Ein Beitrag zu einer Ausstellung 'Guy de Cointet' in Quimper
von J. Emil Sennewald
, Kunstkritiker, Paris

Er gehört zu den Wiederentdeckungen der letzten Jahre, die viele Impulse für die aktuelle Kunstproduktion bereithalten, Bice Curiger stellt ihn ganz vorn unter den wichtigen Positionen ihrer Venedig-Biennale mit vor, in Frankreich taucht er in Gruppenausstellungen und Retrospektiven vermehrt auf: Guy de Cointet. Bis zu seiner kunsthistorischen Freilegung durch Marie de Brugerolle ("Who's that guy?" nannte sie ihren Vortrag im Brüsseler Wiels am 25.Mai 2009) war er unter der Westküsten-Kunst Amerikas verschüttet. Jetzt kann man ihn als Text-Künstler im bretonischen Kunstzentrum Le Quartier in Quimper und auch im Centre national de l’édition et de l’art imprimé (Cneai) bei Paris in der von Christophe Lemaitre kuratierten Ausstellung "Super#14: A L C" (bis 9.4.2011) entdecken.

Vom Eindruck zum Code

Guy de Cointet gehört zu den ersten Künstlern, die den Wandel des Visuellen vom Eindruck zum Code bearbeitet haben: Code im Sinne einer Reduzierung auf eine Grundform, deren Wiederholung und Neukonstellation das in ihr Aufgehobene in neuen Dispositiven zu reproduzieren vermag, wie der binäre Code aus Nullen und Einsen Bilder in Pixel auflöst und so in allen digitalen Medien reproduzierbar macht. De Cointet fand mit dieser Kondensation eine Eigenheit des Zeichens und einen Ausweg aus den Verwicklungen von Sinn und Bedeutung, der gerade heute auch durch zahlreiche Ausstellungen in Frankreich wieder angeboten wird: das Performative.

Performative Zeichen  

Dass ihm an der darstellerischen Kraft des Zeichens gelegen war, versteht der Besucher gleich, wenn er den ersten Saal in Le Quartier betritt: spiegelschriftlich geschriebene Zahlen stehen da gestürzt in Kolonnen auf dem Papier, schön, mit typografisch sicherer Hand gezeichnet. Durchs Entziffern ganz von ihrer Form gefangen, richtet sich das Augenmerk erst nach Lektüre des handschriftlich darunter notierten Titels auch auf deren Bedeutung: world war one steht da. Und auf dem Blatt daneben: world war two.(siehe Abb.01) Das Drama, der Schrecken, die Geschichte – alles ist eingefangen in dem einen, dichten Moment der Entzifferung von Zahlenkolonnen, der Umwandlung von gezeichneten Formen in codierten Sinn, chiffrierte Bedeutung.

Diese Urszene wird de Cointet nicht loslassen, er wird sich ihr ganz verschreiben. Mal spielerisch, mal ernst, immer mit viel ironischer Brechung, verhandelt er bis zu seinem frühen Tod mit 61 Jahren 1995 in New York die Untiefen der schriftlichen Form. Mit kalligrafischer Zeichnung und geometrisch abstrakten Formen arbeitet er in den Zwischenräumen von Bild, Literatur und Gestaltwerdung. Eine leidenschaftliche, eine verzweifelte Arbeit manchmal, die über große Zeiträume immer wieder auf ihre Grundfrage zurückkommt: wann wird das Sehen zu Sinn? Und: wie kann es den Regimen der Bedeutung entkommen?

Virus Sprache

Es ist frappierend – und der ausgezeichneten Hängung dieser Ausstellung zu verdanken – wie aktuell die Arbeiten wirken. Wenn de Cointet beispielsweise, begeistert von amüsanten Mathematik-Spielen, 1971 zwei Zahlenreihen subtrahiert und so zu einem Ergebnis aus Einsen und Nullen gelangt, wirkt das wie eine frühe Reflexion auf die Wandlung der polysemischen Vielfalt in die polare Einfalt des digitalen Codes. Auch seine anderen Arbeiten, teils Dekonstruktionen von Typografie wie Wind (1976, siehe Abb.02), teils zeichnerische Codierungen von Gefühlsinhalten wie die roten gezackten Formen von It's like seeing with the eyes of a lion (1982, siehe Abb.03), lesen sich heute wie frühe Verarbeitungen der Digitalisierung, der Übertragung von Inhalten in durch einfachen Code reproduzierbare Form.

