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CHRIS REINECKE
Partizipation von ich und wir. Leben und Wohnen und Arbeiten in der Stadt.
Düsseldorf 1967–1971

ca. 18.02.2021 bis 28.03.2021

Die Ausstellung ist in Kooperation mit der Galerie "Beck & Eggeling" entstanden

Mit der Ausstellung Partizipation von ich und wir. Leben und Wohnen und Arbeiten in der Stadt.Düsseldorf 1967 – 1971 zeigt das Stadtmuseum Düsseldorf ein Konvolut von Flugschriften, Aktionsblättern und „Plakaten“ (die Anführungsstriche beziehen sich auf das DIN A4-Format der Blätter), ergänzt um einige Objekte, aus dem Archiv von Chris Reinecke. Sie stammen aus den späten 1960er Jahren, in denen Chris Reinecke als Mitbegründerin des Lidl-Projekts, aus dem später die Mietersolidarität hervorging, für Aufsehen in der Düsseldorfer Kunstszene sorgte. Die Exponate zeigen, wie sehr sich im Diskurs der damaligen Zeit Kunst, Politik und Leben miteinander verbinden sollten und welche revolutionäre Kraft dem „erweiterten Kunstbegriff“ als kollektiven Prozess beigemessen wurde. Vor allem aber überraschen sie mit der fast ungebrochenen Aktualität und der fast hellsichtigen Art, mit der sich Chris Reinecke den gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und künstlerischen Fragen ihrer Zeit gestellt hat und die vielfach bis heute immer wieder zur Diskussion stehen.

Chris Reinecke beginnt ihre künstlerische Laufbahn als Malerin 1959 in Paris, studiert zunächst im Atelier de Dessin et d’Arts Décoratifs und dann an der École Nationale Supérieure des Beaux Arts. 1961 verlässt sie Frankreich, enttäuscht von einem akademisch rückwärtsgewandten Lehrbetrieb und kehrt zurück zu ihrer Familie nach Düsseldorf. Noch im selben ja beginnt sie ihr Studium an der Kunstakademie bei K.O. Götz und wechselt dann in die Klasse zu Gerhard Hoehme. Zu diesem Zeitpunkt ist sie die einzige Frau in den Klassen für bildende Künste.

1964 lernt sie an der Akademie Jörg Immendorff kennen, den sie ein Jahr später heiratet und beginnt sich nach Abschluss ihres Studiums im selben Jahr sich in der mittlerweile von Joseph Beuys (bei dem Immendorff studiert) geprägten Düsseldorfer Szene, im Umfeld von Fluxus, Happening und Neuer Musik und vor dem Hintergrund einer sich formierenden, politisierten Studentenbewegung, künstlerisch zu positionieren. Reineckes Arbeit ist in dieser Zeit gekennzeichnet von einem partizipatorischen Prinzip. Sie schafft Ausgangssituationen für offene Prozesse, die dem Publikum die Möglichkeiten des eigenen Handelns bewusst machen, die Menschen für die sie umgebenden Verhältnisse sensibilisieren und darüber zu einer Erweiterung des Erfahrungsraumes führen sollen. Bei ersten Aktionen, die dieser Idee des kollektiven Prozesses folgen, entstehen beispielsweise die Umgebungskleider. Auf transparenten Plastikkleidern, die den Teilnehmern der Aktion übergezogen werden, notiert Reinecke Eindrücke und Wahrnehmungen. In Ausstellung präsentiert Reinecke Arbeiten wie den Klima-Tisch, an dem Besucher*innen auf Landschaftstafeln mit Ventilatoren, farbigen Lichtern, Pudern und Raumsprays verschiedene Klimata simulieren können, oder das Dombild, eine Zeichnung des Kölner Doms, auf das das Publikum Kaugummis kleben soll.

