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"Reisende sind merkwürdige Wesen, die große Distanzen zurücklegen und viele Kosten dafür in Kauf nehmen, Neues zu sehen, ohne sich die Mühe gemacht zu haben, den Blick auf die eigenen Füße oder ihre Köpfe zu richten, wo sich so viel Einzigartiges und auch Unbekanntes abspielt, wie man es sich nur wünschen kann." (Alphonse Karr, "Voyage autour de mon jardin", 1845).

Ben Rivers jüngster 16mm-Film "Things" (2014) ist ein zwanzigminütiger Travelogue, in dem der britische Künstler und Filmemacher sich und den Zuschauer in vier Kapiteln durch die Jahreszeiten führt, ohne dabei selbst auch nur ein einziges Mal die eigene Türschwelle zu überschreiten. Während Rivers in früheren Filmen Expeditionen zu weit entfernten oder abgelegenen Orten unserer Zivilisation vornahm, richtet sich nun sein Kamerablick auf die unerforschten Dinge innerhalb der eigenen vier Wände. Er begibt sich auf eine einjährige „Zimmerreise“, die zugleich auch eine Reise in die eigene Imagination und kollektive Erinnerung ist. Xavier de Maistres 1794 verfasster Roman "Voyage autour de ma chambre" diente ihm als ein Ausgangspunkt. Der Autor beschreibt darin nicht nur die Vermessung seiner Wohnung nach Längen- und Breitengraden, er legte sich auch jeden Morgen Reisekleidung an, um dann mit den Augen auf Entdeckungsreise zu gehen. In "Things" nimmt Rivers seinerseits Alltagsgegenstände und Reisesouvenirs, gesammelte Bild-, Film- und Tonfragmente, sein Bett, Bücher, aber auch – durch die Fensterscheibe beobachtet – ein im Garten spielendes Eichhörnchen in den Blick. Die im Kapitel „Spring“ zu sehende aufgeschlagene Buchseite aus dem Roman "Fable" (1971) des französischen Schriftstellers Robert Pinget, die auch der Ausstellung ihren Titel gibt, führt den Blick noch tiefer auf eine fiktional-narrative Ebene: Erzählt wird von einem Heimkehrer, mit schwankender Identität, in einer mythischen Zeit an einem apokalyptischen Ort, der mythologisches Bildmaterial in der Imagination ausspielt und mit alltäglichen Szenen vermischt. "Fable" lässt sich sowohl als Anspielung auf die episch-didaktische Gattung der Tierfabel als auch auf das Handlungsgerüst der Geschichte verstehen.

In dem zweiten Film "Slow Action" (2011) begibt sich der Zuschauer fünfundvierzig Minuten lang erneut auf Reisen. Jedoch entführt ihn die 16mm-Kamera, dieses Mal zu vier der entlegensten, von der Außenwelt hermetisch durch Wasser abgeschlossenen Orten: der kargen Vulkaninsel "Eleven" (Lanzarote), dem versinkenden polynesischen Archipel "Hiva. The Society Islands" (Tuvalu), der einst durch Kohleabbau florierenden, heute verlassenen japanischen Felseninsel "Kanzennashima" (Gunkanjima) und einer noch zu entdeckenden, fiktiven Insel "Somerset". In einer Kompilation aus Dokumentation, ethnografischer Studie und Fiktion geht der Film der Frage nach: Wie könnte die Welt in hunderten oder auch tausenden von Jahren aussehen, wenn die Meeresspiegel gestiegen, neue Inseln entstanden, andere versunken sind und sich eigene Populationen gebildet haben? Sprecherstimmen lesen aus Logbuch-Eintragungen vor, berichten von Ökosystemen und unbekannten Spezies, denen Textfragmente des amerikanischen, in Köln lebenden Science Fiction-Autors Mark von Schlegell zugrunde liegen.

Auf seinen Kamerareisen in "Slow Action" und "Things" erkundet Ben Rivers nicht nur ineinander verschobene Lebenswelten sondern immer auch das Filmemachen selbst. Er bietet imaginäre Bilder, die den Geist des Entdeckens, Experimentierens und Forschens in sich tragen, an deren Wahrheitsgehalt der Zuschauer glauben kann oder auch nicht. Sein Interesse an fantastischer Literatur, Science-Fiction und Reiseberichten, die ihren Ausgang im späten 18. Jahrhundert nehmen, spiegelt sich in der filmischen Verschränkung von fiktiven und realen Wahrnehmungs-räumen.

Begleitend zur Ausstellung laden wir zu der mehreiligen Filmreihe "Fables of the Visible" ein, die sich in über zwanzig Beiträgen von frühen Experimentalfilmern und Gegenwartskünstlern dem „Tierfilm“ widmet und gemeinsam mit Ben Rivers entwickelt wurde. Zudem finden Gespräche mit dem Künstler und seinem Londoner Produzenten Steven Bode (FVU) statt. Das aktuelle Programm, nähere Informationen sowie Ergänzungen und Änderungen entnehmen Sie bitte unserer Website: www.temporarygallery.org/pages/vorschau.html