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Eröffnung: 12.9.08, 20.00 Uhr

Das in Rotterdam ansässige Team des Ateliers Van Lieshout (AVL) zählt zu den wichtigsten Impulsgebern einer an gesellschaftlicher Realität interessierten Gegenwartskunst. Ausgehend von den Erfahrungen der hochkomplexen Lebensorganisation in westlichen Informationsgesellschaften werden in Zeichnungen, Modellen, Objekten und raumgreifenden Installationen die Kreisläufe der Waren-, Konsum- und Bedürfniszirkulation untersucht und zu provokanten Szenarien verdichtet. Insbesondere die Strategien negativer Utopien einer plan- und berechenbaren Menschenhaltung spielen im Denken des künstlerischen Leiters Joep van Lieshout (*1963) eine dominierende Rolle und erfahren im Kraftfeld von Körper und Geschlecht, von Hierarchie und Ironie immer wieder radikale Zuspitzungen.

Für das Ludwig Forum für Internationale Kunst in Aachen richtet AVL thematische Räume ein, die einen retrospektiven Rundgang durch signifikante Bereiche der bisherigen Produktion eröffnen und zugleich neuste Arbeiten in den beständig wachsenden subjektiven Kosmos integrieren. Durchgängige Werkprinzipien wie das der Mobilität, der Modularität und der Kontextbezogenheit sind dabei ebenso zu beobachten wie das grundsätzliche Bestreben, mögliche Nutzer in die Entwürfe einzubinden und aus deren Perspektive heraus das jeweilige Konzept zu entwickeln. Dieser dezidiert anthropologische Bezug verleiht vielen der AVL-Arbeiten den Charakter von Versuchsanordnungen, die zentrale Aspekte der humanen Verfasstheit – Ernährung und Verdauung, Sexualität und Reproduktion, Freiheit und Repression, Individualität und Vermassung – auf dem Prüfstand einer brisanten Aktualität zeigen. Insofern arbeitet AVL seit seiner Gründung 1995 immer wieder an komplexen Fragestellungen, die tradierte Gattungsgrenzen zwischen Philosophie, Soziologie, Biologie und Stadtentwicklung integrativ und anwendungsorientiert überschreiten und unbekümmert um jegliche politische Korrektheit auch weithin tabuisierte Alternativen nicht ausschließen.

Dies wird besonders deutlich im Umfeld der Werkgruppen zu „Slave City“, die unmittelbar vor Aachen im Folkwang-Museum in Essen gezeigt werden konnten und die Mechanismen einer möglichen Menschenhaltung vor Augen führten, die alle postulierten demokratischen Ideale mit den ungezügelten Atavismen diktatorischer, sadistischer und sexistischer Ausprägung konfrontieren. Hier scheinen Aspekte auf, die der Erfahrungswelt des Alltags näher stehen als gesellschaftspolitischen Traktakten und die ganz sicher auch den Erkenntnissen geschuldet sind, die AVL im Zuge einer temporären Unabhängigkeitsenklave (AVL-Ville, 2001) gewinnen konnte, in deren Verlauf alle Polaritäten zwischen zentraler Organisation und anarchischer Selbstdefinition erlebt und erlitten worden sind. Unter dem lapidaren Titel „DAS HAUS“ nun zeigt AVL in allen ebenerdigen Räumen des Ludwig Forums eine opulente Zusammenschau seiner nichtlinearen Denk- und Produktionsprozesse und richtet sie im Sinne von begehbaren Kapiteln direkt vor Ort ein. So begegnet der Besucher beispielsweise einem „Maschinenraum“, einem „Modularen Schlafzimmer“, einem „Unabhängigkeitsraum“, einem „Vorstandszimmer“, einer „Biogas-Halle“ oder einem „Schlechten Schlafzimmer“: thematischen Fokussierungen mit- hin, die von der fraglosen Faktizität des modernen Lebens ausgehen und folgerichtig zu Konstellationen von beklemmender Konsequenz führen. Mit schelmischer Service- Geste werden da Offerten geboten, die von körperlicher Ertüchtigung über die schlaraffenhafte Endlosversorgung mit Alkohol und Nahrungsmitteln bis hin zu Besuchen in Bordell-Modellen reichen und neben der ironischen Brechung immer auch einen inkommensurablen Rest an realitätsgesättigter Zumutung transportieren. Komplettiert durch riesenhafte Organskulpturen, die als Herz und Nieren, als Phalli und Gebärmutter so etwas wie die Fundamente der Natur innerhalb aller soziobiologischen Planungsspiele bilden, bietet die Ausstellung einen nachhaltigen Erlebnis-Parcours, der mit allen Facetten der künstlerischen Haltung von AVL bekannt macht und den Besucher zugleich auf die Verheißungen und Abgründe seiner eigenen Lebensrealität verweist. Harald Kunde