Ein Beitrag von Lothar Frangenberg zur Ausstellung „Der Schatten der Avantgarde“ im Museum Folkwang, Essen (02.10.15 - 10.01.2016)

Schon 1839 verkündete der Maler Paul Delaroche, ein Zeitgenosse von Ingres und Delacroix, angesichts der ersten Daguerreotypien das Ende der Malerei. Den Tod der Malerei hat er zu voreilig prognostiziert. Treffend waren die der Aussage zugrunde liegenden Beobachtungen, dass den Künsten insgesamt richtungsweisende Änderungen bevorstanden. Die sich mit zunehmender Technisierung schnell entwickelnden, neuen Abbildungs- und Vervielfältigungsverfahren ließen die Darstellungsmonopole der Künste schwinden. Die Ausgestaltung des verbindlichen oder repräsentativen Blicks auf die Welt ging auf die neuen Medien über und beeinflusste parallel zu den großen, gesellschaftlichen Umwälzungen die weitere Entwicklung der Künste in ihre „Moderne“ hinein. Sprunghafte Veränderungsschübe, die künstlerischen Avantgarden, waren für die nächsten ca.130 Jahre bis zum Aufkommen postmoderner Tendenzen die Folge. Die künstlerische Umsetzung von Erfahrung wurde entschieden individueller und subjektiver. Nicht nur die Frage nach dem Status künstlerischer Objekte, sondern auch nach der Gültigkeit handwerklicher Mittel und ihres zeitgemäßen Einsatzes wurden ein prägendes Thema. Der Künstler als Avantgardist, der sich ständig neu erfinden musste, geriet in die Rolle des Außenseiters und fand sich oft in gesellschaftlich prekären Lebenslagen wieder. Aber er gefiel sich auch in dieser Rolle. Er arrangierte sich bewusst außerhalb der im traditionellen Kanon verharrenden Akademien und Salons. Das Außenseitertum erwies sich als ein Muster der Selbstkonstitution der Avantgarde. Je mehr verbindliche Schulungen und Haltungen als Ausweis künstlerischer Professionalisierung in den Hintergrund traten, desto ergiebiger wurden für den „Außenseiter Künstler“ die Erfahrungen des scheinbar Peripheren, des Ausgegrenzten oder Exotischen. In diesem Rahmen und Zeitfenster wurden auch die künstlerischen „Außenseiter Außenseiter“, die Naiven oder Amateure, gerade von den Avantgardisten als bedeutsame Erscheinungen wahrgenommen. Ihre Wertschätzung teilen seitdem nicht nur interessierte Experten und Sammler, sondern sie sind längst über viele Ausstellungen und Veröffentlichungen einem breiteren Publikum bekannt geworden.

Die Kuratoren der Essener Ausstellung, Kasper König und Falk Wolf, wollen vor Ort erneut wichtige Protagonisten der „Außenseiter Außenseiter“ innerhalb der künstlerischen Moderne würdigend herausstellen. Als „vergessene Meister“ seien sie wieder einmal zu sehr aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Sie wollen auch belegen, dass die ihrer Ansicht nach ungerechtfertigte Trennung zwischen Avantgarde Künstlern als Trägern der Moderne und naiven Außenseitern als begleitenden Randfiguren nicht aufrechtzuerhalten ist. Sie sollen als gleichwertige Vertreter innerhalb der Kunst der Moderne und nicht als Exoten wahrgenommen werden. So werden neben den 13 Amateuren, in kleinen Retrospektiven präsentiert, zur vergleichenden Auseinandersetzung Einzelpositionen verschiedener Avantgardegestalten von Daumier über Delaunay oder Picasso bis hin zu Palermo, Darboven und Kelley vorgeführt. Die Besucher sollen all die bekannten Labels, sei es die malende Putzfrau (S. Louis), den zeichnenden Ex-Sklaven (B. Traylor) oder den kreativen Analphabeten (Nikifor Krynicki) vergessen und vor den Originalen mit „frischem“ Blick Vorurteile beiseiteschieben. Es wäre im Sinne der Kuratoren ein falsch verstandener Modernismus, immer nur die künstlerischen Phänomene entscheidend herauszustellen, die unmittelbar zu den avantgardistischen Entwicklungsschüben zählen. Die Rolle der Nebenfiguren mit skurrilen Lebensläufen als Quelle des Unbedarften und Unverfälschten stelle eine oberflächliche und falsche Etikettierung der vermeintlich Naiven dar. Die Ausstellung will belegen, dass die Qualität dieser Arbeiten denen der Professionellen nicht nachsteht. Die Betrachter sollen ihren Status als zentrale Werke der Moderne nachvollziehen.