It was incredible von 1978 (siehe Abb.04), ein Raster aus roten und schwarzen Balken, ist förmlich eine Übersetzung des expressiven Titels in eine abstrakte Form, die wirkt, als würde sie dessen Inhalt tatsächlich aufführen. "Language is a virus" sang Laurie Anderson 1984 und Guy de Cointet zeigt, wie sich dieser Virus, ein halb lebendes halb artifizielles Wesen, fortpflanzt, wie er sich einnistet und alle Formen des Sehens infiziert.

Auf dem Weg zum iconic turn

Warum ist das heute so aktuell? Weil wir uns, nicht nur durch universitäres Dekret, in der Zeit des "iconic turn" befinden. Was der Nouveau Roman für den linguistic turn geleistet hat, die Überführung der Ordnungssysteme der Sprache in eine in der Schrift selbst aufgeführte Sinnlichkeit, bietet de Cointet für den iconic turn an. Damit ist er nicht allein, im kunsthistorischen Feld, aber einsam, an Amerikas Westküste. Kees Visser zeichnet etwa zur gleichen Zeit im fernen Island seine Buchstabenbilder, zerschneidet Bücher, um sie als Geflechte aus Wortfetzen und Bildfragmenten neu zu verflechten. Statt sich unter einer vermeintlich alles verschlingenden Welle von Bildern weg zu ducken, surft auch Guy de Cointet auf deren Spitzen und erkennt, dass jedes Bild in sich Schrift, Sprache enthält. Und dass beide ineinander verschlungen sind, wie Arabesken oder Ornamente, bis zur Unkenntlichkeit. Immer wieder widmet er sich dem spiegelschriftlichen Malen von Text, eingebettet in geometrische Muster, platziert im Raum des Papiers wie in einer Wüste. Und immer mehr, mit jedem neuen Saal und damit auch mit jedem neuen Zeitabschnitt im Schaffen de Cointets, wird deutlich, wie sehr der Sinn von diesem weißen Raum abhängt.

Das wissen wir schon seit Mallarmé, doch de Cointet geht noch einen Schritt weiter und gestaltet, statt in der Schrift allein zu bleiben, auch die bildlich-architektonische Seite der Schrift und ihrer Umgebung. Indem Frédéric Paul, Kurator der Ausstellung, diese Zeichnungen, die er als einer der ersten aus dem bisher noch wenig ausgewerteten Nachlass hat entleihen können, zusammen mit in feinen Vitrinen aufgereihten Dokumenten zeigte, wurde in Quimper auch der Kontext der künstlerischen Arbeit von de Cointet nachvollziehbar.

Dokumente und Darstellung

Da gibt es Notizbücher mit mehr oder weniger banalen Landschaftszeichungen, mit mathematischen Zahlenspielen, mit Notizen. Und es gibt Fotos, die einen schmalen, zurückgezogenen Mann zeigen, einen, der später in einem Video seine Schwitteresken Texte des "Dr. Hun" vorlesen wird, einer, der offenbar von vielen geliebt wurde, doch die Vielen mied. Und im Gang durch die Ausstellung, vorbei an den roten Buchstabenkolonnen von CIZEGEHOH TUR NDJMB (1973), vorbei auch an architektonischen Geometrien, gefüllt mit Botschaften, die suggerieren, sie mit ihrem Urheber zu identifizieren "I can't live here anymore" (1982), hört man immer wieder die Wortfetzen seiner Theaterstücke, auf verschiedenen Bildschirmen als Videos gezeigt.

Es scheint, nach den ersten Sälen schon, fast unausweichlich, dass de Cointet zum Theater, zur Szene des Körpers und seiner Gesten findet. Denn dort, im Gelächter eines Publikums, das die verzweifelten oder läppischen Versuche der immer schönen Schauspielerinnen, ein abstraktes Gemälde zu erklären, belacht, entfaltet sich das Drama der Schrift als visuelle Form.

Im Drama der Schrift De Cointet hat es gesehen, er hat ihm Bilder gemalt, Bühnendekorationen gebaut, die auch aus dem Cabaret Voltaire stammen könnten. Schrift ist eine bildliche Form und diese Bilder sprechen eine eigene Sprache. Diese Eigensprache des Bildes, man könnte sie den ikonischen Sinn nennen, drückt jede Bildbetrachtung weg, die Bedeutung sucht. Anders gesagt: jedes Bild, das wir mit Bedeutung füllen, wird von Sinn entleert, wir setzen Bedeutung, und lassen damit Teile des Bildes verstummen. De Cointet bringt sie wieder zum Sprechen. Und zum Handeln. Er erreichte mit dem Schauspiel seiner Stücke, mit dem Agieren seiner Darstellerinnen, was er zuvor nur gestisch in den Schwüngen und Konstellationen seiner Schriftbilder vermitteln konnte.

