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Das urbanistische Bezugssystem, das die Metropolen des französischen Impressionismus und des deutschen Expressionismus miteinander verbindet, ist Ausgangspunkt der von Karin Sagner, Vittorio Magnago Lampugnani und Matthias Ulrich kuratierten Ausstellung in der Schirn. Die Ausstellung verfolgt die städtebauliche Spur, die von den nachhaltigen Interventionen des Barons Georges-Eugène Haussmann (1809–1891) in Paris bis zu der umfassenden Neubebauung Berlins unter James Hobrecht (1825–1902) reicht, und beleuchtet die Auswirkungen auf die bildende Kunst. In der Gegenüberstellung von Paris und Berlin zeigt sich, wie die Faszination und Neugier, mit der impressionistische Maler wie Claude Monet oder Camille Pissarro die Anonymität des städtischen Bürgers protokollierten und dabei das Genre der Landschaftsmalerei in den urbanen Raum verschoben, im deutschen Expressionismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Schrecken der Gesellschaft umschlugen und die Stadt, vor allem bei George Grosz oder auch Ludwig Meidner, sich geradezu pervertiert und in ein lebendiges Wesen, ein wildes Raubtier verwandelt darbot. In vier Kapiteln – „Boulevard und Straße“, „Urbane Inszenierung“, „Mobilität und Technik“ sowie „Kommerz, Spektakel, Aufruhr“ – wird anhand von nahezu 300 Gemälden, Fotografien, Stadtplänen, Grafiken, Plakaten und Filmen ein weites Panorama des gesellschaftlichen, vor allem des bürgerlichen Lebens in den beiden Metropolen vorgestellt.

Die Ausstellung „Die Eroberung der Straße. Von Monet bis Grosz“ wird durch den Verein der Freunde der Schirn Kunsthalle e. V. und die die Fraport AG gefördert.

Max Hollein, Direktor der Schirn: „Die Ausstellung ‚Die Eroberung der Straße. Von Monet bis Grosz‘ bildet mit den parallel präsentierten Schauen ‚Ein Blick für das Volk. Die Kunst für alle‘ im Haus der Kunst München und ‚Pierre Bourdieu: Der Algerienkrieg und die Fotografie‘ in den Deichtorhallen Hamburg ein gemeinschaftliches Projekt, das sich unter dem Überbegriff ‚Kunst und Demokratie‘ mit dem Entstehen der modernen Gesellschaft befasst. Stilrichtungen wie der französische Impressionismus und der deutsche Expressionismus haben das neue urbane Leben sowohl aufschlussreich analysiert als auch visuell zum Leben erweckt. Die Ausstellung spiegelt anhand einer Vielzahl signifikanter Werke die prekäre Stellung des Individuums innerhalb der neuen städtischen Strukturen.“

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nimmt die Einwohnerzahl in den meisten europäischen Großstädten eklatant zu. Technologie und Industrie ersetzen zunehmend Landwirtschaft und handwerkliche Zünfte. An den Peripherien der Städte entstehen Fabriken und Wohnraum für Arbeiter. In den Zentren manifestiert sich der technologische Fortschritt in Form von mehrstöckigen Häusern, breiten Straßen, beleuchteten Schaufenstern und überdachten Einkaufspassagen. Wohlstand und Konsum weiten sich aus und formen den modernen Bürger. Zu Beginn als Verkehrsachsen geplant, wurden die Boulevards zum Magneten großer Menschenmengen. Ebenso prägte die moderne Technik mit elektronischer Beleuchtung und städtischen Verkehrsmitteln das Bild der modernen Stadt entscheidend mit. Zeitgleich entstand ein buntes Panorama der Vergnügungskultur in Form von Caféhäusern, Kiosken, Zirkusen und Cabarets, deren Plakatwerbung die Grenzen zwischen hoher Kunst und populärer Illustration aufzulösen begann.

