte Glückssträhne, die zu eben diesem Bild geführt hat?

Neben "Outsourcing" hat Schrat noch andere Arbeiten bei seinem Intarsienschneider in Auftrag gegeben. Eine Reihe von Einzeltafeln unter der Überschrift "Space Journey" wurde entworfen. In barocker bis jugendstilhafter Formensprache mixt Schrat hier Kulturgeschichte, alte und moderne Mythen. Thematische Klammer scheint das Motiv der unheimlichen Begegnung in Science-Fiction-Filmen zu sein. Raumschiffe landen, ein Zyklop starrt uns aus seinem einzigen Auge an, Gespenster kommen in Sportautos herbeigerast.

Auf Spannung und Risiko hebt wiederum ein Intarsien-Quartett von "Spielkarten" ab. Es sind die ersten Arbeiten einer Serie, die Schrat fortsetzen will. Er nimmt hier Bezug auf das Computerspiel "Neverwinter" und auf die Avatare, die auf solchen virtuellen Schlachtfeldern agieren. Schrat präsentiert vier Tannen von unterschiedlicher Größe und Wuchs, die er sich als Team von Außerirdischen vorstellt. Wie bei Computerspielfiguren üblich, sind in einem Extrafeld bestimmte "Stärken" eingetragen. Die mickrige Tanne "Hans" weist das Maximum an Herzsymbolen auf, aber ein Minimum an Intelligenz- und Kampfkraft-Symbolen. Gleichmäßig verteilt sind dagegen die Stärkegrade bei "Paula", der mächtigsten der vier Tannen. Das vielzitierte "gesunde Mittelmaß" scheint sich als Überlebens- und Wettbewerbsvorteil zu bewähren. Ob das von Schrat als "Team Snee" titulierte Gespann - die vier Tannen sind mit Schnee bedeckt - wirklich vom Teamgeist beseelt ist? Oder setzen sich hier klammheimlich doch das Ellenbogendenken und die berüchtigte Formel vom "Survival of the Fittest" durch? Kehren wir noch einmal zum Märchen aus Indien zurück, von dem anfangs die Rede war. Das Teichanlegen scheint sich zu einem regelrechten Wettbewerb um dauerhaften Ruhm auszuwachsen, der in eine zweite Runde geht. Fünf arme Frauen treten auf, die ahnungslos jenen Gedenkteich des wohlhabenden Mannes zur Morgentoilette zweckentfremden. Zornig ertönt aus dem Wasser die Stimme der inzwischen verstorbenen Frau des Häuptlings und fordert Sühne: die Frauen sollen zum Ausgleich einen zweiten Teich anlegen und ihn mit dem ersten verbinden. Die Frauen sind verzweifelt - für ein solches Projekt fehlt ihnen jegliches Kapital. Eine vorläufige Lösung des Problems bringt neue Schwierigkeiten; die Frauen leihen sich fünftausend Rupien bei einem König, der das Geld nicht in diesem Leben, aber im Himmel zurückhaben möchte. Aber auch dort werden es ihm die Frauen nicht zurückzahlen können, das wissen sie und drohen zu verzweifeln.

Die rettende Maßnahme ist schließlich ein Schild mitten im neuen Teich, auf dem geschrieben steht: "Diesen Teich hat der große König graben lassen". Genialer Schachzug: Auf diese Weise werden Name und Tat des Königs verherrlicht (der nun als eine Art Stifter oder Mäzen in die Ewigkeit eingehen kann). Die Besitzrechte am Teich sind auf den König übergegangen und die Schulden der Frauen getilgt. Mehr noch, am Schluss des Märchens erfahren wir, dass die Frauen in ihrem nächsten Leben von einem König geheiratet werden, der einer jeden einen prächtigen Palast bauen lässt. So werden aus Schuldnern und Wirtschaftsverlierern Sieger. Der flexible Mensch hat die besten Karten im Spiel der Ökonomie - mindestens im Märchen.

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