Zeichen, Handlung

Hier liegt die Aktualität des Werks von de Cointet, die es zu entdecken gilt: es entfaltet die Kapazität des performativen Körpers, genau das wieder in Handlung zu übersetzen, was zuvor durch Abstraktion reduziert wurde. Erzeugt die Verdichtung von Eindrücken und schriftbildlichen Effekten zum Code einen Überschuss an Sinn, der freilich aus dem abstrakten Schrift-Bild ferngehalten wird, so macht die Handlung von de Cointets Schauspielern wieder sichtbar und, was noch wichtiger ist, überführt wieder in Handlung, was auf dem Papier keinen Platz mehr hat.

Wieder-Handlung

In diesem Sinn eines "re-enactment" der Schrift wird im Folgenden der von Westküstenkunst-Spezialist Frédéric Paul zur Ausstellung im eigens publizierten "Journal" von Le Quartier verfasste Text erstmals ins Deutsche übersetzt, inszeniert als – fiktives – Interview:

J. Emil Sennewald: Wer war Guy de Cointet?

Frédéric Paul: Guy de Cointet kam 1934 in Paris zur Welt, emigrierte nach New York 1965. Nachdem er einige Zeit in Warhols factory ein- und ausging, wurde er Assistent des minimalistischen Bildhauers Larry Bell...

JES: ...dem zufällig noch bis 25. Mai eine Retrospektive in Le Carré in Nîmes gewidmet wird...

FP: ...und der ihn 1966 mit nach Los Angeles nimmt. In diesem Zusammenhang entfalten sich seine Performances, für die er, zusammen mit informierten Schauspielern, eigene Texte, Parodien, Textfragmente aus verschiedenen Quellen so komponiert, dass sie auf Bühnen-Objekte reagieren: merkwürdige Stillleben, Surrogate von Büchern, Skulpturen oder abstrakten Gemälden. Man kann nicht umhin, in diesen Bestandteilen seiner szenischen Performances, die zwischen Spielzeug und logischen Blöcken, zwischen banaler Unterhaltung und wissenschaftlichem Experiment changieren, eine Parodie auf die minimalistische Kunstproduktion zu sehen, die zu dieser Zeit in New York Triumphe feierte und alles andere verdrängte! Minimalismus verlangt Stille, Raum und eine gewisse, ihrer phänomenologischen Absicht eigene Konzentration. Dem entgegen stehen Zerstreuung und Getöse, quasi der Naturzustand Kaliforniens, der sich auch auf die dort entwickelten Formen überträgt. Und sollten auch die "Genrebilder", die de Cointet für seine Performances produziert, irgendwie metaphysisch wirken, so sind es die Schauspieler, die durch Übertreibung und Über-Interpretation dieser abstrakten Formen alle Bestandteile des Fiktiven in sie hinein tragen.

JES: Guy de Cointet wurde erst vor kurzem wieder entdeckt. Wie?

FP: Seine Arbeit ist in Europa 1996 wieder zum Vorschein gekommen, und zwar durch Paul McCarthy. Er war im Centre national d'art contemporain Le Magasin in Grenoble eingeladen und nutzte diese Gelegenheit, um seinen guten Freund aus Los Angeles zusammen mit zwei anderen, zu früh verstorbenen und wenig bekannten Positionen zu zeigen: Bas Jan Ader und Wolfgang Stoerchle. 2004 folgte eine erste Retrospektive im Mamco, Genf. 2007 wird das Regionale Kunstzentrum in Sète mit "Sachen mit Worten machen" sein Werk ausschließlich unter dem Blickwinkel des Theatralen und der Performance darstellen. Auslöserin dieser drei Ausstellungen war Marie de Brugerolle, Kunsthistorikerin und Kunstkritikerin. In Kürze erscheint von ihr eine De Cointet-Monografie bei JP Ringier. Der Schwerpunkt der Ausstellung in Quimper liegt auf der großen Bedeutung des Buches als Bühnen-Accessoire bei de Cointet. Sie konzentriert sich auf seine meist sachlichen und sehr oft wunderlichen Zeichnungen, in denen er als Schreiber und Kolorist trivialen Statements ebenso wie undurchsichtigen Aphorismen eigenartige Streiche spielt, indem er sich in die Dichte des Textes hinein gräbt, ihn auf diesem Wege mit Grabungsmasse umgibt, so dass er meistenteils unleserlich wird, was allerdings alles andere ist, als bloße Fingerübungen eines begabten Kalligrafisten.

