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Verbunden durch das gemeinsame Kunststudium und besonders durch intensive Aufenthalte in der Schweiz als Schraubenreiniger thematisieren Adrien Tirtiaux und Hannes Zebedin in der Kunst Halle Sankt Gallen nun ihre künstlerische Zusammenarbeit sowohl auf räumlicher als auch auf inhaltlicher und formaler Ebene. Die dialogische Arbeitsweise der Beiden bildet den roten Faden des Projektes, in dem Tirtiaux‘ tiefgründiger Umgang mit Räumen und Zebedins feinsinnige Kontext- und Systemanalysen aufeinander treffen.

Die pointierten Installationen und Videoarbeiten von Zebedin erzeugen eine subtile Narration über historische Ereignisse und Themen wie Globalisierung und Migration. So zum Beispiel die Arbeit Eine Linie Jerichorosen (Wasser und Steine): In der Mitte der ursprünglich aus Jericho und Nordmexiko stammenden Pflanzen platzierte Zebedin jeweils einen Stein und nahm ihnen somit die besondere Eigenschaft, sich vom Wind getragen frei zu bewegen. Mit mehr als 400 derart beschwerten Jerichorosen zog der Künstler anschliessend eine symbolische Grenze durch die Räume der Kunst Halle. Die Arbeit, die sich formell an die Strenge der Konzeptkunst der 60er und 70er Jahre anlehnt, in der Auswahl der Materialien aber auch an die Arte Povera erinnert, wirft unauffällig Fragen zur aktuellen Migrationspolitik der Industrieländer und der Rolle nationaler Grenzen auf.

Parallel erzählen Tirtiaux’ Arbeiten eine Geschichte des modernen und postmodernen architektonischen Erbes unserer Gesellschaft. Im Atelier des Architekten – einer vom Künstler erschaffenen Figur - sind einige utopische Projekte und zum Scheitern verurteilte Pläne präsentiert. Auch der neuste Versuch des "Architekten" - ein Modell der Welt im Massstab 1:5000 zu erschaffen – ist in der Ausstellung zu sehen. Die exorbitanten Dimensionen der geplanten "Miniatur" können aber nur erahnt werden, denn in den Räumen der Kunst Halle schweben lediglich die drei höchsten Bergspitzen. Für «Immer noch und noch nicht» hat Tirtiaux ausserdem eine Reihe räumlicher Eingriffe vorgenommen, die eine veränderte Wahrnehmung des Ausstellungsraums ermöglichen und eine dialektische Situation zwischen den beiden künstlerischen Positionen auslösen.

Die in den utopischen Projekten des "Architekten" sowie auch im Titel der Ausstellung mitschwingende Hoffnung und das gleichzeitige Bewusstsein von Aussichtslosigkeit sind ebenso bezeichnend für Charleroi, einen für die Zusammenarbeit der Künstler zentralen Ort. Tirtiaux und Zebedin bietet die Stadt einen komprimierten Überblick über die Entwicklung der Moderne in Europa und die damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Probleme. Bis in die 60er Jahre für ihre rasante Industrieentwicklung gefeiert, weist sie heute eine der höchsten Arbeitslosen- und Kriminalitätsraten Belgiens auf. Verschiedene sich auf Charleroi beziehende Arbeiten sind in der Kunst Halle zu sehen: Dem Absturz einer Aktienkurve ähnlich versinnbildlicht zum Beispiel Zebedins Readymade eines durchbrochenen Liegestuhls mit dem Titel Träumerei von der Hoffnung auf Aufschwung den plötzlichen Verfall der Stadt.

Auch im Video Dialog werden Hoffnungen enttäuscht: die Begegnung zwischen einem im Dunkeln Schreitenden und den am Horizont erscheinenden Lichtern eines herannahenden Autos ist nur eine flüchtige. Das Fahrzeug hält nicht an und der Betrachter sieht die Rückleuchten schliesslich verschwinden, um erneut in kompletter Dunkelheit zurückzubleiben. Zebedins Videoarbeit ist nicht nur inhaltlich zentral, sondern bildet auch den räumlichen Mittelpunkt der Ausstellung, an dem Besucherinnen und Besucher in einen ungewöhnlichen Dialog miteinander treten können.

