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»Die Herkunft meiner Bilder ist skandalös, weil für mich die Welt ein Skandal ist.« (Hans Bellmer)

Hans Bellmer (1902-1975) ist einer der bedeutendsten und zugleich am wenigsten bekannten deutschen Surrealisten. Bis heute bleibt sein Œuvre geheimnisumwittert und tabubehaftet. Die Ausstellung in der Pinakothek der Moderne wird zum ersten Mal seit über einem Vierteljahrhundert Bellmers Werk in Deutschland in einer aus dem Centre Pompidou, Paris, übernommenen Retrospektive zeigen. Sie versammelt eine große Zahl bisher unbekannter Zeichnungen aus Museen und privaten Sammlungen, Fotografien, Gemälde, unveröffentlichte Notiz- und Skizzenbücher sowie einige Skulpturen-Objekte, darunter auch »Die Puppe«.

1933/34 schuf Hans Bellmer »Die Puppe« (la poupée), das surrealistische Objekt par excellence. Sie ist ein lebensgroßes, gipsverkleidetes Skelett aus Holz und Metall, auf das er seine unterdrückten Bedürfnisse projizierte wie auf ein Fetischobjekt. Zunächst hatte Bellmer sie als eine Geste der Rebellion gegen herrschende Ideologien und jede Art von Autorität geschaffen, doch bald wird die anatomisch beliebig variierbare »Puppe« für Bellmer zu einem Instrument einer neuen Reflexion über den Körper. Diese Beschäftigung macht aus dem Fetischobjekt den paradigmatischen Bezugspunkt des zeitgenössischen, künstlerischen Ausdrucks des Erotischen. Die »Puppe«, faszinierend und verstörend zugleich, ist Spiegelung seiner eigenen obsessiven Erkundungen einer Anatomie des Unbekannten, die sein gesamtes Werk durchziehen. Seine zweite, elaboriertere »Puppe«, die er 1935/36 schuf, bestand aus einem weiblichen Torso mit schwenkbaren Kugelgelenken. Die »Erfindung neuer Formen des Begehrens« mit Hilfe der »Puppe« findet zum einen im Medium der Fotografie statt, für die er theatralische und sadistische Szenarien schafft, vor allem aber in seinen altmeisterlichen, zuweilen von manieristischem Raffinement geprägten Zeichnungen, auf denen Bellmers Ruhm gründet. 1938 floh Bellmer aus Deutschland nach Paris, wo er sich mit Surrealisten wie Paul Eluard, Yves Tanguy, Hans Arp und Max Ernst anfreundete. In ständig neuen Experimenten erweiterte der Künstler die Grenzen körperlicher Darstellungsmöglichkeiten – so wie es früher Hieronymus Bosch und Giuseppe Arcimboldo getan hatten – und verdichtete sie zu einem epischen Mythos über die »Anatomie des Bildes«. Die zahlreichen Zeichnungen, die Bellmer in seiner künstlerischen Laufbahn schuf, offenbaren ihre Bandbreite von naturalistischen Porträts zu Bildern verworrener Gliedmaßen, die sich in nahezu biomorphe Abstraktionen auflösen. In vielen seiner Zeichnungen verschmelzen männliche und weibliche Formen zu ambivalenten, fließenden Organismen, die das Androgyne als ein konstantes Merkmal seiner Obsession deutlich werden lassen.

Die Ausstellung umkreist in einer labyrinthisch angelegten Präsentation die »Anatomie des Begehrens« als zentrales Konzept von Bellmers schöpferischer Arbeit. Sie stellt die Singularität eines Werkes heraus, dessen Auseinandersetzung mit dem Körper, mit Kindheit, Psychoanalyse, Eros und Gewalt im Kontext der 1920er und 30er Jahre in höchstem Maße subversiv war. Die Ausstellung und die dazu erscheinende Publikation machen deutlich, dass gerade heute ein besonderes Interesse an Bellmers Œuvre besteht. Die Infragestellung menschlicher Identität, die Opposition gegen konservative Ideologien und Mainstream-Stereotypen sind aktuelle Themen in der zeitgenössischen Kunst, die sich in den Arbeiten einflussreicher Künstler der Gegenwart wie Matthew Barney, Cindy Sherman und Paul McCarthy wieder finden.

Bellmers Außenseiterrolle stützte sich auf die anhaltende Kraft seiner Rebellion. Was immer seine politischen Überzeugungen und grenzüberschreitenden Intentionen gewesen sein mögen, das Unheimliche, Gewalttätige und Obsessive in Bellmers Werk ist unverkennbar.

Pressetext

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Hans Bellmer - Anatomie der Begierde