Paris als „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ war die erste moderne Stadt, die aus sich selbst heraus einen Stadtmythos hervorbrachte und in der – vorbildhaft für andere europäische Metropolen – das neue und moderne Stadtbewusstsein seine Darstellungsform fand. Entscheidend waren die umfassenden und radikalen städtebaulichen Maßnahmen, die Baron Haussmann in den Jahren von 1852 bis1870 gesetzt hat. Haussmann veranlasste den Durchbruch breiter Boulevards und Avenuen durch die verwinkelten und dicht bebauten Straßenblöcke und schuf so neben dem engen alten Straßennetz ein neues Verkehrssystem, dessen Hauptadern in sternförmigen Plätzen zusammenliefen. Die Straße stellt dabei die engste funktionelle Verbindung von Verkehrsraum, Verweilraum und Bebauung dar. Zum Konzept der „Haussmannisierung“ gehörten zudem eine relativ einheitliche Fassadengestaltung sowie öffentliche Grünanlagen. Der umfangreiche Abriss in den alten Stadtvierteln mit der Vertreibung der kleinbürgerlichen Bevölkerung in die Vororte vollzog sich unter wirtschaftlichen Interessen: verbunden mit sozialreformatorischen Vorstellungen, elementar hygienischen Gesichtspunkten sowie staatlicher Ordnungspolitik im Kampf gegen die revolutionäre Pariser Arbeiterschaft und dem Bau repräsentativer öffentlicher Gebäude.

In Berlin wies die urbanistische Neuordnung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine völlig andere Dynamik auf als die in Paris, da hier – in einer Land-Stadt-Perspektive – die alte Stadt das moderne Berlin weniger behinderte. So erfolgten planmäßige Ausbauten bereits in den 50er und 60er Jahren und besonders intensiv im Zuge des Baubooms der Gründerjahre außerhalb des Stadtkerns in den bürgerlichen Wohnvierteln der rasch anwachsenden Vorstädte (Friedrich-Wilhelm-Stadt, Friedrichvorstadt, Wilmersdorf und um den Hohenzollerndamm). Sie fielen weniger ins Auge als die mehrstöckigen Mietskasernen in den neuen Arbeitervierteln im Norden, Nordosten und Südosten. An der urbanen Neuordnung war maßgeblich James Hobrecht beteiligt, der zwischen 1859 und 1862 einen Bebauungsplan für die Umgebungen Berlins erarbeitete, der seinerseits auf früheren Teilplanungen u. a. von Lenné basierte. Profitinteressen führten zu einer dichten Bebauung der oft schmalen Grundstücke mit Hinter- und Seitenhäusern sowie einer massiven Überbelegung, sodass bald katastrophale soziale Verhältnisse herrschten. Ungewollt trug Hobrechts Plan so dazu bei, dass Berlin zur größten Mietskasernenstadt der Welt wurde.

Während man in Deutschland die städtebaulichen Maßnahmen und ihre Folgen zunehmend negativ beurteilte, war man in Frankreich trotz vieler Vorbehalte überwiegend positiv eingestellt. Diese unterschiedliche Haltung spiegelt sich auch in Werken der Impressionisten und Expressionisten wider. Städtisches Leben und Stadtraum wurden zu Erfahrungen der Moderne selbst, städtischer Bildgegenstand verband sich mit moderner Malerei, dem ästhetischen Konzept der Modernität. So waren Claude Monet wie Camille Pissarro fasziniert von dem neuen Paris und widmeten der urbanen Landschaft eine Reihe von Gemälden. Das vibrierende Straßenleben blieb lange Jahre ein Lieblingsthema der Impressionisten, mit Hilfe dessen sie ihre Studien von Licht, Atmosphäre und Bewegung umsetzen konnten. Anders als Monet und Pissarro übernahm Gustave Caillebotte die typische architektonische Haussmann-Ästhetik und malte mit ausgeprägter Regelmäßigkeit und Klarheit mysteriöse Stadtbilder mit langen Fluchten und monumentaler Ordnung. Im Kontext der extremen sozialen Kontraste und des Wohnungselends in Berlin – der um die Jahrhundertwende am schnellsten wachsenden Stadt Europas – sowie der damit verbundenen negativen Gefühle sind die Großstadtansichten von Albert Birkle, Ernst Ludwig Kirchner, Ludwig Meidner und George Grosz zu sehen. Meidner, der 1914 seine „Anleitung zum Malen von Großstadtbildern“ veröffentlichte, sah in Vorstadtlandschaften endzeitliche Szenarien, die mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges einen realen politischen Hintergrund erhielten. Psychogramme des Großstadtlebens entwickelte Kirchner in rhythmisch bevölkerten Straßenbildern und farbflächenbetonten Kompositionen. Konkrete Berliner Wohnsituationen waren auch Vorbild für die Werke Grosz’, der das Auseinanderfallen der städtischen Zivilisation in architektonischen Versatzstücken thematisierte.

