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„Casa Mare“ zeigt Menschen in den Räumen, in denen sie wohnen. Menschen aus verschiedenen Regionen Osteuropas, die heute in den Staatsgebieten Ungarns, Rumäniens, Moldawiens und Serbiens liegen, Regionen, in denen seit Jahrhunderten unterschiedliche Nationalitäten zusammenleben und in denen sich eine bäuerliche Kultur neben der fortschreitenden Industrialisierung erhalten hat. Gaudlitz ist dem Besonderen, Einmaligen und Unverwechselbaren auf der Spur, das diese Regionen prägt und von dem wir wissen, daß die Globalisierung es mit der Zeit immer weiter aushöhlen wird. Der Preis des Durchschnittswohlstands und seiner Schattenseiten läßt sich anhand der Bilder ermessen. „Casa Mare – Der große Raum“ schließt direkt an Frank Gaudlitz’ vorangegangene Arbeit „Warten auf Europa“ an, die eine große Resonanz hatte. Nur ist nun nicht mehr die Donau geographischer Bezugspunkt sondern der „große Raum“ zwischen der nordserbischen Provinz Voivodina, dem größtenteils moldawischen Bessarabien, den rumänischen Regionen Dobrudscha im Süden und Marmarosch im Norden sowie der deutschen Sprachinsel in Ungarn, die man als „Schwäbische Türkei“ bezeichnet. Die kulturelle und ethnische Geographie Osteuropas folgt nicht politischen Grenzen. Seit 2007 auch Rumänien und Bulgarien in die EU aufgenommen wurden, hat sich der politische Rand des Kontinents weiter nach Osten verschoben. Die Bilder zu „Casa Mare“ ignorieren die nationalstaatlichen Grenzen ohnehin, denn dieser Teil Europas ist ein Flickenteppich nationaler Minderheiten, meist kleiner ethnischer Gruppen, die sich vor allem über ihre Sprache weniger ihre Religionszugehörigkeit definieren. Sie leben mit- und nebeneinander, fast immer friedlich und in gegenseitiger Akzeptanz: Rumänen, Ungarn, Deutsche, Roma u.a. ebenso wie jene Völkerschaften, deren Namen nur Eingeweihten bekannt sind: Gagausen, Lipowaner und Aromunen. In den Jahren 2006 bis 2008 ist Frank Gaudlitz tausende Kilometer gereist. Unterwegs hat er sich mit Menschen in Verbindung gesetzt, auf die er aufmerksam wurde. Doch während in „Warten auf Europa“ nur der kurze Moment der Aufnahme den Alltag der Abgebildeten unterbrach, ging es nun um einen persönlichen Kontakt. Der Fotograf bat die Menschen, sie zuhause besuchen zu dürfen und dort in ihrem schönsten Raum zu fotografieren. Sie bereiteten sich vor und kleideten sich, wie sie es zu Festtagen gewohnt sind. Gaudlitz fotografierte in gleichen Distanzen die ganze Figur in ihrem besonderen Raum. Privatheit und öffentliche Selbstrepräsentation der Abgebildeten treten in enge Verbindung. Jeder dieser Menschen hat ein Bild von sich vor Augen und er geriert sich so, daß dem Fotografen scheinbar gar nichts anderes übrigbleibt, als es technisch zu verwirklichen. Frank Gaudlitz fotografiert seine Gastgeber in kaum merklicher Untersicht. Das macht sie ein wenig größer, man könnte auch sagen: erhabener, man schaut zu ihnen auf. Und sie blicken durch das Objektiv der Kamera direkt auf den Betrachter, manchmal mit skeptischem, manchmal traurigem Ausdruck aber immer ganz offen, auch neugierig. Diese Blicke bestimmen das Verhältnis von Betrachter und Betrachtetem. Doch zeigen die Bilder nicht nur Porträts sondern auch reine Interieurs, die vieles über ihre Bewohner, ihre Schmuckbedürfnisse, Schönheitsvorstellungen und auch über Religiosität, Erinnerungskultur und Freude am Arrangieren erzählen. Genau genommen sind auch die menschenleeren Zimmer Porträts ihrer kurzzeitig abwesenden Bewohner. Frank Gaudlitz fotografiert in „natürlicher“ Brennweite analog mit der Mittelformatkamera und verzichtet ganz auf digitale Manipulationen seiner Bilder. Die Farben sind die Farben und die Räume sind die Räume, in denen er dem Modell gegenübersteht, keine stürzenden Linien, keine überdehnten oder verkürzten Perspektiven. Selbst das Licht ist nicht verändert, keine Lampen, kein Blitz. Die bäuerlichen Häuser haben meist kleine Fenster, das heißt, der Fotografierte muß, ganz wie in der Frühzeit der Lichtbildnerei, für eine gewisse Weile stillstehen. Das, so hat schon Walter Benjamin an alten Porträtaufnahmen einst beobachtet, führt zu einer starken Verdichtung des Ausdrucks durch die notwendige Konzentration des Porträtierten auf sich selbst. Zudem steht Gaudlitz nicht hinter der Kamera, er schaut durch den Schachtsucher, das heißt, der Apparat ist nicht zwischen beiden – sie schauen sich direkt an. Dieses nicht immer vollkommen konfliktfreie psychologische Moment überträgt sich von dem Fotografen durch das Bild direkt auf die Betrachter. Vor allem darin ist das Geheimnis der starken Präsenz dieser Bilder und auch der selbstbewußten Würde, die aus ihnen spricht, zu suchen. Frank Gaudlitz schafft es, noch einmal, an die ursprüngliche Faszination der Vergegenwärtigung anzuknüpfen, die die Wirkung der früheren Fotografie ausmachte. Unser begründeter postmoderner Bildskeptizismus wird dadurch nicht ausgeschaltet, aber es entsteht etwas für nicht mehr möglich Gehaltenes: Wir sind bereit, diesen manchmal fremdsamen Bildern unbedingt Glauben zu schenken. Karl-Markus Gauß endet seinen Text im Katalog: „Man kann die Fotos von Frank Gaudlitz als große europäische Ermutigung ansehen, über Kleinmut und Furchtsamkeit hinaus zur Anerkennung dessen zu gelangen, was Europa ist, auch wenn es viele Europäer nicht wissen.“

Die Ausstellung, die eine Produktion des Deutschen Kulturforums Östliches Europa ist, wird von einem Katalogbuch mit Texten von Karl-Markus Gauß und Matthias Flügge, erschienen bei Hatje Cantz, begleitet.

FRANK GAUDLITZ Casa Mare Eröffnung: Dienstag, 20. April 2010, 19 Uhr Es spricht Matthias Flügge Dauer der Ausstellung: 21. April – 13. Juni 2010 Öffnungszeiten: Di–Fr 14–19 Uhr

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Frank Gaudlitz
"Casa Mare"