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Die unangenehme Frage: Wird Osteuropa wirklich als ‚Mehrwert’ betrachtet? Oder ist unser derzeit ‚erweitertes Europa’ fatal schizothym? Bleiben die osteuropäischen NewcomerInnen in die Europäische Union verleugnete MigrantInnen am Rand des westeuropäischen Festbanketts? Wo beginnt die Schwelle der Festung Europa tatsächlich, noch einmal?

Sieben osteuropäische KünstlerInnen wurden als DiagnostikerInnen und ForscherInnen versammelt, um diese Fragen in der Kunstausstellung ,Begegnungen in relationaler Geografie – Staub, Asche, Rückstände’ zu erkunden. Jede dieser anerkannten KünstlerInnen wird sich im Rahmen neuer Multimedia-Arbeiten mit den Dringlichkeiten eines „Raums für Leben” in der neoliberalen kapitalistischen Rekonstruktion und Reterritorialisierung Osteuropas befassen. Wien, der ehemalige imperiale Dreh- und Angelpunkt transterritorialer Völker, ist der ideale ‚Zwischenort’ für diese Ausstellung.

Der Besen ist unser bescheidenes Emblem, das Symbol des alltäglichen Wettbewerbs zu Hause: Er dient als kultureller Text dieser KünstlerInnen bei ihren Meditationen über Abfall und relationale Geografie. Der Besen ist im eigentlichen Wortsinn das anthropologische Artefakt, das Bilder der Volkssammlung von Besen im Museum of Arna Jharna in Rajasthan, Indien, und den Dokumentarfilm über heutige BesenbinderInnen der Baesi Roma im Hochland von Rumänien miteinander verbindet. Unser Ziel ist es, für unser ‚Fegen von Staub, Asche und Rückständen’ im Open Space frische Birkenzweige zu versammeln.

Das Highlight dieser Ausstellung ist exemplarische Forschung, die aber so beschaffen ist, dass sie auch in Osteuropa zu Resonanz führt, genauso wie die osteuropäische, zeitgenössische Kunst, trotz ihrer offenkundigen Ähnlichkeit mit westlich taktischer Intermedialität, eine andere ästhetische Textur aufweist. So sind die im Open Space gezeigten Kunstwerke mit Recht resistent gegen Vorurteil und Assimilation. Wir wollen osteuropäische KünstlerInnen nicht als die europäischen ‚Anderen’ exotisieren, sondern verstehen, wie sie auf einer für uns unbekannten Skala visueller Assonanzen spielen, auf der Vergangenheit und Gegenwart phantasmisch inflektiert sind, weil die modernistische Utopie des kommunistischen Sozialismus plötzlich abstarb und eine vorgefertigte ‚Lebensmaschine’ leer zurückließ. Zurück blieben gescheiterte, unheimliche Residuen oder Rückstände – die Architektur, die Monumente in öffentlichen Räumen, sogar die Territorialität selbst war heimatlos geworden.

Eine Brücke der Anteilnahme wird jetzt zu ‚Begegnungen in relationaler Geografie - Staub, Asche, Rückstände’ über das Trauma der seismischen Veränderung hinweg gebaut. Aber ist dies jetzt nur das Vorspiel zu einer weiteren schrecklichen Transformation einer ‚Biopolitik zur Nekropolitik’? Die Situation ist kritisch, aber nicht hoffnungslos, denn mit Sicherheit sind diese KünstlerInnen selbst Beweis für die pointierte und humoristische Widerstandsfähigkeit Osteuropas.

KünstlerInneninfos:

Ranko Bon Residua / Rückstände (1976 – 2010)

Diese Sammlung mit Notizen, Essays, Episteln, Geschichten, Aperçus, Tagebucheinträgen, Erzählungen, Epigrammen, Vignetten, Parabeln, Gedichten, Witzeleien, Fabeln, Gesprächsfetzen, Maximen, Slogans, Zitaten, Witzen und Aphorismen genauso wie die Zusätze, die das obige ergänzen, wurde 1976 begonnen und enthält jetzt zwei Millionen Wörter, die gesucht werden können. Zunächst wurden die Schriften am Ende des Jahres in Jahrbüchern zusammengefasst und mit FreundInnen und Bekanntschaften in der ganzen Welt geteilt. Die über die Jahre erweiterten Sammlungen von Geschriebenem erschienen bei mehreren Gelegenheiten gedruckt, und viele dieser Schriften wurden seit 1976 veröffentlicht, zumeist in Form einer Auswahl über ein bestimmtes Thema.

