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Nur der Verführung wohnt die Macht inne, alles seiner Wahrheit zu berauben und wieder in das Spiel eintreten zu lassen, ins reine Spiel des Scheins, und dort im Handumdrehen die Sinn- und Machtsysteme zunichte zu machen… denn aller Schein ist reversibel – rein auf diesem Niveau sind die Systeme verwundbar – der Sinn ist nur durch Zauberei verwundbar. Aus: Jean Baudrillard, Von der Verführung, 1979

Am kommenden Samstag, 24. Oktober um 16 Uhr, eröffnen wir in der Villa Wachholtz (Herbert-Gerisch-Stiftung, Neumünster) die Ausstellung Verführung & Ordnung. Heike Weber & Pit Kroke. Im Rahmen dieser Ausstellung wird auch die Neuerwerbung der Gerisch-Stiftung, die Skulptur Tiko von Pit Kroke (ehemaliger Standort vor dem New Yorker Queens-Museum) präsentiert. Wir laden Sie zur feierlichen Eröffnung mit dem Bürgermeister der Stadt Neumünster Dr. Olaf Tauras herzlich ein. Eine Einführung in die Ausstellung gibt der künstlerische Leiter und Kurator der Ausstellung Dr. Martin Henatsch.

Die Gerisch-Stiftung konfrontiert in dieser Ausstellung zwei Positionen zeitgenössischer Rauminstallation, die sich trotz scheinbarer Polarität zu einem spannungsreichen Dialog ergänzen: Heike Weber (1962, lebt und arbeitet in Köln) und Pit Kroke (1940, lebt und arbeitet in Berlin und Sardinien). Schwebezustände, die Auflösung fest gefügter Strukturen und die Entgrenzung des Raums von Heike Weber stehen den stabilisierenden Architekturskulpturen von Pit Kroke gegenüber. In ihrer Leichtigkeit finden sie zueinander und verzaubern den Betrachter durch das Spiel mit dem Raum und den ihnen innewohnenden Ordnungssystemen. Verführung und Ordnung – ein weiterer Beitrag zum Leitthema Wo liegt Arkadien heute? und eine Einübung in die Wahrnehmung konkreter Raumstrategien im Zeitalter medialer Dekonstruktion.  

Der Ausstellungstitel Verführung & Ordnung ist der Abhandlung Von der Verführung (1979) des französischen Philosophen Jean Baudrillard entlehnt. Verführung (séduction), das kunstvolle Spiel mit der Ordnung der Zeichen, führt uns auf die Abwege der Phantasie. Dieses Spiel zielt nicht auf ein Übermaß zu erfassender Realität, sondern auf den Taumel, der aus dem Aussetzen der Realität erwächst. Baudrillard sah in der Gesellschaft seiner Zeit die Verführung in Gefahr. Allein im Bereich der Kunst als unbeschadetem Medium freier Erkenntnis- und Machtordnungen sollte die Verführung in ihrer ganzen Wirksamkeit noch zu ihrem Recht kommen. Heike Weber und Pit Kroke sind dem Wechselspiel von Verführung und Ordnung in besonderer Weise verpflichtet. In ihren Arbeiten wird Verführung als Herausforderung an die Existenz der Ordnung erkennbar. So unterschiedlich die Werke auf den ersten Blick wirken, so sehr verbindet sie der Umgang mit den Grundelemente der Wahrnehmung: der Linie, dem Raum und dem Punkt als Urzelle der Expansion, dem die Freiheit eingeschrieben ist, in die zweite Dimension oder die dritte Dimension zu expandieren.

Pit Kroke kann als Bildhauer-Architekt gelten. In seinem Zyklus Ludus architektonicus liefert er in spielerischer, leichter und freier Form einen zugleich kritischen Kommentar zur Kunstlosigkeit der Investorenarchitektur. Der in Neumünster gezeigte und in Berlin zwischen 2001 und 2004 entstandene Zyklus spiegelt die stürmischen urbanistischen Aufbruchsjahre. Was in diesen Jahren bei Pit Kroke Form und Gestalt angenommen hat, ist nicht nur skulpturale Architektur im Format des Modells, sondern auch Architektur-Utopie als konzeptueller Entwurf, aus dem freiheitlichen Geist schöpfende Studie, experimentelle Architektur im Medium der Skulptur. Der in Berlin und auf Sardinen lebende Bildhauer-Architekt hat seit 1963 zahlreiche Häuser geplant und monumentale architektonische Skulpturen für den Landschafts- und Stadtraum gebaut. Im Rückblick schreibt er: „Soweit ich zurückdenke, ist mir Freiheit von äußerster Bedeutung, im Leben wie im künstlerischen Schaffen.“ Der schöpferische Impuls entstehe aus der vollkommenen Unabhängigkeit, frei jeglicher inhaltlicher Tendenz, bei höchster Konzentration und gleichzeitiger spielerischer Leichtigkeit.

Pit Kroke kennt die eingeschränkte Freiheit des Architekten; im Experiment der Kunst findet er sie: „Die künstlerische Darstellung sollte sich ihre Reinheit bewahren und so Ausdruck ihrer selbst sein. Das heißt, wenn die innere Freiheit in die Form gerät, so darf ihr Reichtum an Leichtigkeit, Klarheit und Aufrichtigkeit nicht aufgebrochen werden. Auch Heike Webers künstlerische Interventionen bewegen sich im architektonischen Raum. Freiheit, Reduktion, Minimalismus sind für ihr Arbeiten wesentlich. Vergleichbar einem himmelstürmenden barocken Deckengemälde, erweitert und dehnt sie in zeichnerisch-skulpturalen Annäherungen die Begrenzung des Ortes ins Unendliche. Und schafft damit ortsbezogene Raumstrudel, die den Besucher physisch erfassen.

Heike Webers Arbeit ist in der kritisch reflektierten Tradition der Minimal Art zu verstehen. Wir erinnern uns: Mit Donald Judds Kuben oder Samuel Morris seriellen Objekten wurde zum ersten Mal die Bezüglichkeit der Kunst zum neutralen Raum definiert. In Heike Webers zunächst vollkommen ereignislosen Specific Objects wird der reale Ausstellungsraum als zentrale Kategorie eines sich neu formierenden Wertbegriffs greifbar. In Weiterführung des What you see, is what you get von Frank Stella wird der Betrachter buchstäblich beim Wort genommen. Jedoch im Gegensatz zum strengen Formalismus der Amerikaner gibt Heike Weber dem gestalteten Raum etwas Handschriftlich-Subjektives: Die vorgefundene Architektur wird Strich für Strich, Linie um Linie bestätigt, um im nächsten Moment aus den Fugen zu geraten. Heike Weber geht es um Schwebezustände, um die Auflösung der fest gefügten Strukturen, um die Entgrenzung des Raumes. Dies alles mit dem Ziel, die sinnlich-körperliche Wahrnehmung in ihrer Widersprüchlichkeit erfahrbar zu machen. Für Pit Kroke ist das Kunstwerk die Form eines inneren Potentials, ein Ergebnis aus Spiel und Reduktion. Beide Künstler arbeiten an der Utopie des Raums und setzen bei der Auflösung der Wahrnehmung an, um den Betrachter an immer neue Anfangspunkte zu bringen, und ihn zu verführen – im Reich der Kunst und auf der Grenze zur Architektur.

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Heike Weber & Pit Kroke
Verführung & Ordnung