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Um 1910 fanden in Paris, Dresden und München - und nicht nur dort - Maler und Bildhauer zu tragfähigen neuen Ausdrucksformen der bildenden Kunst. Cézanne, Gauguin und van Gogh hatten ihnen eine Generation zuvor den Weg gewiesen. Diese Ausdrucksformen von 1910 bestimmen nach wie vor auch die heutige Kunst, die wir - ebenso nach wie vor – die „Moderne“ nennen. Auch der seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts für die bildende Kunst angewandte Begriff „Post-Moderne“ führte nicht zu einer Archivierung der „Moderne“ unter einer präziseren historischen Bezeichnung.

In Paris führten die expressiven Tendenzen der zuvor genannten Überväter zum Fauvismus und schliesslich zum Kubismus. In Dresden forderte die "Brücke" 1905 in ihrem konzentrierten Programm: "Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der Geniessenden rufen wir alle Jugend zusammen. Und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergiebt, was ihn zum Schaffen draengt." Noch 1912 stellt Franz Marc die Situation in seinem Beitrag "Die 'Wilden' Deutschlands" im Almanach "Der Blaue Reiter" so dar: "In unserer Epoche des großen Kampfes um die neue Kunst streiten wir als 'Wilde', nicht Organisierte gegen eine alte, organisierte Macht. Der Kampf scheint ungleich; aber in geistigen Dingen siegt nie die Zahl, sondern die Stärke der Ideen."

Nach dem Ausklang der auch immer noch abbildenden Kunst - die Fotografie hatte ihr diese Aufgabe abgenommen - fand die Kunst schliesslich drei grundsätzlich neue Ausdrucksformen: die expressive, welche ihre Kraft aus der Übersteigerung von Form, Farbe und Gebärde schöpfte, die abstrakte, die scheinbar gegenstandslose, die wie die Musik zu einer allgemeinverständlichen "Weltsprache" werden sollte, und die surreale, welche das ganz klar dargestellte Ding, ja sogar den gefundenen, aus seinem Zusammenhang gelösten, jedoch eindeutig erkennbaren Gegenstand selbst nicht nur in Frage stellen sondern seine Gegenständlichkeit sogar verändern, ihm eine "Überrealität" verleihen konnte. Aus diesen drei grundsätzlichen Möglichkeiten schöpft die bildende Kunst noch heute. Dies und selbstverständlich die hohe Qualität der damals entstandenen Inkunabeln der Moderne erklären die auch heute noch so enorme Faszination der unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg entstandenen Werke der Kunst.

Die radikalste, nachhaltigste und erfolgreichste Realisierung der expressiven Tendenzen erfolgte im deutschsprachigen Raum und zwar nicht nur in den genannten Zentren sondern – seiner dezentralen Struktur entsprechend – fast flächendeckend, ob nun in den beiden erwähnten Künstler-Vereinigungen „Brücke“ oder „Blauer Reiter“ oder in monumentalen Einzel-Persönlichkeiten wie Hodler, Munch und Nolde, ob im Rheinischen Expressionismus oder den progressiven Sezessionen, wie z. B. der Berliner und der Wiener. „Brücke“ entwickelte sich in Dresden von 1905 bis 1910 zum fast monolithischen Block des gemeinsamen „Brücke“-Stiles. Die Mitglieder Heckel, Kirchner, Pechstein und Schmidt-Rottluff, später auch Otto Mueller, stellten von 1905 bis 1913 nur gemeinsam aus, das aber in diesen acht Jahren mehr als 100 Mal. Dies war nur in der flächendeckenden Vielfalt der Museen, Kunsthallen und Kunstvereine im deutschsprachigen Raum so möglich. Das Ergebnis war das Entstehen von nicht weniger als 50 Museen der Gegenwart, wie sich damals bereits nannten, von 1900 bis 1933 in diesem Raum.

