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Seit dem 1. Januar 2006 ist Dr. Markus Brüderlin Direktor des Kunstmuseum Wolfsburg. Die von ihm konzipierte Ausstellung ArchiSkulptur: Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute war zuvor an seiner bisherigen Wirkungsstätte der Fondation Beyeler in Basel sowie am Guggenheim Museum in Bilbao zu sehen.

Die Ausstellung ArchiSkulptur geht dem Wechselverhältnis von Architektur und moderner Skulptur nach, das im 20. Jahrhundert zu einer ganz besonderen Ausprägung fand. Schon immer hat die Plastik Elemente der Architektur übernommen, und umgekehrt brachte die Baukunst Formen und Strukturen der Skulptur zur Anwendung. Doch seit der Moderne werden die Grenzen zwischen beiden Gattungen in besonderer Weise verwischt. Gewisse Tendenzen der Gegenwartsarchitektur erwecken den Eindruck, als würden sie gleichsam die Geschichte der Plastik in Gebäudeform fortsetzen.

Eine Besonderheit des Projektes ist die Darstellung des Themas aus beiden Bereichen heraus, eine andere Herausforderung ist die Präsentationsform: Originalskulpturen herausragender Bildhauer werden direkt mit Modellen von dazu korrespondierenden Bauwerken der Weltarchitektur in Bezug gesetzt. Einmalig sind zudem der Umfang und der historische Rahmen: Die Ausstellung zeigt, gegliedert in zehn Kapitel, die aufregende Entwicklung der Archiskulptur vom späten 18. Jahrhundert bis heute und präsentiert 180 Objekte von insgesamt ca. 90 Künstlern und Architekten. Diese enthalten immer wieder Rückblenden und Vorgriffe, die die Konstanz gewisser Themen ins Bewusstsein rufen. So gewinnt das Arbeitsmodell von Frank O. Gehrys bekanntem, 1997 fertig gestelltem Guggenheim Museum in Bilbao in der Blickachse mit dem Eckrelief des russischen Konstruktivisten Wladimir Tatlin von 1915 ein neues Profil. Ergänzt werden diese dreidimensionalen Dialoge von ausgesuchten Gemälden sowie Großfotografien, die das Thema auf der bildnerischen Ebene vertiefen. Im Zentrum steht die Erfahrung von Körper und Raum, die gerade im Zeitalter der elektronischen Medien und Simulationen ungeahnte Aktualität erhält. Die Inszenierung versucht auch eine sinnliche Dreiecksbeziehung zwischen dem Körper der Skulptur, dem Raum der Architektur und dem Leib des Betrachters herzustellen. ArchiSkulptur ist eine Thesen-Ausstellung, die vorschlägt, die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts unter dem Vorzeichen des Skulpturalen und umgekehrt die Entwicklung der Plastik anhand des Architektonischen neu zu sehen.

Die »Vorgeschichte« geht der These nach, dass die moderne Skulptur, unter dem Vorzeichen des Architektonischen betrachtet, noch andere Quellen besitzt, als den Kubismus und seine Verräumlichung. Gemeint ist der Einfluss des Gotischen und Klassizistischen auf die Geburt der modernen Skulptur im 19. Jahrhundert. Der Russische Konstruktivismus mit seinen raumdurchlässigen Stabwerken (El Lissitzky) erscheint als moderne Ausdeutung der Gotik und deren Rezeption während des 19. Jahrhunderts. Eine klassizistische Linie führt von den geometrisch-kubischen Archiskulpturen der »Architektona« (1920–1926) von Malewitsch – von denen zwei historische Modelle aus Sankt Petersburg nach Wolfsburg gekommen sind – über den proto-kubistischen »Stil« des Wiener Secessionismus zurück zur utopischen französischen Revolutionsarchitektur (Boullée), der Urform der modernen Archiskulptur. Eine dritte, barocke Linie lässt sich von dem großen Modell des spiralförmigen Kuppelabschlusses der Kirche Sant’ Ivo della Sapienza in Rom (1642–1660; Francesco Borromini) aus über den Jugendstil von Gaudí und Obrist bis zur »Serpentine« (1909) von Matisse verfolgen.