JES: Ein weiterer Schwerpunkt der Ausstellung ist die Dokumentation seiner Performances und Theaterstücke, warum?

FP: Es ist ganz klar, dass der Text sich in den Performances und Stücken de Cointets erst vervollkommnet, aber zugleich gibt es bei ihm fast keine einzige Zeichnung ohne Text. Vielleicht weil, befreit von jedem theatralischen Interesse, der Text in den Zeichnungen noch deutlicher in der Vielfalt seiner Quellen erscheint. Hier ein Gedicht von Rimbaud, dort ein Werbeslogan oder eine Notiz aus dem Tagebuch, hier eine persönliche Nachricht, dort ein Gesprächsfetzen, ein Schlaglicht oder ein Fragment aus einem Trivialroman... Der Wirklichkeit fällt es nicht schwer, das Fiktive einzuholen, wenn dieses von jener die einfachsten Umrisse erhält, wie es die folgenden Titel zeigen, bei denen wohlgemerkt ungesagt bleibt, wer spricht und in welcher Situation er sich befindet: "I have seen an insomniac for many years" (Ich habe viele Jahre lang jemanden mit Schlafstörungen getroffen) "My marriage ist turning sour..." (Meine Ehe wird mir bitter...) "She is in wonderful shape!" (Sie ist in bester Verfassung!) "We are now both under the bed" (Wir sind jetzt beide unterm Bett) "Have you anything else to say?" (Haben sie sonst noch etwas zu sagen?)

JES: de Cointet war mit dieser Arbeit an der Schrift und den bildlichen Dimensionen des Literalen zu seiner Zeit nicht allein. Was unterscheidet ihn von anderen Ansätzen?

FP: Man findet diese Vermischung, diese Aufhebung literarischer Hierarchien bei einem anderen Wahl-Kalifornier, dem Amerikaner Allen Ruppersberg. Die beiden Freunde teilten das Interesse an dem Schriftsteller Raymond Roussel, ein Vorläufer des literarischen Surrealismus. Die Aufmerksamkeit für den Text und die durch ihn umrissene Form findet sich bei de Cointet in gleichem Maße wie bei Ruppersberg. Und beide, Stellvertreter der beliebten und oft missbrauchten Kategorie des "artist's artist", verarbeiten das Autobiografische mit derselben Frechheit. Doch während der Amerikaner, als Illustrator ausgebildet, in einem Moment auf realistische Weise die handschriftlichen Briefe von Berühmtheiten kopiert (bevor er echte ebenso wie unfreiwillige Dichtung in Gestalt von Werbe-Blättchen wiederverwerten wird), interessiert sich der Franzose, der zuzeiten sein Grafiker-Talent an die Zeitschrift "Jardin des Modes" verkaufte, auf doppelte Weise für die Verfahrensweisen der Schrift: er schreibt oder wählt aus, dann kodiert er die Texte, die ihn ansprechen. Es reicht nicht immer, bloß einen Spiegel daran zu halten, um sie lesbar zu machen, man muss auch kenntnisreich sein, um seine Botschaften zu entschlüsseln. Im Übrigen bleibt in diesen Fällen völlig unberührt, dass die Zeichnung einfach wundervoll ist, auch wenn sie nichts weiter zum Besten gibt, als Banalitäten zum Hausgebrauch, wie man sie auf der Fußmatte, der Kühlschranktür oder dem Badezimmerspiegel finden könnte. Guy de Cointet hat beschlossen, sie in Marmor zu meißeln, in allen möglichen Formen, und ab 1983 bleibt die Zeit für ihn hier stehen, ausgerechnet für ihn, der doch so viel Arbeit darauf verwandt hat, sie mental ebenso wie manuell aufzuhalten.

JES: Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet ein Kunstzentrum sich de Cointets annimmt, nicht ein großes nationales Museum, nicht wahr?

FP: Es ist unüblich, dass ein Kunstzentrum eine große Monografie für einen bereits verstorbenen Künstler veranstaltet und es ist eigentlich nicht gut, gegen die Regel der lebendigen Zeitgenossenschaft zu verstoßen, aber es gibt mehr und mehr junge Künstler, die sich in der Arbeit de Cointets wieder erkennen, und es kann gar nicht genug hervorgehoben werden, wie aktuell die kalifornische Kunstszene der Siebziger ist, so sehr hat sie die letzten zwei Jahrzehnte europäischen Kunstschaffens beeinflusst.

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Ausstellung 'Guy de Cointet' in Quimper, vom 12.02 bis 27.03.2011