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Die Frage nach dem menschlichen Körper, seiner Wahrnehmung und Darstellung, führt direkt zur Frage nach dem Bild. Der Körper als Ort des eigenen Selbst hat innerhalb der Jahrhunderte eine wechselvolle Geschichte erfahren. Er wurde mit der Moderne zum zerstückelten, zerstörten und manipulierten Körper, womit sich auch die Selbstwahrnehmung merklich zu verändern begonnen hat. Die Moderne hat sich damit gegen eine vorherrschende Vorstellung von Schönheit und Idealisierung positioniert. Der ideale athletische Körper in der Nachfolge der Antike wurde verbannt und durch einen fragmentierten Körper ersetzt. Diese Fragmentierung – nicht nur des Körpers, sondern der Realität allgemein – geht im Wesentlichen auf eine Entwicklung innerhalb der technischen Bildmedien zurück. Mittels Fotografie und Film und später durch die erweiterten Möglichkeiten des Computers ergaben sich neue Formulierungsmöglichkeiten, die den Körper durch Detailaufnahmen und durch montageartige Methoden der Neukonf iguration zu einer veränderten Wirklichkeit führten. Der Körper hat sich damit radikal weiterentwickelt. Er wurde durch die Medien zum Bild. Der reale Körper bemüht sich in der Folge bis heute, sich diesem von den Medien entworfenen Bild anzugleichen. Die Kunst – auch die klassischen Kategorien wie Malerei, Zeichnung und Skulptur – reagiert darauf und zeigt diese Entwicklungen auf vielfache Weise auf bzw. kritisiert diesen Prozess. Dieses vom Rationalismus und Materialismus geprägte Bild der Moderne, das in der Mediatisierung vorläufig gipfelt, ist jedoch nicht die einzige bestimmende Kraft im Körperdiskurs der letzten Jahrhunderte. Eine von spirituellen, religiösen und übernatürlichen Impulsen geleitete Wirklichkeitswahrnehmung, die auch aus den Mythen, Märchen und dem Phantastischen stammen kann, bildet einen bedeutenden Widerpart zur rationalistischen Sichtweise. Dabei ist zu erkennen, dass sich durch die Dynamiken einer rasant fortschreitenden Globalisierung zusätzlich ein von unterschiedlichen einst entlegeneren Kulturen geprägtes Realitätsbewusstsein einstellt. Die Vorstellungen beispielsweise außereuropäischer Kulturen vom Körper mögen unterschiedlich von jenen der westlichen Welt sein. In vergangenen Konzepten gab es noch vielfältigere Entsprechungen, war doch die religiös-spirituelle Sicht auf die Dinge vor der Moderne allerorts wesentlich stärker und bestimmender. „Das Maß aller Dinge“ wäre in diesem Zusammenhang sicherlich in einer außerhalb unserer Reichweite liegenden gleichsam göttlichen Macht zu suchen, deren bestimmende Kraft sich im Laufe der Zeit aufzulösen begonnen hat. In seiner ursprünglichen sophistischen Sichtweise wie sie von Protagoras ausging, heißt es im berühmten „Homo-Mensura-Satz“: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.“ Die genaue Übersetzung und damit auch die Interpretation des Satzes sind umstritten. Platon bietet eine Sichtweise an, indem er meint: „Wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch mir, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir.“ Die Dinge wären also so, wie sie dem Menschen erscheinen – nicht unähnlich der Erkenntnistheorie von Kant. Damit ist konsequenterweise eine übernatürliche Macht ausgeschalten. Auch für Protagoras war eine Existenz der Götter nicht selbstverständlich bzw. nicht vorstellbar, ebenso konnte deren Beschaffenheit nicht geklärt werden. Damit ist es auch unmöglich, irgendwelche göttlichen Maße oder Bewertungen göttlichen Ursprungs anzugeben. Der Mensch wird damit als Wesen dargestellt, das selbst nicht über göttliche Maßstäbe verfügt, sondern ausschließlich über menschliche. Der Gedanke einer grundsätzlichen Bescheidenheit des Menschen ist da rauszuhören, die sich aber auch zur Anmaßung hin