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Vernissage: Freitag, 4. Dezember 2015, 19 Uhr

Ende des 18. Jahrhunderts hatten Industrialisierung, Verstädterung, Kriege und Revolutionen die Gesellschaften Europas zerrieben. Die Ideale der Aufklärung und des wissenschaftlichen Fortschrittes waren durch hegemoniale Bestrebungen in ihr Gegenteil verkehrt. Dieses schicksalhafte Scheitern ließ eine junge Generation von Schriftstellern, Malern und Komponisten nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchen. Doch die Strenge des durch antike Traditionen geprägten Klassizismus bot dieser Generation keinen Platz, so dass aus deren unbändiger Suche eine unabgeschlossene Universalpoesie mit dem Sehnsuchtsort des Weltganzen entstand – stets vor dem Hintergrund der Rückbesinnung auf das Erhabene der Natur, der Erkundung der eigenen Gefühlswelt sowie der unendlichen Seele von Mensch und Tier.

Das Themenfeld der künstlerischen Auseinandersetzung ist dabei vielseitiger, als es die vereinfachte Bedeutung des Wortes „Romantik“ im aktuellen Sprachgebrauch glauben lässt. In der heutigen Konsumgesellschaft wird die Haltung der Romantik oft als eine sentimentale Sehnsucht nach Vollkommenheit missverstanden. Dabei war die künstlerische Suche dieser Epoche durchsetzt von Irrationalität und Dekadenz, Melancholie und Schrecken sowie Neugier und dunklem, teils sexuellem Verlangen. Diese morbid-phantastische Ausprägung des romantischen Gefühls wird unter dem Begriff der „Schwarzen Romantik“, im angelsächsischen Sprachraum auch unter „Gothicism“ oder „American Romanticism“, zusammengefasst und weist ein reiches Repertoire von Motiven auf.

In der Literatur lassen sich Sujets wie die Nacht, der Wald, der Nebel, Ruinen, Doppelgänger, Mischwesen und Albträume, Hysterie und der Tod in zahlreichen Werken finden, etwa in den Klassikern „Die Elixiere des Teufels“ (E. T. A. Hoffmann), „Frankenstein“ (Mary Shelley), „Der Untergang des Hauses Usher“ (Edgar Allan Poe), „Juliette“ (Marquis de Sade) und in der Sammlung von teilweise schaurigen Volksliedern „Des Knaben Wunderhorn“ (Clemens Brentano und Achim von Arnim) oder in den „Kinder- und Hausmärchen“ (Gebrüder Grimm). In der Malerei sind prägende Bildformeln die ins Übernatürliche gesteigerten Landschaften (Ernst Ferdinand Oehme, Arnold Böcklin, Caspar David Friedrich), vielgestaltige Schauerwesen (Francisco de Goya, Johann Heinrich Füssli), subjektiv-mystische Szenerien (William Blake), geschichtliche Dramen (Théodore Géricault, Eugène Delacroix) und sich ins Abstrakte auflösende Naturphänomene (William Turner, John Martin).

Eine Vielzahl dieser prägnanten narrativen und visuellen Motive haben bis heute ihre Faszination bewahrt. Sie sind nicht nur Teil der Popkultur, sondern hinterlassen auch Spuren in der zeitgenössischen Videokunst. Dabei werden die Motive der „Schwarzen Romantik“ nicht identisch in die Gegenwart übertragen, wenngleich unsere globalisierte Welt ähnliche territoriale Instabilitäten und gesellschaftliche Konflikte wie die Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts aufweist. Die Flucht in die Natur oder in Dogmen, der Zweifel am wissenschaftlichen Fortschritt und ein Übermaß an technischen Geräten, die ständig informieren, aber keinen Ausweg anzeigen, scheinen uns vertraut.

Das bewegte Bild unterliegt jedoch eigenen Regeln. Im künstlerischen Zugriff auf Gesellschaft und Geschichte verknüpft es durch komplexe Apparaturen einzelne, potentiell voneinander unabhängige Bilder zu einem singulären, zeitlichen Fluss. Somit entstehen aus dem Wissen um die Vergangenheit und der Reibung mit der Gegenwart eigenständige Positionen, welche alte und neue Sehnsuchtsgeflechte dekonstruieren. Der Ausstellungstitel „Afterimages“ greift diesen diffusen Nachhall der „Schwarzen Romantik“ auf das Medium Video auf.

Diese Vielschichtigkeit der Sujets und Motive soll anhand der Auswahl der Videoarbeiten veranschaulicht werden. Yves Netzhammer etwa transformiert in seinen gesichtslos-suchenden Figurenkonstellationen sowohl bildkompositorische als auch philosophische Ansätze in eine nüchterne, digitale Ästhetik. Tony Oursler vermengt mittels Videoprojektion Größenverhältnisse und Körperzugehörigkeiten, während die exzessiven Plastilincollagen von Nathalie Djurberg der Abgründigkeit von Urformen des Volksmärchens nahe kommen. Julian Rosefeldt wiederum seziert die „innere Suche“ von einem globalisiert-exotisierenden Standpunkt aus und William Lamsons Naturmeditationen lassen alchemistische Qualitäten in heutiger Technologie erkennen.

Somit versammelt die Ausstellung „Afterimages“ ein weites Spektrum an Positionen der internationalen Video- und Filmkunst in der Kunstsammlung Jena. Die Werke werden in den Sammlungskabinetten als 1-Kanal-Projektion beziehungsweise Installation präsentiert. Zur Ausstellung erscheint eine Begleitpublikation mit Abbildungen der Werke und einem thematischen Essay. Dieser kombiniert fragmentarisch die kunstästhetischen Analysen der Kulturwissenschaftlerin Sophia Gräfe mit dem Blick des Kurators und Künstlers Robert Seidel. Die romantische Idee des Unabgeschlossenen als immanent Zukunftsweisendes wird dabei als Textform aufgegriffen.

Kunstsammlung Jena
Die Kunstsammlung der Stadt Jena ist eine verhältnismäßig junge Sammlung und vereint Werke verschiedener Richtungen. Das Profil der Sammlung ist heterogen und von regionalen Besonderheiten ebenso geprägt wie von überregional bedeutsamen Werken. Die neuere Jenaer Kunstgeschichte ist wesentlich von den weitblickenden Aktivitäten des früheren Jenaer Kunstvereins geprägt, der zwischen 1903 und 1933 der thüringischen Universitätsstadt ein Programm bot, welches qualitativ weit über die Region hinausreichte. Die Ausstellungen jener Jahre hatten deutlich und klar ein Programm: Gegenwart. Das war provokant, gescholten und begrüßt gleichermaßen - und führte von einer spannungsvollen Ausstellungspraxis, mit der Jena Geschichte schrieb, zu einer Sammlung, die von Kirchner bis Munch die Wegbereiter der Kunst des 20. Jahrhunderts vereinte.
In enger Kooperation mit zahlreichen internationalen Sammlungen konnten mit Auguste Rodin, Emil Nolde, der Künstlergruppe „Brücke“, August Macke/Cuno Amiet, Impressionisten & Neoimpressionisten und Wassily Kandinsky Ausstellungen gezeigt werden, die monografisch oder thematisch wichtige Aspekte der Klassischen Moderne aufgegriffen haben. In der Gegenwartskunst, unserem wichtigsten Arbeitsgebiet, waren neben Joel-Peter Witkin (USA), Per Kirkeby (DK), Sally Mann (USA), Mimmo Jodice (I), Louise Bourgeois (F/USA) oder Bjørn Melhus (D) auch zahlreiche, oft hervorragende, junge und noch weniger bekannte Künstler zu Gast.