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Henri Michaux, 1899 in Namur, Belgien, geboren und 1984 in Paris gestorben, wo er seit 1924 lebte, gehört zu den wenigen Peintres-Poètes des 20. Jahrhunderts, die sowohl in der Literatur wie in der bildenden Kunst ein herausragendes und eigenständiges Werk geschaffen haben. "Ich male, wie ich schreibe", sagt er 1959 von sich selbst. Mit seinen malerischen Versuchen aus den Jahren 1925-27 (insbesondere "taches" und "alphabets", amorphe Flecken und abstrakte Schriftzeichen, wird er zu einem Pionier des Tachismus. Mit seinem 1927 veröffentlichten Werk Qui je fus (Wer ich war) beginnt sein kontinuierliches dichterisches Oeuvre. Michaux gehört in die Reihe von Dichter-Künstlern wie Victor Hugo, August Strindberg, Apollinaire oder Garcia Lorca; sein bildnerisches Werk zeichnet sich jedoch durch seinen größeren Umfang und eine besondere Qualität und Intensität aus. Von Anfang an galt Michaux' Interesse der Suche nach dem "Zeichen", der Auseinandersetzung mit den Grenzen der Sprache und der Schrift. Malerei und Zeichnung waren ihm dabei immer gleich wichtig wie seine Dichtkunst. Im Gedicht "Linien" charakterisierte er seine Zeichnungen, Aquarelle und Ölbilder als "Schrift von keinerlei Sprache - ohne Zugehörigkeit, ohne Verkettung". 1925 machte Michaux Bekanntschaft mit dem Surrealismus, in der ersten Ausstellung der Surrealisten in Paris, wo er u.a. Werke von Paul Klee, Max Ernst und Giorgio de Chirico kennenlernte. Deren Auseinandersetzung mit dem Unbewußten, dem Irrealen und Absurden, Träumen und Visionen war für ihn eine "große Überraschung" - eine Malerei, die sich nicht damit begnügte, die "Realität zu wiederholen".

Seine erste Ausstellung als Maler fand erst 1937 in Paris statt. Zeit seines Lebens liefen Wort- und Bildproduktion parallel, befruchteten sich gegenseitig, auf der Suche nach der Sichtbarmachung der Innenwelt, des "l'espace du dedans". Ende 1954 bis 1959 fand unter medizinischer Aufsicht die Periode seiner Experimente mit Meskalin statt, die für ihn der Erforschung und Erweiterung der Grenzen der Wahrnehmung dienten und in fünf außergewöhnlichen schriftstellerischen Werken (Misérable Miracle, 1956; l'Infini turbulent, 1957; Paix dans les brisements, 1959; Connaissance par les gouffres, 1961; Les grandes épreuves de l'esprit, 1966) sowie den "Meskalinzeichnungen" ihren Niederschlag fanden. Die Zeichnungen, die sich deutlich von seinem übrigen bildnerischen Werk unterscheiden, wurden vorwiegend mit Feder und Stift gestaltet, es gibt jedoch auch einige Ölbilder und Gouchen. Die ersten Bilder, die direkt unter dem Einfluß des Meskalin entstanden, zeigen zittrige, halb- oder unleserliche, verschwommene Schriftzeichen und Worte, doch die späteren Zeichnungen sind Darstellungen einer gegenstandslosen Welt, vibrierende, dichte Linien und "Kraftfelder" von großer Rhythmik und Dynamik: Kontinua von Linien, die häufig das ganze Blatt überziehen, Strukturen, mit größter Detailgenauigkeit und mikroskopischer Akribie gezeichnet - kristalline Formen, waben- und zellenartige Strukturen, zentrale Furchen mit lateralen und parallelen Verzweigungen, die manchmal an fremde Landschaften erinnern oder auch an zoomorphe Formen, seltsame Wesen. Seit 1962, vorwiegend zwischen 1966 und 1969, entstanden die "Post-Meskalinzeichnungen", die "Dessins de Désagrégation", wo Michaux ohne Zuhilfenahme der Droge den Zustand der Desaggregation (Zersetzung) oder Reaggregation (Wieder/Neuzusammensetzung) aufzeichnete. Die Bilder ähneln den meskalinischen Zeichnungen, weisen aber einen strengeren und dichteren Aufbau auf. Für Michaux war das zentrale Erlebnis in seinem Meskalin-Zustand die Reorientierung des Bewußtseins, die Erfahrung der Elastizität von Raum und Zeit sowie der Uneindeutigkeit der Formen und Zeichen: "Bei Meskalin sind die Bilder die Begleiterscheinung (üppig und ärgerlich), doch es ist die Abstraktheit, die zählt", wie er schrieb, oder: "Meskalin umgeht die Form, die niemals endgültig diese oder jene ist. Man sieht nicht. Man errät." Seine Formen sind nie ornamental-dekorativ, auch nicht nur rein formal zu verstehen, sie sind auch keine Illustrationen der Visionen eines Drogenrausches. Die Zeichnungen sind die Verdichtung einer Erfahrung des Ausnahmezustands, des Verlust des eigenen Willens und des Selbst und des Sich-dem-Zufall-überlassens. Die Zeichnungen und das Meskalin stellten für Michaux die Möglichkeit dar, der "Konditionierung", der "Angepaßtheit" durch die Realität und die Normen zu entkommen: "Eine Linie, eher als mehrere. So beginne ich, mich von einer, einer einzigen, davontragen zu lassen, ohne den Bleistift vom Papier zu heben, lasse die Linie, ziellos und ohne genau hinzusehen, auf dem eingeschränkten Raum umherirren, bis sie gezwungenermaßen zum Stillstand kommt. Wie ich selbst ist die Linie auf der Suche, ohne zu wissen wonach, lehnt die unmittelbaren Einfälle, die sich anbietenden Lösungen, die ersten Versuchungen ab."

Die Ausstellung, die das erste Mal und in großem Umfang nur Michaux' Meskalinzeichnungen zeigt und damit einer Anregung von Jean-Jacques Lebel folgt, wurde mit dem Kulturzentrum Tecla Sala in Barcelona konzipiert. Was Michaux zu Beginn seines ersten Buchs über seine Meskalin-Erfahrungen Unseliges Wunder. Das Meskalin (1956) schrieb - "Dies ist eine Forschungsreise. Mit Hilfe von Wörtern, Zeichen und Zeichnungen. Erforscht wird das Meskalin." - gilt auch für diese Ausstellung. Das Katalogbuch mit Essays von Victoria Combalía, Jean-Jacques Lebel und Peter Weibel versucht, auch mittels der Abbildungen dieser Zeichnungen und einer Auswahl von spezifischen Texten von Henri Michaux ein Kompendium für diesen besonderen Abschnitt im Werk jenes multimedial begabten Künstlers zu schaffen, der zu den zentralen Figuren des 20. Jahrhunderts gehört.

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Die Meskalinzeichnungen von Henri Michaux
1954–1959 / 1966–1969
Kuratoren: Victoria Combalia, Peter Weibel