Constantin Brancusis Vision einer skulpturalen Architektur ist für die Geschichte der modernen Archiskulptur von grundlegender Bedeutung. »Das ist ja mein Atelier!« soll er 1926 bei seinem erstmaligen Anblick der Skyline Manhattans überrascht festgestellt haben. Heute nähern sich die Wolkenkratzer tatsächlich immer mehr dem Skulpturalen an. »Der Sieg über den Maßstab« ist eine Erfindung der zwanziger/dreißiger Jahre und findet im Zeitalter des Computers, der keine Dimension mehr kennt, seine nicht immer unproblematische Nachfolgerschaft. In der Ausstellung gesellt sich im zweiten Kapitel u.a. das körperhafte Modell des in London kürzlich eingeweihten Wolkenkratzers der Swiss Re von Norman Foster zum Modell des World Trade Centers von Yamasaki und ein Wandbild, welches einen Blick in das Ateliers Brancusis gewährt.

Der in den 1910er Jahren einsetzende und sich bis in die Gegenwart fortsetzende Dualismus zwischen Geometrik und Organik, Rationalität und Expressivität formt neben der Chronologie die grundsätzliche Gliederungsstruktur des Projekts. Im Kern der Ausstellung begegnen sich im dritten und vierten Kapitel das Rational-Geometrische der Bauhaus- und De Stijl-Bewegung der zwanziger und dreißiger Jahre (Vantongerloo, Rietveld, Mies van der Rohe) mit dem Organisch-Plastischen der expressiven Tendenzen der archiskulpturalen Entwürfe von Archipenko, Taut und Finsterlin aus derselben Zeit. Die monolithische Blockhaftigkeit des Einsteinturms (1919–1921) des expressionistischen Architekten Erich Mendelsohn ist ein Höhepunkt der modernen Archiskulptur. Die als plastisch modellierter Körper auftretende Architektur wird heute als wichtiger Vorläufer der skulpturalen sowie computeranimierten Baukunst wieder entdeckt. Die Begegnung mit den baulichen Manifesten der beiden Wiener Philosophen Rudolf Steiner und Ludwig Wittgenstein im fünften Kapitel mag erstaunen. Als monumentale Verkörperung des Geistes und der Seele offenbart sich das zweite von Steiner entworfene Goetheanum (1924–1928), in dem Weltaußenraum und Seeleninnenraum in einem architektonischen plastischen Körper aus konvex und konkav geschwungenen Formen miteinander verschmelzen. Dessen Gegenstück bildet in der Ausstellung das Modell des kubisch-rationalen Hauses von Wittgenstein (1926–1928). Der Vater der Conceptual Art, Sol LeWitt, setzt diesen Rationalismus in der Gegenwart fort. Auf der anderen Seite schließt Joseph Beuys mit dem »plastisch/thermischen Urmeter«, einem Relikt aus der Skulpturen-Ausstellung in Brüglingen (1984), an das metaphysische Weltbild Steiners an.

Standen sich vor dem Zweiten Weltkrieg die rationalen Raumentwürfe des »International Style« (Mies) und die expressionistischen Tendenzen, Geometrie und Organik, gegenüber, so brachten die fünfziger Jahre den Versuch der großen Synthese, beispielsweise die Wallfahrtskapelle von Le Corbusier in Ronchamp. Die Eroberung des Raumes und die Entdeckung des Plastischen konvergieren in der Erfindung des Raum-Plastischen. Dieses Raum-Plastische, dem die Öffnung und Aufwölbung der Oberfläche bzw. das Verschränken von Innen und Außen zugrunde liegen, kann der Besucher anhand von Modellen und Skulpturen von Wright, Moore, Wotruba und Chillida nachvollziehen.

In der raumausgreifenden Kunst der sechziger Jahre, der Minimal Art, etwa von Carl Andre, entwickelt sich die Skulptur zum Platz, wobei der Betrachter die Rolle einer gleichsam bewegten Skulptur einnimmt. Zuvor hatte schon Giacometti, unter Beibehaltung der Figuration, versucht, Körper in Raum zu verwandeln. Seine berühmte Gruppe für die Chase Manhattan Plaza gliedert den »Platz« vor dem Pavillon von Dan Graham, einem Künstler, dessen Werk den Punkt in den siebziger Jahren markiert, an dem die Skulptur zur begehbaren Archiskulptur wird.