1968, in der Hochphase der studentischen Unruhen und unter dem Eindruck der Auseinandersetzung mit kommunistischen Theorien und dem Kontakt zu politisch aktiven Gruppen, kommen Reinecke und Immendorff zu dem Schluss, dass es neue Wege brauche, um auch ein uninformiertes, kulturell nicht vorgebildetes Publikum , die „normale“ Bevölkerung, zu erreichen. So wird das Projekt Lidl ins Leben gerufen. Im Lidl-Raum (zunächst in der Blücher-/ Ecke Parkstraße in Pempelfort) finden Ausstellungen, Aktionen und Veranstaltungen zu gesellschaftlichen und politischen Themen statt. Lidl ist ein in alle Richtungen offenes Modell: offen für jedes Publikum, offen auch für Beteiligung anderer Künstlerinnen und Mitwirkenden und bietet somit den exemplarischen Rahmen zur Erprobung des „erweiterten Kunstbegriffs“ und die intendierte endgültige Auflösung der Trennung zwischen Künstlerin und Publikum. Reineckes Arbeit, die sich nun ganz weg vom Schaffen von Kunstwerken hin zur Aktion entwickelt hat, lotet sie das Verhältnis des Einzelnen im sozio-politischen Gefüge aus, Beleuchtet das Verhältnis von Arbeit und Kreativität, stellt die Frage nach der Gültigkeit von normativen gesellschaftlichen Kategorien wie Geschlecht und Klasse. In der Performance Zeit und Arbeit beispielsweise simuliert sie während einer Lidl-Aktion in Kopenhagen einen 8-Stunden Tag am Computer (in dieser Zeit arbeitete sie zur Finanzierung des Lebensunterhalts für sich und Immendorff im Düsseldorfer Finanzamt an einem solchen). In einer anderen Aktion bringt sie Frauen das Löten und Männern das Häkeln bei. Insbesondere im Flugblatt NORM NORM NORM fasst Reinecke ihre Gedanken über das Geschlechterverhältnis und generell normative Kategorien noch einmal konkret zusammen.

In den Jahren bis 1970 hat sich Lidl stark politisiert. Es wird nicht nur gegen den etablierten Kunstbetrieb agiert – Störaktionen von Lidl im Rahmen der Ausstellung „Jetzt – Künste in Deutschland heute“ führen zur Verhaftung von Lidl-Mitgliedern und zum Ausschluss der Gruppe aus der Ausstellung – mit dem Umzug in die Neubrückstraße wird der Lidl-Raum, der jetzt als Büro Olympia firmiert (Teile von Lidl protestieren gegen die Kommerzialisierung und politisch motivierten Subventionierungen im Sport und erklären den Kampf gegen die Olympischen Spiele 1972 in München), zum Anlaufpunkt verschiedener politischer und gesellschaftlicher Interessengruppen. Reinecke verfasst Flugschriften und Aktionsblätter und fertigt Schaufensterplakate an. Sport (als Möglichkeit einer spielerischen Zusammenkunft als Kollektiv) und Transport (als Metapher für gesellschaftliche Beweglichkeit und Veränderung) tauchen auf ihnen wie Kampfbegriffe auf. Gleichzeitig entsteht die Figur der Minna Beuff, eine Art Alter Ego, mit der Reinecke den Kampf um ihre Autonomie als Frau im Umfeld eines noch immer von Männern dominierten politischen Aktivismus verhandelt.

Immer öfter suchen Mieternotgemeinschaften, die sich im Kampf gegen Wohnungsnot, Spekulation und Mietwucher haben in Düsseldorf zusammengeschlossen haben, den Kontakt zum Büro Olympia. Im Sommer 1970 wird die Selbst-Hilfe Wohnen gegründet, die sich wenig später Mietersolidarität nennt. Reinecke organisiert Zusammenkünfte in Parks, hilft bei Auseinandersetzungen mit Behörden, besucht Unterkünfte von Gastarbeiterfamilien und natürlich entstehen auch nun Flugschriften und Plakate, die in Ton und Agitation immer schärfer werden. Unter dem Motto „Baut Euch Eure Häuser selbst“ findet im September 1970 auf dem Platz vor dem Schauspielhaus eine einwöchige Protestaktion statt, die Lutz Mommartz in seinem Film Mietersolidarität dokumentiert.

Für Reinecke tritt die Kunst in dieser Zeit hinter der konkreten politischen Arbeit zurück. Spannungen und Differenzen über künstlerische und politische Strategien innerhalb der Lidl-Gruppe werden immer virulenter. Während Reinecke sich in der Mietersolidarität engagiert, arrangieren sich andere mit einer gewissen Etablierung der Anti-Haltung und der damit einhergehenden Marktfähigkeit im Kunstbetrieb. Reinecke enttäuscht dies. Mit dem Text Mischeis trinken. Minna Beuff. Alarm. Roman III kündigt sie die Trennung von Lidl an, um in einem letzten großen Pamphlet – KUNST MUSS SEIN – ihren Standpunkt zu den Entwicklungen zu formulieren. Nach eigener Aussage hat gerade dieser Text zum endgültigen Zerwürfnis mit den alten Weggefährten geführt, von denen Einzelne zu späteren Erfolg gelangen und bis heute mit ihrer Perspektive die Sicht auf die damalige Zeit prägen.

Reinecke führt die Mietersolidarität noch bis 1971 fort. Vom Kunstbetrieb zieht sie sich vorerst zurück und wird erst in den 1980er Jahren wieder vermehrt in Ausstellungen präsent sein.

Chris Reinecke wurde 1936 in Potsdam geboren. Sie lebt und arbeitet in Düsseldorf.