Rückstände handelt von einer Reise zur Entdeckung und Ausformung des eigenen Selbst des Autors. Er lädt andere ein, an dieser Reise teilzunehmen, genauso wie die eigenen Reisen zur Erforschung und Gestaltung des eigenen Selbst zu betrachten. Der Autor meint, darin bestehe das ultimative Ziel von Kunst.

Marina Gržinic und Aina Šmid in Zusammenarbeit mit Zvonka Simčič Naked Freedom / Nackte Freiheit, Video, 25 min., 2010

Diese Videoarbeit, die Ljubljana, Belgrad und Durham in den USA miteinander verbindet, präsentiert einen konzeptionellen, politischen Raum für Engagement, in dem noch einmal darüber nachgedacht werden kann, was lokale Gemeinschaft ist. Die Arbeit konzeptionalisiert die Möglichkeit sozialer Veränderung unter den Bedingungen des Finanzkapitalismus und der Finanzialisierungsprozesse, die den künstlerischen, sozialen, politischen und kritischen Diskurs durchdringen. Der kollektive Prozess der Video-Produktion „Nackte Freiheit“ behandelt die Realisierung sozialer, politischer und kollektiver Performance-Praktiken für den Bildschirm, der mit den off-screen Leben der DarstellerInnen zusammenklingt.

In Ljubljana diskutieren sieben junge AktivistInnen, MusikerInnen, DichterInnen und JugendarbeiterInnen sowie Mitglieder des Jugendzentrums Medvode, einem Dorf in der Nähe von Ljubljana, über die Themen Kapitalismus, Kolonialismus, Bildung und die Macht der Kunst als einer Möglichkeit für Politik. Sie überdenken auch die Möglichkeit der Radikalisierung eines ordentlichen Lebens. Die Arbeit bestätigt nicht nur lokale Jugend-Power, sondern sie ist auch eine Einführung – durch die Produktion eines Videos – in soziale Beziehungen, die jene Kräfte sichtbar machen, welche nach neuen Möglichkeiten suchen.

Isa Rosenberger TOTENTANZ. Eine Probe, Video-Installation

Die Dominanz österreichischer Banken in Osteuropa als ein Beispiel der so genannten Übergangsprozesse in post-sozialistischen Ländern ist der Ausgangspunkt von Isa Rosenbergers künstlerischer Forschung. Während sie nach Bildern sucht, die die abstrakte und immaterielle wirtschaftlich-politische Verzahnung und die Negativspiralen repräsentieren könnten, greift Rosenberger in ihrer Arbeit TOTENTANZ. Ein Probe das Motiv des Totentanzes als eine Art mobiden Walzers auf, ein Bild destruktiver Ströme, Drehungen und Verwicklungen; ein dunkles Motiv, das von der äesthetischen Dimension des Tanzes gebrochen ist.

Die Arbeit TOTENTANZ. Eine Probe soll als Hommage an das Ballett des deutschen Choreografen Kurt Jooss interpretiert werden. In diesem expressionistischen Stück, welches als Danse Macabre konzipiert ist, übertrug Jooss das klassische Motiv der spätmittelalterlichen Kunst in Motive, die die Zeiten der Weimarer Republik spiegeln, die ersten faschistischen Tendenzen, die Wirtschaftskrise usw. Isa Rosenberger übersetzt dieses erste politische Ballett in Zeitgenössigkeit, aber auch in ein eigenes Genre, und sie verwebt es mit ihren eigenen Erfahrungen und Perspektiven über gegenwärtige politische und wirtschaftliche Zustände.

