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Im Laufe der letzten dreissig Jahre hat die belgische Künstlerin Anne-Mie van Kerckhoven ein ambitioniertes Projekt verfolgt, das mit den Mitteln der Zeichnung, des Films und der Musik die Verbindung zwischen Sexualität, Technologie und Formen der Repräsentation untersucht. Besser bekannt als eine der Pionierinnen der cyber-feministischen Bewegung wurde ihr umfangreiches Schaffen von den 1970er Jahren bis heute nur gerade punktuell einer Öffentlichkeit präsentiert. Die Ausstellung im Kunstmuseum Luzern, die in enger Zusammenarbeit mit dem Wiels Center for Contemporary Art in Brüssel und der Künstlerin konzipiert wurde, schliesst diese Lücke. Rund 120 Zeichnungen von 1974 bis heute werden durch eine repräsentative Auswahl von Filmen und Videos ergänzt werden.

Anne-Mie van Kerckhoven, 1951 in Antwerpen geboren, wo sie heute noch lebt und arbeitet, ist für ihr interdisziplinäres Schaffen bekannt. Sie hat seit den frühen 1980er Jahren computerbasierte Arbeiten mit Zeichnungen, Texten, Musik und Filmen zu multimedialen Installationen und Ausstellungsdisplays zusammengefügt. Ihr Hauptinteresse gilt der Beziehung zwischen den Künsten, der Wissenschaft und der Politik. Ihre Arbeit verbindet verschiedene Wissenssysteme, untersucht das Unbewusste und wirft aus explizit weiblicher Sicht einen Blick auf die Moral und das Obszöne. Sie kann im Kontext der jüngeren Generation von Multimediakünstlerinnen gesehen werden, deren Installationen Räume und Bildwelten der technologisierten Welt eröffnet haben.

Van Kerckhovens einzigartige ästhetische Sprache ist geprägt von einer Heterogenität, die sich aus einer Faszination für wissenschaftlich-technologische Systeme und Terminologien, philosophische Konzepte, der Alchemie, der avant-gardistischen Praxis und aus autobiografischen Momenten speist. Die Künstlerin war ein prominentes Mitglied der belgischen Underground-Szene der 1970er und 1980er Jahre, die mittels ihrer antikulturellen Haltung Normen und Konventionen sexueller Repräsentation befragte. Durch ihre Musikperformances, Fanzines, Events in alternativen Räumen und ihr Engagement in Künstlerinitiativen gilt sie als Schlüsselfigur im Prozess der Auflösung stereotyper und unterdrückter Auffassungen von Macht, Sexualität und Begehren. Die Kunstkritik hat in den letzten Dekaden deswegen auch dahin tendiert, ihr Werk im Kontext der cyberfeministischen Bewegung und der digitalen Kunst zu positionieren, was ihre tagebuchartigen Zeichnungen auf den ersten Blick sekundär oder gar konträr zur glatten Oberfläche der digitalen Technologie erscheinen lässt.