pervertieren lässt – der Mensch selbst als Gott. Am Ende ist die Gottesvorstellung auch von diesem menschlichen Maß abhängig. Die unterschiedlichen Gottesvorstellungen, global betrachtet, zeigen das. Eine einheitliche Vorstellung vom Göttlichen ist nicht möglich. Der zuvor dargestellte Dualismus zwischen mediatisiertem und spirituell-religiösem Weltbild führt allerdings in strukturverwandte Gefilde. In beiden Fällen findet eine Konstruktion der Wirklichkeit statt. In einem Fall ist es die aus den Religionen, Mythen und anderen spirituellen Bereichen kommende Konstruktion, im anderen Fall ist es die Wirklichkeitskonstruktion, die aus der allgemeinen Bildwerdung der Realität resultiert. Irrationale Bereiche werden in beiden erschlossen. Gleichzeitig liegt im „Homo-Mensura-Satz“ eine weitere Konsequenz, die sich etwas später im „Vitruvianischen Menschen“ offenbart. Die berühmte Zeichnung von Leonardo da Vinci, die um 1490 entstanden sein dürfte, folgt den „Zehn Büchern über Architektur“von Vitruvius. Er stellt darin unter anderem die Theorie des wohlgeformten Menschen – des „homo bene figuratus“ mit einem idealen Verhältnis der Körperteile zueinander auf. Leonardo illustrierte die These von Vitruvius, wonach der aufrecht stehende Mensch sich sowohl in die geometrische Form des Quadrates wie auch des Kreises einfüge. Das Aussehen der Figur ist zusätzlich nicht allein durch Kreis und Quadrat bestimmt, sondern auch durch Proportionsregeln für die einzelnen Körperteile untereinander. Das Idealbild der menschlichen Schönheit ist daher kein absolutes, sondern besteht aus der Beziehung einzelner Teile zueinander. Somit ist der Mensch gleichsam einem Bauplan untergeordnet. Diese Konstruktion des Körpers, die mit der Vermessung und Proportionierung begann, fand in der medialen Konstruktion Jahrhunderte später seine Entsprechung. Die Aufteilung des Körpers in Maßeinheiten entspricht im Wesentlichen der Auflösung des realen Körpers innerhalb der Bildwerdung desselben und der damit einhergehenden Segmentierung. Wenn also diese Ausstellung in der Galerie Gölles in Fürstenfeld mit „Das Maß aller Dinge“ betitelt ist, so werden die hier skizzierten Entwicklungen zu bedenken sein. Bei allen in dieser Ausstellung vertretenen künstlerischen Überlegungen hat man es mit der Konstruktion einer Realität zu tun. Im Speziellen betrachtet ist es die Wahrnehmung und Darstellung des Körperlichen, die hier zur Debatte stehen. Anna Stangl, Gabi Trinkaus, Josef Kern, Andreas Leikauf und Martin Schnur zeigen auf unterschiedliche Weise ein Bild vom Körper, wie wir es heute vorfinden. Dabei ist sowohl eine spirituell-religiöse, vom Phantastischen geprägte, Weltsicht feststellbar (Stangl, Kern), wie auch die mediale Konstruktion (Schnur, Trinkaus, Leikauf). Das Religiöse ist in diesem Zusammenhang nicht mit Konfessionsgläubigkeit gleichzusetzen, sondern mit den Modellen der übersinnlichen Systeme zur Welt- und Realitätserklärung. Anna Stangl bewegt sich in ihrer Kunst in einem höchst subjektiven Kontext der eigenen Realitätswahrnehmung. Ihre kindlich unverdorben anmutenden Protagonistinnen finden sich meist verstrickt in ornatmentale Strukturen, die an vegetabile Gebilde erinnern. Das Ornament wird zum Dickicht der Bedingungen, innerhalb derer sich der Mensch bewegt, die seinen Existenzraum andeuten, jedoch nicht explizit auszuformulieren im Stande sind. Eingesponnen in eine selbstgeformte Umgebung positionieren sich die Dargestellten gleichzeitig in einem geschützten Bereich und in einer unendlich anmutenden Netzstruktur des Ornamentalen. Die Spannung zwischen Abstraktion – dem Unaussprechlichen – und Gegenständlichkeit – dem Offensichtlichen – wird hier offenkundig. Josef Kern geht von der klassischen Portraitmalerei aus. Seine sensiblen Portraits meist