Sašo Sedlacek AcDcWc (Merda d’Artista), Boden-Installation

Die Prototypen des Projekts werden in dieser Arbeit von Sašo Sedlaček, die auf Piero Manzonis Werk aus dem Jahr 1961Merda d’Artista basiert, anschaulich zusammengefasst. Manzoni füllte in seiner Arbeit Blechdosen mit seinen Exkrementen. Die Arbeit ist Teil des AcDcWc Projekts, das unterschiedliche Prototypen tragbarer und fester Toiletten präsentiert, die eines Tages in der westlichen Welt durch das Recyclen der eigenen Exkremente Elektrizität erzeugen können.

Das Design der verschiedenen Typen der AcDcWc Toilette basiert auf einer indischen Technologie namens Deenbandhu, was „hilfreich für die Armen" bedeutet. Die Technologie wurde vor Kurzem von indischen Technologen für die ärmeren Klassen der indischen Bevölkerung entwickelt, die damit Elektrizität und Gas zum Kochen produzieren können. Sedlaceks aktualisierte Version dieses Prozesses basiert in erster Linie auf dem Bedürfnis, die Technik an die so genannte entwickelte Welt anzupassen und hier zu verwenden, und so entstanden unterschiedliche Toilettenarten.

Vlad Nanca Birch broom / Birkenbesen, Boden-Installation

Der Birkenbesern ist traditioneller als der häufiger zu findende Reisigbesen. Gewöhnlich fegen die Leute in ärmeren Gegenden mit ihm im Herbst die Blätter weg. Das Konzept sieht vor, einen solchen Besen früh im Frühling mit der Hilfe von BesenbinderInnen aus den Dörfern außerhalb von Bukarest zu binden und die notwendigen Äste von den Bäumen dann zu sammeln, wenn diese fast blühen. Sobald der Besen fertig ist, wird er in ein Wasserglas gesetzt, wo er Wurzeln und kleine Blätter entwickeln kann. Es ist ein natürlicher Vorgang. Von hier aus kann er in unterschiedlichen Gärten eingepflanzt werden, wo neue Birken wachsen. So wird er auf eine andere Weise verwendet: Diese Form der Reinigung ist etwas indirekter, aber sie hat eine umso direktere Auswirkung auf die Umwelt. Der Besen ist in diesem Fall nur ein Vorwand.

Dumitru Budrala Der Fluch des Igels, Video (Filmdauer: 100 Minuten)

Dumitru Budralas Film DER FLUCH DES IGELS ist ein zentraler Bezugspunkt für die Ausstellung ,Begegnungen in relationaler Geografie - Staub, Asche, Rückstände’, weil er ungewöhnlich und treffend die Besenherstellung bei den Baesi Roma zeigt. Dieses besondere Projekt stellt eine spezifische Verbindung zwischen den Baesi, so genannten „ZigeunerInnen“, BesenherstellerInnen aus Rumänien, und dem Arna Jharna Museum in Rajasthan, Indien her, wo die materielle Kultur des Wüstenlandes von einem Langzeitprojeckt repräsentiert wird, bei dem Besen gesammelt werden. Wir lernen den Witz, den guten Humor und die Zähigkeit dieses Baesi-Volkes kennen, das am Rande des Desasters lebt. Interessanterweise gibt es auch eine relationale geografische Verbindung im Hinblick auf die ethnische Abstammung der Roma, die in ganz Europa verstreut sind und hier mit ihren Ursprüngen in Rajasthan verbunden werden.

Zbynek Baladran Bücherregal, Video-Essay, 5’ 05”

Bei diesem kurzen Videoessay geht es um die Beschreibung eines Familienbücherregals, das mit den Augen eines Kindes betrachtet wird. Aus diesem Blickwinkel sieht alles sehr geheimnisvoll aus und die Interpretation eines im Wesentlichen autoritären ‚sozialistischen Architekturbuchs’ verändert die kindliche Wahrnehmung zu einer neuen Konsequenz.

Mit freundlicher Unterstützung von: BM:UKK ERSTE Foundation Stadt Wien - Kulturabteilung MA 7