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„Things do not change; we change.“ Walden, Henry David Thoreau

Der Kunstverein in Hamburg zeigt mit Decoding Fear die erste institutionelle Einzelausstellung von James Benning in Deutschland. Zusätzlich zu seinem wegweisenden filmischen Werk setzt sich Benning mit den Bedingungen technologischer Entwicklungen und ihren gesellschaftlichen Konsequenzen auseinander. Die Ambivalenz des großen amerikanischen Traums von (technischem) Fortschritt, unbegrenzten Möglichkeiten, Freiheit und Unabhängigkeit, spiegelt sich in seinen Installationen sowie bildnerischen Arbeiten wider.

Benning eignet sich Leben und Geschichte von Outlaws wie dem Philosophen Henry David Thoreau (1817–1862) oder dem als Unabomber bekannten Mathematiker Theodore Kaczynski (*1942) an. Thoreaus Schrift Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat von 1849, die nicht nur die 1960er-Bewegung in Amerika, sondern auch Martin Luther King oder Mahatma Gandhi beeinflusste, stellt autoritäre Strukturen in Frage. Kaczynski terrorisierte mit seinen Briefbombenattentaten 1978 bis 1995 die USA und verfasste zurückgezogen in den Bergen von Montana ein Manifest zum Widerstand gegen die Technologisierung der Gesellschaft. Auch Thoreau zog es in die Einöde des Waldes und Benning thematisiert dieses uramerikanische Moment der unabhängigen Selbstbestimmung, indem er in seiner Ausstellung in Hamburg die von Thoreau und Kaczynski selbstgebauten Behausungen als abstrahierte Nachbildungen zeigt. Ausgangspunkt dieser Installation sind Instandsetzungsarbeiten Bennings an seinem eigenen Haus in Sierra Nevada, Kalifornien, nach deren Fertigstellung sich der Künstler sogleich für ein neues Bauprojekt entschied und auf seinem eigenen Grundstück zuerst einen präzisen Nachbau der Hütte von Thoreau realisierte und im Anschluss daran Kaczynskis Hütte reproduzierte. Beide Hütten sind ursprünglich Zeichen der Angst vor dem Verlust der Freiheit, die nicht neu ist, aktuell aber wieder aufflammt und vor allem neu bewertet wird.

In dem Film Stemple Pass (2012) führt Benning seine Auseinandersetzung weiter und zeigt in statischer Einstellung die Landschaft Sierra Nevadas, in der die nachgebauten Hütten stehen. Die Jahreszeiten machen den Wechsel der Bilder aus, zu denen Benning Passagen aus Kaczynskis Tagebucheinträgen liest. Die Zweikanal-Videoprojektion Two Cabins (2011) greift den Blick von innen aus den Fenstern der Hüttennachbauten auf und ist unterlegt mit dem Sound der Originalschauplätze. In seinem andauernden Prozess des Nachempfindens und Reproduzierens sowie durch die Gegenüberstellung von Relikt und Replik, treibt Benning die Frage nach Ursprünglichkeit und Autonomie ins Extrem. Indem Benning die Gemälde der Outsider-Künstler Black Hawk, Bill Traylor, Martín Ramírez, Henry Darger, Jesse Howard, Joseph Yoakum, William Hawkins und Moses Tolliver kopiert und in Beziehung zu einem Tagebuchauszug Kaczynskis stellt, befragt er den Mythos des autonomen Künstlers, der abseits des zivilisatorischen Spektakels praktiziert. Dass die Bilder der Outsider normalerweise in den nachgebauten Waldhütten hängen, rundet den Kreis eines Werks ab, das selbst obsessive Züge trägt. Eine weitere Arbeit in der Ausstellung ist die dreiteilige Installation After Gee’s Bend (Missouri Pettway), deren Ausgangspunkt die Nachbildung eines Quilts von Missouri Pettway bildet: Den originalen Flickenquilt fertigte sie 1941 aus Kleidungsstücken ihres verstorbenen Ehemanns zum Schutz vor Kälte an. Benning ergänzt sein Exemplar um die Familiengeschichte der Frau, die als Sklavin auf einer Baumwollplantage in Alabama lebte – zur gleichen Zeit als Mondrian Broadway Boogie-Woogie malte. Die Glasarbeit, die Benning in Hamburg zeigt, variiert dieses Gemälde.

Die Geschichten, die Benning aufeinanderprallen lässt, werden nicht dokumentarisch verhandelt, sondern entwickeln eine Geografie des Geistes. Die eindringliche Atmosphäre verdankt sich der Qualität von Bennings Blick, der konzentriert gehalten, gelenkt von Obsession, über die bloße Narration hinausgeht.

James Bennning wurde 1942 in Milwaukee, Wisconsin, geboren und lebt in Val Verde, Kalifornien. Er studierte Mathematik und im Anschluss daran Film an der University of Wisconsin. Seit 1987 ist er Professor für Film am California Institute of the Arts in Valencia, Kalifornien. Seine Filme wurden auf internationalen Festivals lange als Geheimtipp gefeiert, doch mit California Trilogy (1999–2001), 13 Lakes (2004), Casting A Glance und RR (2007) wurde er weltbekannt. Im Ausstellungskontext präsentierte Benning Arbeiten auf der Whitney Biennale (New York, 1980) und im Walker Art Center (Minneapolis, MN, 2002). Ausstellungen im 21er Haus (Wien, 2012), im Hessel Museum of Art am Bard College (Annandale-on-Hudson, NY, 2012), im Kunstmuseum Basel (Schweiz, 2013), im Artists Space (New York, 2013) und im Fridericianum (Kassel, 2014) folgten. In Einzelausstellungen war sein Werk in der Galerie neugerriemschneider (Berlin, 2011, 2012, 2014), im Argos, Centrum Voor Kunst en Media (Brüssel, 2012) und im Kunsthaus Graz (Österreich, 2014) zu sehen.

Die Ausstellung findet in Kooperation mit dem Kunsthaus Graz statt. Sie wird gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg sowie der NORD/LB Kulturstiftung. Das Filmprogramm wird gemeinsam mit dem Metropolis Kino Hamburg umgesetzt. Die Publikation zur Ausstellung ist im Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, erschienen und HIER erhältlich.