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Nach ihrem gemeinsamen Auftritt zusammen mit Raquel Maulwurf in den alten Räumen der Galerie im vergangenen Jahr bespielt die niederländische Künstlerin Birgit Verwer (*1972) nun erstmals in einer Einzelausstellung die deutlich größeren Galerieräume von Sebastian Brandl in der Moltkestrasse. Rebellisch, provokant und polarisierend treten die Werke der Künstlerin dem Betrachter entgegen, die in ihren Realismen dem Alltag so nahe sind und dennoch weit über ihn hinausweisen. Einen hohen Anteil daran haben nicht zuletzt die Themen, mit denen Birgit Verwer die Wunden der Gesellschaft offen legt. Sie widersprechen den Forderungen des Konsumwahns, der Bigotterie und der Verklemmtheit, interessieren sich für alternative Wege, den Schmutz, die Ausgeschlossenen, die Randgruppen der Gesellschaft und formulieren Einsprüche gegen eine in ihren Augen enthemmte Konsumkultur. Ihre Arbeiten entwickeln sich zu dreidimensionalen „Tableaux“ – raumgreifenden Environments und Installationen. Als Material dienen ihr hauptsächlich Alltagsgegenstände und Fundstücke, nach denen sie gezielt Trödelmärkte durchstöberte, sowie Abfälle von den Deponien der westlichen Konsumkultur. Der Blick der Künstlerin ist zutiefst von ihrer katholischen Erziehung geprägt und oszilliert beständig zwischen lustvoller Zeigefreude und aufklärerischem Gestus. Das clowneske Spiel, bei dem Sakrales und Profanes miteinander kurzgeschlossen werden, wird zum Ereignis, das den Betrachter schockartig überfällt. Darüber hinaus sind die Assemblagen mit ihren christlichen Devotionalien symptomatisch für die tiefe Skepsis der Künstlerin gegenüber dem institutionalisierten Glauben, die manchmal in spöttelnder Ironie, manchmal in offener Empörung ihren Ausdruck findet.

‚An dieser Stelle gebrauchen wir den Fallschirm’ – so nennt Birgit Verwer ihre Ausstellung mit aktuellen Arbeiten, die allesamt die Verheißungen und Widersprüchlichkeiten des kirchlichen Glaubens thematisieren oder diese zumindest als Folie verwenden, um den moralischen Zwiespalt aufzeigen zu können, in dem unser gesellschaftliches Leben sich immer wieder verfängt. Im Fadenkreuz steht eine Religion, die nicht die Erlösung, sondern die Schuld, nicht die Hoffnung, sondern die Verzweiflung beabsichtigt. Der Titel suggeriert, dass es gilt, die Reißleine zu ziehen, den Rettungsschirm für Aussteiger zu entfalten. Nur ein Bruchteil von Sekunden entscheidet schließlich über den exakten Zeitpunkt, zu dem eine halbwegs sanfte Landung noch möglich ist. Bis dahin darf jedoch das Glücksgefühl des freien Falls bis zum Anschlag ausgekostet werden. Bereits im Eingangsbereich empfängt uns none of the above seems very important (2012), eine Christusfigur mit ausgebreiteten Armen. Ein altes gedrechseltes Holzkreuz auf Rädern bildet den Corpus. Das Herz des Erlösers scheint grell und steht offen für alle, damit sie freudig schöpfen aus den Quellen des Heils. Doch scheint dieser Christus seinen eigenen Heilsversprechungen nicht mehr so recht zu trauen, hat er doch vorsorglich einen Helm übergezogen und trägt eine Sicherheitsbrille unter der die lange Pinocchionase eines Abflusspfropfens hervorlugt. In den Galerieräumen stößt der Betrachter auf eine zeltartige Beichtkapelle (BLESSED BEYOND MEASURE, 2012), dessen Wände aus lauter weißen Herrenunterhosen gebildet werden. Im Inneren befindet sich ein hell erleuchteter Theaterspiegel, der schonungslos das eigene Abbild wiedergibt sowie ein Beichtstuhl, dessen Pendant außerhalb postiert ist. Ein Versteckspiel in diesem Erlebnis- und Läuterungsraum ist nicht länger möglich. Eine Anspielung auf die Kindesmissbrauchsskandale innerhalb kirchlicher Einrichtungen dürfte durchaus intendiert sein. Zumal eine weitere Arbeit (CTRL, 2012) aus einem Kindersitz besteht, der als Richterstuhl fungiert, sind dessen Beine doch durch Sensen und Harken zu einem Hochstuhl verlängert, wie wir ihn aus erhöhten Schiedsrichterstühlen beim Tennismatch kennen. Aus dieser erhobenen Warte können die Kinder das Geschehen kontrollieren und ein, von ihren Gefühlen geleitetes Urteil fällen. Ausgestattet mit Angelrute und Mikrophon erhalten sie eine Stimme und die Macht, Gehör zu finden. Ein größerer Altar (Re-creation of the soul, 2012) mit zahlreichen weiteren Devotionalien vervollständigt die Ausstellungsinstallation.

Nach Charles Baudelaire ist der Mensch ein in den Wäldern von Symbolen verirrtes Kind. Dass die Spiele dieser Kinder mitunter auch existentiell bedrohliche Formen annehmen können, zeigt uns Birgit Verwer mit ihren Assemblagen eindringlich auf. Dabei kommt ihre Bilderstürmerei vornehmlich im Medium der Bilder selbst daher. Vorgeführt wird die Realität als eine Grimasse des Realen. Verhandelt wird der unerträgliche Sachverhalt, dass es da draußen tatsächlich irritierende Dinge gibt. Dabei leben wir im postmodernen Zeitalter, in dem Wahrheitsansprüche per se als Ausdruck verborgener Machtmechanismen verworfen werden. Zu fragen bliebe, ob ein Leben denkbar ist, das einem nicht als Besitz, sondern zum Gebrauch gegeben ist. Vielleicht ist ja der permanente Krisen- und Ausnahmezustand, der von den Welterklärern allerorten ausgerufen wird, nichts anderes als die säkularisierte Parodie der beständigen Vertagung des Weltgerichts in der Geschichte der Kirche – die Verwechslung dessen, was wir glauben, hoffen und lieben, mit dem was wir gezwungen sind zu tun oder nicht zu tun, zu sagen oder nicht zu sagen. Einen Vorgeschmack vom Weltgericht zumindest liefern uns die Arbeiten von Birgit Verwer, wenn auch mit einem Augenzwinkern ausgestattet.

Harald Uhr