von Freunden und Menschen seines subjektiven Umfelds machen ihn zunächst zu einem Vertreter einer Tradition, die weit zurück reicht und am Beginn einer Wahrnehmung und Darstellung des Menschen steht. Er verbindet die Phänomene der sichtbaren Welt in anderen Arbeiten zu phantastischen Organismen, die Organisches mit Vegetabilem vermengen – „Kopffüßler“. Grundsätzliches Wachstum liegt sowohl der pflanzlichen als auch der organischen Existenz zu Grunde. Ihre Koexistenz scheint der Künstler hier anzusprechen. Er scheint das Leben bzw. die Existenz allumfassender zu begreifen und konstruiert dabei einen sehr subjektiven Kosmos, dessen Funktionsweisen rational nicht erfassbar sind, obwohl sie aus bekannten Elementen der sichtbaren Welt konfiguriert sind. Andreas Leikauf geht in seinen großformatigen Portraits von einer anderen Form der Realitätskonstruktion aus. Er verwebt mediale Realitätsebenen mit narrativen Strukturen. Sloganhafte Texte begleiten die Figuren und definieren sie als neue Helden des Medienzeitalters. Die Tragik und Ausgesetztheit dieser bildgewordenen Menschen äußert sich in deren Gefangenschaft im Bild – „Is that all there is?“ Martin Schnur, der gegenwärtig zu den hervorragendsten Vertretern einer figurativen Malerei in Österreich zählt, bewegt sich in seinen Bildern schon lange zwischen mehreren Realitätsebenen. Die Dargestellten wirken ähnlich wie bei Leikauf, ausgesetzt, auf sich allein zurückgeworfen und in rätselhafte Vorgänge eingebunden. Statuarisch einerseits, sich von einer Bildebene in eine andere bewegend andererseits, sind diese Menschen Bestandteile einer Bildkonstruktion, die eine Wirklichkeit anspricht, die sowohl den Medien bzw. der Kunstgeschichte verpflichtet ist, als auch einer inneren emotionalen Ebene. Schnurs Methode des Bildes im Bild ermöglicht den scheinbaren Wechsel von einer Realitätsebene in die andere. Ein Ausstieg aus der Wirklichkeit des Bildes scheint nicht mehr möglich zu sein. Gabi Trinkaus positioniert sich am radikalsten in Bezug zur medialen Konstruktion des Körpers durch die Medien. Ihre collagierten Portraits bestehen aus bereits existierenden Bildern bzw. Bildsegmenten. Trinkaus nimmt sich diese Bilder direkt aus den Magazinen und Journalen und fügt Stück für Stück neu zusammen – zu Gesichtern, Körpern und Landschaften bzw. Stadtansichten. Der fotografisch zerstückelte Körper wird in der Collage bzw. Montage neu zusammengesetzt – er wird zum System von Variablen. Das Bauplanartige, das in der Konsequenz bis zum „Vetruvianischen Menschen“ zurückreicht, findet hier eine Folge. Der natürliche Ort der Identität ist in den Portraits von Gabi Trinkaus aufgehoben. Stattdessen ist dieser Körper rekombinierbar und bietet unterschiedliche Optionen in Bezug auf die Identität. An Hand der hier gezeigten Beispiele wird eindrucksvoll sichtbar, wie sehr der Mensch in seiner Entwicklung auf sich selbst zurückgeworfen ist. Diese Tatsche lässt ihn ständig nach seiner eigenen Identität fragen und permanent neue Formen der Wirklichkeit und deren Bewusstmachung suchen. Wenn man sich im Zuge der Moderne darauf geeinigt hat, dass es einerseits ein rationalistisches und andererseits ein im Wesentlichen spirituell geprägtes Menschenbild gibt, muss man heute akzeptieren, dass sich die beiden Auffassungen berühren bzw. sogar decken. Wenn der Mensch das Maß aller Dinge ist, so ist er auch der Konstrukteur seiner Existenz, seiner Wirklichkeit. Das Göttliche als synonym für alles Unerklärliche ist Teil dieser Konstruktion. Im Bild vereinigen sich diese Bemühungen auf verblüffende Weise.

Günther Holler-Schuster

Das Maß aller Dinge – Josef Kern, Andreas Leikauf, Martin Schnur, Anna Stangl, Gabi Trinkaus Galerie Gölles, Fürstenfeld 15. Juni bis 24. August 2014 Eröffnung: 14. Juni 2014, 18.00 Uhr