Den Künstlern des Expressionismus ist unsere Galerie besonders verpflichtet, unter diesen besonders denen der „Brücke“ und unter diesen – durch die Verwaltung seines Nachlasses sowie Betreuung des Archives zu seinem Gesamtwerk und Mitbetreuung seines Museums in Davos – nimmt Ernst Ludwig Kirchner für uns eine Sonderstellung ein. Unsere Arbeit ist der Pflege seines Werkes im gesamten Kunstbetrieb, in Wissenschaft, Museum, Ausstellung, Kritik und Markt gewidmet. In ähnlicher Weise, wenn auch weniger intensiv, weil die Arbeitskraft eine Grenze hat, gilt das auch für die anderen Mitglieder der „Brücke“ und weitere Expressionisten.

Daraus ergibt sich wie selbstverständlich, dass wir in dieser Ausstellung und in dem begleitenden Katalog nicht nur Werke aus der frühen rein expressionistischen Zeit dieser Künstler zeigen, sondern auch deren weitere spätere Entwicklung, in welcher diese zwar ihre Herkunft immer wieder aufscheinen liessen, jedoch eigene unabhängige und neue Wege gingen. In dieser Art und Weise sammelte z. B. auch einer der bedeutendsten jüngeren Sammler des Expressionismus, Hermann Gerlinger, dessen Sammlung jetzt in eines der eben erwähnten frühen Museen der Gegenwart geschenkt wurde, in das Museum Moritzburg in Halle. Das einzelne Kunstwerk erfährt eben nicht nur im Kontext seiner waagerechten Verankerung im Kunstgeschehen seiner Zeit, nicht nur in der senkrechten Abfolge der Entwicklung der Kunst sondern erst durch die Tiefendimension seiner Stellung im Werk des jeweiligen Künstlers seine vollständigen Koordinaten im Raum der Kunst und wird erst in diesem Gesamtzusammenhang voll erkenn- und beurteilbar.

So dürften z. B. die in den letzten Jahren und vor allem in diesem Jahr gezeigten Ausstellungen zum sog. „Spätstil“ von Kirchner mit begleitenden Texten in Katalogen oder z. B. die Erkenntnis, welchen wesentlichen Beitrag Kirchner in seinen Darstellungen des Lebens der Bergbauern in Davos in den zwanziger Jahren zum Arbeitsleben-Bild der Zwischenkriegszeit leistete, sehr viel zu einer umfassenden, vollständigen und zutreffenden Würdigung und „Verortung“ seines Werkes beitragen. Dasselbe ist für Erich Heckel festzustellen, seit die Publikation über seinen Stefan George gewidmeten Wandbild-Zyklus in Erfurt von 1922/23 erschien und seit den beiden Ausstellungen des Brücke-Museums in Berlin zu seinem Werk der 20er Jahre (2005) und seiner an der Ostsee entstandenen Arbeiten (2006).

Dass aber diese vor nunmehr hundert Jahren, also vor mehr als drei vollen Generationen, konzipierten künstlerischen Äusserungen auch heute noch Aktualität haben und ihre Methoden und Strategien nach wie vor Nachfolge finden, ist vor allem daran zu erkennen, dass ihre Werke auch heute noch „berühren“, ganz anders als die vorausgegangene Bilderwelt des Klassizismus, des Historismus und auch noch des Impressionismus, welche nach wie vor ein „äusseres Bild“ visualisierten, wohingegen die Künstler vor dem ersten Weltkrieg ein „inneres Bild“ schufen, das auch noch unser heutiges zu sein scheint. Daher widmen wir uns in unserer Arbeit dieser seitdem entstandenen Kunst bis zur heutigen. Ingeborg Henze-Ketterer und Wolfgang Henze

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Expressionisten

Künstler: George Grosz, Erich Heckel, Karl Hofer, Ernst Ludwig Kirchner, Otto Mueller, Emil Nolde, Christian Rohlfs, Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff und Freunde