KÜNSTLERLISTE: Kurt Albrecht, Adolphe Alphand, Louis Anquetin, Otto Antoine, Edouard Baldus, Hans Baluschek, Georg Bartels, Jean Béraud, Albert Birkle, Fritz Bleyl, Pierre Bonnard, Louis Braquaval, Nikolaus Braun, Félix Buhot, Gustave Caillebotte, Jules Chéret, Lovis Corinth, Honoré Daumier, Maurice Delondre, Gustave Dennery, André Devambez, Edmund Edel, Jean-Louis Forain, André Gille, Louis-Auguste Girardot, George Grosz, Hans Hartig, Childe Hassam, Werner Heldt, Jacques Ignace Hittorff, James Hobrecht, Paul Hoeniger, Karl Holtz, Ulrich Hübner, Friedrich Kaiser, Ernst Ludwig Kirchner, Julius Klinger, Lucien Charles Léandre, Peter Joseph Lenné, Luigi Loir, Maximilien Luce, Victor Marec, Charles Marville, Maxime Maufra, Ludwig Meidner, Moriz Melzer, Adolph Menzel, Ludwig Mies van der Rohe, Max Missmann, Otto Möller, Claude Monet, Adolphe Moreau-Nélaton, Paul Paeschke, Camille Pissarro, Jean-François Raffaëlli, Willi Römer, Georges Roux, Carl Saltzmann, Henri Le Sidaner, Franz Skarbina, Jakob Steinhardt, Theophile Alexandre Steinlen, Siebe Ten Cate, Henri de Toulouse-Lautrec, Lesser Ury, Ludovic Vallée, Félix Vallotton.

KATALOG: „Die Eroberung der Straße. Von Monet bis Grosz“. Hg. von der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Mit einem Vorwort von Max Hollein und Essays von Matthias A. Amann, Dominik Bartmann, Richard Bretell, Vittorio Magnago Lampugnani, Caroline Mathieu, Karin Sagner, Harald R. Stühlinger und Matthias Ulrich. Deutsch/englisch, ca. 300 Seiten, ca. 200 Abbildungen, Hirmer Verlag, München, ISBN: 3-7774-3175-3/ISBN-13: 978-3-7774-3175-8

Pressetext

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Kunst und Demokratie:
DIE EROBERUNGG DER STRASSE
VON MONET BIS GROSZ
Kuratoren: Vittorio Magnago Lampugnani, Matthias Ulrich, Karin Sagner

KünstlerInnen: Kurt Albrecht, Adolphe Alphand, Louis Anquetin, Otto Antoine, Edouard Baldus, Hans Baluschek, Georg Bartels, Jean Beraud, Albert Birkle, Fritz Bleyl, Pierre Bonnard, Louis Braquaval, Nikolaus Braun, Felix Buhot, Gustave Caillebotte, Jules Cheret, Lovis Corinth, Honoré Daumier, Maurice Delondre, Gustave Dennery, Andre Devambez, Edmund Edel, Jean-Louis Forain, Andre Gille, Louis-Auguste Girardot, George Grosz, Hans Hartig, Childe Hassam, Werner Heldt, Jacques Ignace Hittorff, James Hobrecht, Paul Hoeniger, Karl Holtz, Ulrich Hübner, Friedrich Kaiser, Ernst Ludwig Kirchner, Julius Klinger, Lucien Charles Leandre, Peter Joseph Lenne, Luigi Loir, Maximilien Luce, Victor Marec, Charles Marville, Maxime Maufra, Ludwig Meidner, Moriz Melzer, Adolph von Menzel, Ludwig Mies van der Rohe, Max Missmann, Otto Möller, Claude Monet, Adolphe Moreau-Nelaton, Paul Paeschke, Camille Pissarro, Jean-Francois Raffaelli, Willi Römer, Georges Roux, Carl Saltzmann, Henri Le Sidaner, Franz Skarbina, Jakob Steinhardt, Theophile-Alexandre Steinlen , Siebe Ten Cate, Henri de Toulouse-Lautrec, Lesser Ury, Ludovic Vallee, Félix Vallotton

Kunst und Demokratie / gemeinsames Ausstellungsprojekt:
15.06.06 - 03.09.06 "Die Eroberung der Straße" Schirn Kunsthalle, Frankfurt
14.06.06 - 03.09.06 "Ein Blick für das Volk. Die Kunst für alle" Haus der Kunst München
23.06.06 - 03.09.06 "Der Algerienkrieg und die Fotografie" Deichtorhallen Hamburg