«Immer noch und noch nicht» erzählt aber nicht nur die Geschichte einer Begegnung und eines Gesprächs zwischen Tirtiaux und Zebedin, sondern eröffnet auch einen zweiten Parcours, welcher vom persönlichen Raum zur gesellschaftlichen Rolle des Künstlers führt: Während ein reflexives Selbstportrait von Zebedin in Form eines Videos und Tirtiaux’ Architektenatelier den Einstieg bilden, verdichtet sich der Dialog im letzten Raum in dem Versuch, Funktionen künstlerischen Schaffens in der gesellschaftlichen Gegenwart und innerhalb des Kunstsystems zu thematisieren. Zwei Prismen-Werbetafeln im Innenhof der Kunst Halle bringen diese verschiedenen Perspektiven zusammen: Im Wechselspiel dienen die riesigen Tafeln von Trivision als Erweiterung des Ausstellungsraumes, als Begrenzung des White Cube und als "illusorisches" Fenster zur Aussenwelt.

«Immer noch und noch nicht» wird kuratiert von Maren Brauner und Irene Grillo.

Zu den Künstlern:

Adrien Tirtiaux (1980, Brüssel, lebt und arbeitet in Antwerpen) studierte nach Erhalt seines Diploms als Bauingenieur und Architekt in Belgien Performative Kunst und Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste Wien. Neben Einzelausstellungen u.a. in der Galerie Martin Janda, Wien (2010), der Stadtgalerie Bern (2009) und dem Demonstrationsraum, Wien (2008) nahm er an diversen Gruppenausstellungen teil (Auswahl): Ernst Museum, Budapest; Secession, Wien; City Museum, Belgrad; L’Amicale, Brüssel; Neuer Sächsischer Kunstverein, Dresden (2010); Meet Factory, Prag; Herring factory Djupavik/Sign, Groningen; MAK, Wien; OK Offenes Kulturhaus, Linz (2009). www.adrientirtiaux.eu

Hannes Zebedin (1976, Lienz, lebt und arbeitet in Wien) studierte Volkswirtschaft und Politikwissenschaft an der Universität Wien sowie im Anschluss Performative Kunst und Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste Wien. Einzelausstellungen des Künstlers fanden u.a. in folgenden Galerien und Institutionen statt: Galerie Amer Abbas, Wien; OKC Abrasevic, Mostar (BiH); El Changarritto, Mexico City (2010); Secession, Wien (2009). Des Weiteren realisierte er Interventionen im öffentlichen Raum – u.a. in Tromsö (Norwegen), Wien und Belgrad – und war an diversen Gruppenausstellungen beteiligt, darunter im White Space Zürich; Digital Art Lab, Holun (Israel); Kunsthalle Exnergasse, Wien (2011); BKS Garage, Kopenhagen; Kulturforum Bozen; L‘Amicale, Brüssel (2010); Museum der Moderne, Salzburg (2009).

In den letzten Jahren haben Tirtiaux und Zebedin verschiedene Projekte gemeinsam realisiert: Für die Intervention «Ein Sonntag im Museum: Einblicke in die Sammlung Weiser» propagierten sie 2008 die stillgelegte, zur Demontage freigegebene Fleischfabrik Weiser am Wiener Stadtrand als Gesamt-Readymade. In Belgien organisieren sie seit bald einem Jahr das Forschungsprojekt und Residence-Programm «Hotel Charleroi». http://hotelcharleroi.com.

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Adrien Tirtiaux und Hannes Zebedin
«Immer noch und noch nicht»
Kuratoren: Maren Brauner, Irene Grillo