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Wurde in der ersten Ausgabe der Ausstellungsserie "Archaeologien der Zukunft" mit Marco Poloni eine methodische Verwandtschaft zur Archäologie gezeigt, wird der Fokus im zweiten Teil auf historisches Material und die künstlerische Auseinandersetzung mit diesem gelegt.

"Historisches Material" wird bei den präsentierten Arbeiten von Pep Agut (E), Eric Baudelaire (F), Matthew Buckingham (USA), Marianna Christofides (CY), Simon Fujiwara (GB), Vittorio Santoro (CH) und Shira Wachsmann (IL) unterschiedlich gefasst. So kann es sich um Relikte der eigenen Biografie oder um Belege sozialpolitischer Vergangenheit handeln, aber auch um Zeugnisse eines kollektiven Fundus an Bildern und Narrationen – eines Fundus, wie ihn Märchen und Mythen, alte und neuen Medien darstellen.

In den gezeigten Arbeiten wird eine Konstruktion von Historie – jede Form von gewesener Realität – zur Grundlage und zum Werkstoff. Dieser Stoff wird von den Künstlern angeeignet, reinszeniert, uminterpretiert, transportiert und übersetzt. Die Arbeiten eint, dass sie zwei diametrale Blickrichtungen in sich verknüpfen. Zum einen den Blick in die Vergangenheit – als Suche, Spurenlesen oder als Spekulation. Zum anderen richtet sich der Blick produktiv in die Zukunft. Aus dem zusammengetragenen Material wird eine Übersetzung in ein Werk gewagt, aus der Historie wird eine materialisierte Annahme konstruiert.

Pep Agut wischt in seiner Videoarbeit "Personal Memory" (2012) nackt in langsamen Bewegungen seinen Atelierboden, der die Spuren seiner malerischen Vergangenheit trägt. Wörter, die dem Körper zugehörig sind, erscheinen dazu eingeblendet. Agut bringt seine eigene Geschichte, deren Spuren er auszulöschen versucht, mit der physischen Qualität eines Körpers in Verbindung, über dessen Formen er gleitet. Er dekonstruiert gleichsam das Medium der Malerei, die eigene Biografie und hinterfragt den Status des Künstlers.

Auch in Eric Baudelaires Videoarbeit "The Makes" (2010) geht es um mehrfache Konstruktionen. Mit dem Mittel der faktographischen Praktik vollzieht er einen Balanceakt auf der Grenze zwischen Realität und Fiktion. Das Video ist im Format eines DVD-Bonusmaterials gestaltet. Zu sehen ist ein inszeniertes Interview mit Philippe Azoury, einem Spezialisten des Italienischen Films und Michelangelo Antonionis Werk. Das Gespräch handelt von einem angeblichen Remake eines Films von Antonioni, den er in den 1960er Jahren in Japan geplant hatte. Dieser wurde niemals realisiert, aber in seinem 1983 erschienen Buch "That Bowling Alley on the Tiber" diskutiert, das seine nicht realisierten Filmprojekte erfasst. Baudelaire stellt einen fiktiven Film zusammen, in welchem er die Beziehung zwischen Bildern und Ereignissen, Dokumenten und Erzählungen in ihrem historischen wie hypothetischen Potenzial erfasst.

In Matthew Buckinghams Film- und Soundinstallation "1720" (2009) ist dieses Datum in schwarzer Caslon-Schrift auf ein weißes Bord projiziert, während gleichzeitig Johann Sebastian Bachs Sonate in G-Dur zu hören ist. Der Künstler referiert auf historische Ereignisse des Jahres 1720, in welchem der Engländer William Caslon die nach ihm benannte Typo erfand, die in Großbritannien das Buchdesign modernisierte. Bach hatte vermutlich im gleichen Jahr seine Sonate für Prinz Leopold von Anhalt-Köthen verfasst. Die Dauer des Flötenstücks von 2:30 min. korreliert mit der Länge der sechzehn Millimeter-Projektion. Der Film wird zum Schnittpunkt zwischen Klang und visuellem Artefakt, die zwar eine gemeinsame historische Entstehungszeit teilen, deren geschichtliche Verknüpfung allerdings willkürlich ist.

Auch in Marianna Christofides‘ Triptychon "Sequence" (2011) geht es um ein nie realisiertes Filmprojekt. In einer Abfolge sind historische Postkarten aus dem Yoshiwara-Prostituiertenviertel in Tokio aus dem Zeitraum von 1890-1923 zusammengestellt. Zu sehen sind Aufnahmen von Frauen hinter Gittern, die als Postkarten produziert wurden. Sie zeigen einen Ablauf als Film-Sequenz. Der Gebrauch von kinematographischen Begriffen aus der Filmmontage, die unter den Bildern eingefräst sind, koppelt verschiedene Aufnahmen aneinander und erzeugt so die Illusion einer verdichteten narrativen Erzählung in einem Film-Schnittverfahren, das zur Entstehungszeit der Postkarten noch nicht existierte.

In der dreiteiligen Fotoarbeit "Studio Pietà" (2013) entwickelt Simon Fujiwara eine kathartische Strategie, um seine verwirrenden Gefühle, die in Zusammenhang mit der Erinnerung eines Familienfotos stehen, neu zu formulieren. Ausgehend von dem Versuch, das erinnerte Bild seiner Mutter in den Armen ihres jungen libanesischen Liebhabers zu rekonstruieren, wird Fujiwara zum Regisseur dieser Szene, die er mit Schauspielern nachstellt. Angelehnt an die religiöse Bildformel der Pietà, bearbeitet und überschreibt er konventionelle gesellschaftliche Konstruktionen und ihre Grenzbereiche.

Biografisches Fundmaterial greift auch der italienisch stämmige Künstler Vittorio Santoro in seiner installativen Arbeit "Une certaine idée de l'histoire de mon père I-IV" (2013) auf. Zwei Fensterrahmen, eine elektronische Anzeigentafel und ein Leinensack nehmen Bezug auf die Geschichte seiner Familie in Sizilien, bevor seine Eltern in den Sechzigerjahren in die Schweiz emigrierten. Ausgehend von diesen Relikten konstruiert Santoro durch deren Kontextverschiebung einen fiktionalen historischen Raum, in welchem er diese persönlichen Bezüge zu allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Fragen nach Isolation und Integration, Schutz und Verletzbarkeit formt.

Die junge israelische Künstlerin Shira Wachsmann zeigt in ihrem Video, wie sie die Spuren ihrer ortsspezifischen Arbeit "zerstört" (2013), die sie aus dem Fußboden eines Ausstellungsraumes herausgemeißelt hat, wieder verschwinden lassen möchte. Man sieht, wie sie wieder und wieder vergeblich Zement in die Leerstellen der Oberfläche reibt. Welche tragisch politische Dimension diese Arbeit hat, wird deutlich, wenn man weiß, dass die Arbeit auf Kartenmaterial des britischen Mandats von 1922 - 1948 verweist, in denen die eliminierten palästinensischen Dorfnamen mit dem hebräischen Wort für „zerstört“ untertitelt waren.

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Archäologien der Zukunft 2

Künstler:
Pep Agut, Eric Baudelaire, Matthew Buckingham, Marianna Christofides, Simon Fujiwara, Vittorio Santoro, Shira Wachsmann

Kuratoren:
Heike Fuhlbrügge, Nina Koidl