Der Blick auf das zeichnerische Oeuvre der letzten dreissig Jahre lässt jedoch erkennen, dass dieses Medium der wahre Dynamisierungskatalysator und die Basis für die Entwicklung ihrer Ideen ist. Aus den Zeichnungen resultieren die umfangreichen thematischen Projekte und Ausstellungsdisplays, wie das von 1995-2004 verfolgte HeadNurse Project. Im Gegensatz zu anderen Künstlern ihrer Generation sind die Zeichnungen keine Entwürfe oder Studien für grössere Projekte, sondern ein autonomes Medium, mit dem sie latente psychologische Räume zu erfassen sucht. Und anders als die feministischen Pionierinnen der 1960er und 1970er Jahre adressiert van Kerckhoven selten eine ästhetische Sprache, die mit dem Femininen in Verbindung gebracht wird. Ihr Werk ist eher in eine „gegenkulturelle“, kritische Praxis eingebettet. Schon ihre Anfänge weisen Elemente des Schocks und der Anti-Ästhetik auf, wie dies im Film The 39 Steps vs. the 19 Keys (1983) augenscheinlich zu Tage tritt. Im Bereich der Zeichnung lassen sich jedoch auch gerade gegenteilige Auffassungen erkennen, die verlangen, das Bild auch anders zu lesen. Einige Serien erinnern dabei an das zeichnerische Schaffen von Eva Hesse und Louise Bourgeois, ohne dass das Werk van Kerckhovens in die Genealogie dieser bedeutenden Künstlerinnen eingegliedert werden muss. Die Zeichnungen entstehen in einer tagebuchartigen, täglichen Praxis als ein Ausfluss unbewusster Gedankengänge. In einem jüngsten Interview erläutert die Künstlerin: „Ich fühle mich, wie wenn ich angeschaltet bin (turned on). Wenn ich an diesem Zeitpunkt zu zeichnen beginne, erscheinen alle möglichen Dinge aus meiner Hand heraus, nicht aus meinem Kopf. (...) Der Geist ist nicht da. Ich befreie den Geist nicht, er ist einfach nicht da. Das Ego ist auch komplett abwesend.“ Die Ausstellung untersucht die internen Beziehungen der künstlerischen Praxis van Kerckhovens einerseits zum Surrealismus und der „écriture automatique“, andererseits zur Ästhetik von Comics und der Populärkultur.

Neben der Beziehung zur automatistischen Methode als Mittel, die Tiefen der persönlichen Psyche zu untersuchen, verweisen die in den Zeichnungen wiederholt aufscheinenden Textfragmente auf ein breites Spektrum von Referenzen, die in Form eines „Mindmaps“ ausgesprochen fragmentarischen Charakter besitzen. Auch wenn die Künstlerin ihre Referenzen in ihrem schriftlichen Werk „Belgische Schwermut“ (teilweise abgedruckt im Katalog zur Ausstellung) offen darlegt, so erscheint ihr Umgang mit ihnen doch eher aus einer subjektiven Haltung und von persönlichen Interessen geprägt. In diesem Sinne ist es auch schwierig, ihre Werke umfänglich deuten und lesen zu wollen.

Ein weiterer Schwerpunkt der Ausstellung liegt bei den frühen Filmen der Künstlerin. Neben dem Animationsfilm, der das Medium der Zeichnung direkt ins bewegte Bild überführt (Die 4 Äussersten, 1984) hat van Kerckhoven verschiedene Videodokumentationen realisiert, die zum einen ihre Ausstellungen zeigen (Komfort über Alles!, 1980), zum anderen ihr persönliches Umfeld registrieren (The Place is where the mind is, 1982; Hier wohnt mein Haus, 1986). Die Auseinandersetzung mit den technischen Möglichkeiten der digitalen Animation fliesst in den 1980er Jahren sichtbar in ihr Werk ein. In Videos wie Moral Rearmament (1996, U-Matic) erweist sich jedoch auch die Zeichnung bzw. die aus Populärmagazinen stammende Reproduktion als Ausgangsmaterial ihrer Untersuchung von Repräsentationscodes. Die 1983 erstmalig gezeigte Arbeit The 39 Steps vs. the 19 Keys, in der van Kerckhoven die „dämonischen“ Mechanismen von Hitchcocks Filmkunst mit satanistischen Ritualen zu erklären sucht, wird in dieser Ausstellung erstmalig wieder in ihrer installativen Fassung gezeigt werden.

Kuratiert von Susanne Neubauer

Realisiert in Zusammenarbeit mit Wiels Center for Contemporary Art, Brüssel unterstützt vom Flämischen Kulturministerium und Zeno-X Gallery, Antwerpen / Galerie Barbara Thumm, Berlin

Katalog: Zur Ausstellung erscheint ein Katalog: Anne-Mie van Kerckhoven. Nothing More Natural. Mit umfassendem Werkverzeichnis und Texten von Susanne Neubauer, Gertrud Sandqvist, Dirk Snauwaert, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2008, Hardcover, 30 x 24 cm, 192 S., 80 Abb. s/w und 160 Abb. in Farbe, Texte in Deutsch, Englisch, Französisch, Flämisch.