Städel Museum, Frankfurt

Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie | Dürerstr. 2
60596 Frankfurt

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Dierk Schmidts 2001–2003 entstandener 19-teiliger Bildzyklus „SIEV-X – Zu einem Fall von verschärfter Flüchtlingspolitik“ ist Historienbild, politisches Statement und Reflexion über die Möglichkeiten der Malerei in unserer Gegenwart in einem. Die im Städel präsentierten Arbeiten des 1965 in Unna geborenen und in Berlin lebenden Künstlers verbinden einen skandalösen Fall von unterlassener Hilfeleistung und desaströser Flüchtlingspolitik Australiens im Jahr 2001 mit einem der Hauptwerke der europäischen Historienmalerei: Theodore Géricaults „Floß der Medusa“ von 1819. Schmidts Malerei ist das Ergebnis eines komplexen investigativen Prozesses. Sie zeigt, wie der Schiffbruch der französischen Fregatte „Medusa“ und der willentlich in Kauf genommene Tod Aberhunderter Boat People vor der Küste Australiens einander strukturell wie ästhetisch auf frappierende Weise ähneln. Einen weiteren Bezugspunkt bildet Eugène Delacroix’ Gemälde „Die Freiheit auf den Barrikaden“. Der Bildzyklus von Dierk Schmidt ist ein Neuzugang in der Sammlung des Städel Museums und wurde aus Mitteln des „Städelkomittees 21. Jahrhundert“ erworben.

Das von den australischen Behörden verwendete Kürzel „SIEV“ steht für „Suspected Illegal Entry Vessel“, also für ein mutmaßlich illegal in die Hoheitsgewässer Australiens eindringendes Boot, der Zusatz „X“ für „unbekannt“. „SIEV-X“ wurde im Jahr 2001 zum Synonym für ein namenloses Flüchtlingsboot, das nicht frühzeitig abgefangen werden konnte. Das Schiff erreichte allerdings nicht (im doppelten Sinn) „sicheres“ Festland, sondern sank auf hoher See; von den 397 Flüchtlingen überlebten 44. In den folgenden Jahren konnte nachgewiesen werden, dass dieses Schiffsunglück die Folge von Manipulationen und unterlassener Hilfeleistung seitens des australischen Staates war: „SIEV-X“ wurde zum Symbol einer im höchsten Maß unmenschlichen Flüchtlingspolitik, deren Hintergründe nur mühsam enthüllt werden konnten.

Schmidts Zyklus gibt diesem größten Schiffsunglück vor der australischen Küste der jüngeren Geschichte ein Bild. Ein Bild, das es anfangs nicht gab – so die Aussage der Behörde des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) – oder geben durfte. Ein Bild, das nicht zu einer Nachricht hätte werden sollen. Parallel dazu wendet sich Dierk Schmidt der Frage nach der Möglichkeit einer „politischen Ästhetik“ in der Tradition der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss zu. Es geht um ein zeitgenössisches Historienbild, dessen Hintergrund nicht die Abbildung von Herrschaftsstrukturen, sondern Recherche und aktive Teilhabe bilden. Letztlich überlagern einander die unterschiedlichen Argumentationsstränge. Die 19 Teile von Schmidts Zyklus verdichten sich zu einer vielschichtigen Erzählung, die sich fast filmisch aus Bildern und Texten, aus Politik und Malerei entwickelt und in welcher der Betrachter zum selbstständig recherchierenden Akteur wird.

Das zentrale Triptychon aus den Jahren 2001 und 2002 – bestehend aus „Xenophobe – Schiffbruchszene, gewidmet 353 ertrunkenen Asylsuchenden im Indischen Ozean, 19. Oktober 2001, am Morgen“, „Untitled“ und „Freiheit“ – bezieht sich explizit auf zwei Hauptwerke der französischen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts: Eugène Delacroix’ „Die Freiheit auf den Barrikaden“ und Theodore Géricaults „Das Floß der Medusa“. Das Mittelstück des Triptychons dokumentiert die heutige Hängung der Werke im Louvre und konfrontiert diese mit der skandalgeprägten Rezeption der Erstpräsentation des „Floßes der Medusa“ 1819. Die beiden Seitenteile übertragen die historischen Vorbilder in die Gegenwart. Vor allem das Gegenstück zu Géricaults „Floß“, Schmidts „Xenophobe“, befragt ausdrücklich die Fähigkeit der Malerei, das ihr zugrunde liegende Ereignis in seiner politischen Bedeutung abzubilden. Auch Géricaults „Floß“ hat menschliches, vor allem aber staatliches Fehlverhalten zum Gegenstand: den Schiffbruch der französischen Fregatte Medusa. Die Offiziere und Vertreter der Staatsgewalt retteten sich mit den Beibooten, ließen die Matrosen auf einem Floß zurück und unternahmen nachweislich nichts zu deren Rettung. Auch hier existierte kein ‚Bild‘ in der zeitgenössischen Öffentlichkeit. Die Schiffbrüchigen trieben tagelang auf See und wurden nur gerettet, weil ein anderes Schiff sich über den expliziten Befehl, nicht nach dem Floß zu suchen, hinwegsetzte. Im übertragenen Sinn wurde der 3. Stand (die Matrosen und Soldaten) zur Rettung des 1. Standes (der Offiziere und des Gouverneurs) geopfert – ein unmittelbares Abbild der Restauration im nachrevolutionären Frankreich.