Mit der Minimal Art haben Architektur und Skulptur eine neue Ebene der Annäherung erreicht, die im achten Kapitel vorgestellt wird. Von der Kunst lernt die »Minimal Architecture« die Bedeutung der Wahrnehmung, aber auch die psychologische Wirkung von speziell gestalteten Räumen, während die Kunst sich in Form der Installation immer mehr in der Architektur aufzulösen scheint. Exemplarisch für die enge Beziehung von Minimal Art und Minimal Architecture steht in der Ausstellung die Nähe zwischen Donald Judd und früheren Arbeiten von Herzog & de Meuron sowie zwischen einer Bodenarbeit von Walter De Maria und Peter Zumthors Hauptmodell des Projekts »Topographie des Terrors« (1993).

Eine Überraschung birgt das neunte Kapitel mit den urbanen Utopien. Ab Mitte der fünfziger Jahre entstanden zunehmend Stadtentwürfe, die als skulpturale Großformen gestaltet sind. Die Megastrukturen der Architekturavantgarde, die neuartige Städte auf gigantischen Pfeilern wachsen lassen, zeigen erstaunliche Korrespondenzen mit der informellen Plastik der damaligen Zeit (Hollein, Friedman, Constant, Isozaki, Coop Himmelb(l)au). Gleichsam als Gegenbewegung zu den anonymen Megastrukturen entstehen Ende der sechziger Jahre die futuristischen Entwürfe der Zell-Architektur, in denen den Bedürfnissen des Einzelnen in individuellen Behausungen entsprochen werden soll. Brancusis Elementarformen wie auch Friedrich Kieslers höhlenartiges »Endless House« (1950–1959) gehen dieser Bewegung voraus. ArchiSkulptur setzt mit dieser thesenhaften Gegenüberstellung von Struktur und Zelle einen eigenen Akzent in der in letzter Zeit wieder verstärkten Debatte um die urbanen Utopien der sechziger Jahre und bereitet gleichzeitig auf die Ästhetik der sogenannten Blobmeister-Architektur im letzten Kapitel vor.

In Wolfsburg erfuhr die Ausstellung eine Erweiterung, da die Stadt ein Paradebeispiel moderner Stadtentwicklung im 20. Jahrhundert darstellt. Die von Peter Koller und seinen späteren Kollegen entworfenen Stadtbau- und Erweiterungspläne lassen Wolfsburg gegenüber der weltweit größten Automobilfabrik unter einem Dach als eine Stadtlandschaft entstehen, die sich durch die Entwicklung einer offenen Bauweise mit der Durchdringung von Architektur und Natur auszeichnet. Parallel zum Bau der für ihre jeweilige Entstehungszeit geradezu prototypischen Wohnbezirke und Quartiere wurden in den sechziger Jahren namhafte Architekten berufen, um den urbanen Siedlungsbau durch markante Einzelbauten zu ergänzen. Dazu gehören das Rathaus (Titus Taeschner), das Kulturzentrum und zwei Kirchen von Alvar Aalto sowie das Stadttheater (Hans Scharoun). Dem 20. Jahrhundert wird das 21.Jahrundert gegenübergestellt, der Vergangenheit und Gegenwart die Zukunft. Das Architektenbüro von Gerkan, Marg und Partner Hamburg plant und realisiert eine ideale Hafenstadt für das 21. Jahrhundert südlich von Shanghai, die etwa 800.000 Einwohner aufnehmen wird: Lingang New City. Der Struktur mit dem kreisrunden See in der Mitte liegt die Idee eines Wassertropfens zugrunde, der nach dem Auftreffen auf die Wasseroberfläche konzentrische Ringe erzeugt.

Der Rundgang schließt auf der Empore des Museums mit dem aktuellen Richtungsstreit zwischen »Box« und »Blob«, der durch die Plastiken von Arp, Moore und Giacometti eine eigene Dimension erhält und den grundsätzlichen Dualismus zwischen Geometrik und Organik aufgreift: Die Begegnung des computergenerierten, weichen, dynamischen »Embryological House« (1999–2001) von Greg Lynn mit der Reinterpretation von Jean Nouvels »Monolithen der Expo.02« in Form einer Installation, welche die Idee der »Box« und ihre Abgeschlossenheit ins Hieratische monumentalisiert. Dessen inszeniertes virtuelles Inneres greift die brisante Kombination von realem und virtuellem Raum auf. Schließlich wirft die Installation mit Arbeiten von Lynn, dem führenden Vertreter der jungen Blobmeister-Architektur, die aktuelle Frage auf, ob Blobmeister die alte Beziehung von Architektur und Skulptur auf eine neue Ebene bringen oder gar eine neue Ära der skulpturalen Architektur eröffnen. Nachdem die Skulptur von der Architektur den Aspekt der Funktionalität übernommen hat, liegt das Zukunftspotenzial der Bildhauerei im Spannungsgebiet zwischen Virtualisierung und Plastizität, High Tech und High Touch.

Die Ausstellung ArchiSkulptur findet ihre Fortsetzung im Stadtraum Wolfsburgs: Die aufsehenerregende , 9 Meter hohe, rund 12 Tonnen schwere ArchiSkulptur Jinhua Structure II – Vertical von Herzog & De Meuron wurde speziell für die Ausstellung im Park der Fondation Beyeler als Auftragsarbeit realisiert. Ihre Form verdankt die Skulptur der mathematischen Logik des Computers, der ein einfaches Flächenmuster in ein verschachteltes Raummuster übersetzte. Ein der chinesischen Ästhetik nachempfundenes Flächenornament wurde um einen Kubus gewickelt, bestimmte Mustereinheiten ausgezeichnet und die kristallinen Formen ins Innere des Blocks eingesenkt. Treppen, Rampen und Nischen machen das „digitale Wesen“ (Herzog & de Meuron) für Menschen besteig- und „benutzbar. Die Archiskulptur ist Teil einer Projektserie, die Herzog & de Meuron für einen Architekturpark in der chinesischen Stadt Jinhua, nahe Shanghai konzipieren. Jinhua Structure II – Vertical integriert sich in Wolfsburg in die Fußgängerzone als Wegweiser zwischen Bahnhof, Phaeno und Kunstmuseum. Die Aufstellung wird im Laufe des Monats April erfolgen.

Der Katalog ist in deutscher und englischer Sprache bei Hatje Cantz, Ostfildern, erschienen. Er enthält unter anderem Beiträge von Friedrich Teja Bach, Markus Brüderlin, Werner Hofmann, Philip Ursprung und Viola Weigel. In einem virtuellen Roundtable kommen profilierte Fachleute aus beiden Gebieten zu Wort (darunter Aaron Betsky, Bazon Brock, Hans Hollein, Stanislaus von Moos). Es handelt sich um die erste Publikation, die Architektur und Skulptur in einem ausführlichen Abbildungsteil einander gegenüberstellt. 224 Seiten mit 370 Abbildungen, davon 220 farbig.

Diese Ausstellung wurde vom Kunstmuseum Wolfsburg in Zusammenarbeit mit der Fondation Beyeler realisiert und vom Guggenheim Museum Bilbao koproduziert.

Pressetext

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ArchiSkulptur / ArchiSculpture
Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute
Kurator: Markus Brüderlin

mit Etienne-Louis Boullée, Auguste Rodin– Wladimir Tatlin– Rudolf Steiner, Erich Mendelsohn, Giorgio De Chirico, Wilhelm Lehmbruck, Ludwig Mies van der Rohe, Frank Lloyd Wright, Le Corbusier, Friedrich Kiesler, Henry Moore, Alberto Giacometti, Eduardo Chillida, Max Bill, Donald Judd, Arata Isozaki, Constant , Frank O. Gehry, Jean Nouvel, Herzog & de Meuron, Dan Graham, Thomas Schütte, Tony Cragg, Zaha Hadid, Gerhard Merz, Greg Lynn ...