Nicht dies oder der Schiffbruch selbst allerdings werden zum Skandal in der Pariser Öffentlichkeit, sondern Géricaults Bild und dessen drastischer Realismus, mit dem er die toten und verwesenden Körper und die Hoffnungslosigkeit der Überlebenden ins Bild setzt. Und nicht zuletzt die Aneignung des traditionell Kirche, König oder Regierung gewidmeten Formats des Historienbildes, das hier das ‚Überleben‘ des 3. Standes darstellt. In beiden Fällen füllen die Künstler ein Informationsvakuum und agieren als investigative politische Zeitzeugen, die das Versagen der Staatlichkeit aufdecken. In diesem Sinn konfrontiert das Triptychon verschiedene Formen des Historienbildes: Dem außerhalb des Ateliers recherchierenden und politisch agierenden Künstler (Gericault und Schmidt) steht Delacroix’ „Freiheit auf den Barrikaden“ gegenüber – ein idealisierendes Abbild der Geschichte aus der Atelierperspektive.

Das Ringen um Realismus und Rekonstruktion im Umgang mit dem sich nur in Bruchstücken erschließenden Ereignis lässt sich in „Xenophobe“ ablesen. Das wie fast alle Bilder auf Industriefolie (hier einer schwarzen Teichfolie) gemalte namenlose Flüchtlingsschiff wird nur in Teilen wiedergegeben. Im Patchwork der Informationen überlagern einander verschiedene Handlungs- und Zeitebenen. Wo Information fehlt, bleibt das Bild schwarz, bleiben die Personen gesichtslos. Jedes ausgeführte Detail beinhaltet gleichzeitig wesentliche Informationen. So ist zu sehen, wie das Schiff bereits während der Einschiffung leckt, der politisch verantwortliche Minister auf dem Display eines Bildtelefons erscheint oder Uniformierte die Flüchtlinge am Verlassen des Schiffes hindern.

Den Gegenpart zu Géricaults „Floß“, Delacroix’ „Freiheit auf den Barrikaden“, übersetzt Schmidt in überraschender Weise. Während die Flüchtlinge auf tragische Weise am Überschreiten der Außengrenze Australiens scheitern, sehen wir hier ein Bild nach einem WM-Werbefilm der Firma Nike von 1998: Dribbelnd und mit dem Ball jonglierend dringt der brasilianische Fußballstar Ronaldo mit seinen Mannschaftskollegen in den exterritorialen Bereich eines internationalen Flughafens ein. Die Freiheit zur Überwindung der Barrikaden verdankt sich nun allerdings keiner Revolution, sondern einem kommerziell- medialen Starkult, der den Fußballer zu einer privilegierten, außerhalb des Rechts stehenden Persönlichkeit macht. Es ist gerade dieses Moment der Aufhebung des Rechts, das zum Tertium Comparationis der Bilder Schmidts wird.

Von diesem zentralen Triptychon ausgehend entwickelt sich ein komplexes Geflecht von Bild- und Textfragmenten, die den politischen Hintergrund des Schiffbruchs von „SIEV-X“ umkreisen. Dieser zweite Zyklus ist mit zeitlichem Abstand zum Triptychon entstanden, das unmittelbar nach dem Ereignis gemalt wurde, als es praktisch noch keine Informationen gab. Auf weiteren sechzehn Bildern tauchen vor allem Vertreter der australischen Regierung bzw. Bilder von deren Auftritten in den Medien auf. Der Zyklus begleitet somit auch sukzessive die Aufklärung des Schiffbruchs – ist gewissermaßen Teil desselben.

Dabei drängen immer wieder die in impressionistischer Manier formulierten Wogen des Indischen Ozeans in den Vordergrund. Wunderschöne, verführerische Malerei, die allerdings immer den Kern der Erzählung als schmerzhafte Leerstelle ausspart: Dem Schwarz von „Xenophobe“ entspricht in diesen zum Teil wandfüllenden Seestücken das Weiß der Wand, wenn der Umriss des gesunkenen Bootes oder die Köpfe der im Meer Ertrinkenden auf dem transparenten Malgrund leer bleiben. Die Wahl der ungewöhnlichen, fragilen und zumeist transparenten Bildgründe ist so mehr als nur Referenz auf einen sich in jeder Hinsicht erweiternden Bildbegriff unserer Gegenwart, der sich längst von Keilrahmen und Leinwand losgesagt hat. Die durchscheinende Materialität von „SIEV-X“ wird selbst zum Bedeutungsträger und widerlegt die überzeitliche Gültigkeit des klassischen Historiengemäldes: Worum es geht, ist die Frage der Transparenz oder eben Intransparenz politischer Prozesse. (Historien-)Malerei ist, für Schmidt wie Géricault, ein Akt der politischen Positionierung.

Dierk Schmidt wurde 1965 in Unna in Westfalen geboren und lebt in Berlin. Einzelausstellungen von Dierk Schmidt fanden u. a. im Salzburger Kunstverein und in der Gesellschaft für aktuelle Kunst e. V. Bremen statt. Seine Arbeiten wurden in Gruppenausstellungen u. a. im Hamburger Kunstverein, auf der documenta 12 in Kassel, im Witte de With Center for Contemporary Art in Rotterdam, im Kunstverein Hannover und auf der Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst gezeigt.

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Dierk Schmidt
„SIEV-X – Zu einem Fall von verschärfter Flüchtlingspolitik“
oder Géricault und die Frage der Konstruktion von Geschichte
Kurator: Martin Engler