Die Ausstellungsarchitektur von Hermann Czech gibt diesem Unterfangen den unterstützenden Rahmen. Das Haus-im-Haus-Konzept mindert die weit fluchtende Orthogonalität des Ausstellungsraums mit seinem strengen Deckenraster. Raumhüllen, einige als Quader leicht parallelogrammartig aus dem „richtigen“, dem rechten Winkel verschoben, stehen schräg zueinander angeordnet im Raum. Sie beherbergen die zeichnerischen und malerischen Werke. Das Zentrum dieser aufgelockerten, nicht-hierarchischen Raumfluchten bilden die allseits bekannten Arbeiten von Henri Rousseau – hier positioniert als Eyecatcher und Garant für großes Publikumsinteresse. Die skulpturalen Objekte finden sich auf teils ebenso dynamisierten Podesten wieder. Dieses in sich verschobene Raumgefüge soll nicht nur unsere Blicke schweifen lassen und ungewohnte Überlagerungen ermöglichen, sondern unsere eingefahrenen Sichtweisen auf diese Arbeiten samt ihrer Prämissen in Bewegung versetzen.

Das gelingt auch. Aber dem Autor geht es anders als von kuratorischer Seite aus intendiert. Er sieht sich gerade deshalb mit den eigenen (Vor)urteilen konfrontiert, weil sich der Eindruck „vergessener“ und „verkannter“ Meister durchgängig nicht einstellen will. Diese Zuschreibungen tragen nicht zur gewollten Vermeidung von Etikettierungen bei, sondern erweisen sich eher als Re-Etikettierung. Die eigenen Eindrücke führen zu weit weniger homogenen Bewertungen, als sie über die Ausstellung mit der die Arbeiten adelnden Architektur erreicht werden sollen. Man wird das Gefühl nicht los, dass die Kuratoren offene Türen einrennen. Einerseits hat niemand etwas gegen eine positiv-kritische Würdigung dieser Arbeiten, die aber über viele Ausstellungen hinweg und durch ihre internationale Präsenz in Sammlungen und Museen längst erfolgt ist, andererseits sind sie dem Publikum in großen Teilen sicher bekannter als die hier gezeigten Professionellen wie Darboven, Palermo oder Kelley. Das wesentliche Problem liegt aber eher in der assoziativ anmutenden Auswahl der Teilnehmer. Die forcierte Präsentation hebt sie eben nicht alle auf das Niveau des „Meisterhaften“. Sie lässt eher die qualitativ spürbaren Unterschiede deutlich werden. Das Postulat der durchgängig diagnostizierten, großen Qualität gleichwertig neben den Profis überfordert einzelne Arbeiten. Sie sind einem permanenten Aufwertungsdruck ausgesetzt. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Die vorhandenen Qualitäten sind überhaupt nicht in Abrede gestellt. Nur das Empfinden für die Radikalität einzelner Positionen will sich nicht einstellen. Von heute aus rückblickend wirken diese Außenseiter verbrauchter und weniger innovativ als die Profis. Sie sind natürlich im Ausarbeiten und Vorführen ihrer subjektiven Perspektive modern, nicht aber durchgängig in der Umsetzung und Anwendung der gestalterischen Mittel. Selbst in den überbordenden Blumenbildern von Séraphine Louis bleiben Bildsymmetrien oder das Oben und Unten des Bildraums deutlich ablesbar. Die Pflanzentriebe ziehen sich tentakelartig einrollend vom respektierten Bildrahmen zurück. Der Einsatz der malerischen Mittel bis hin zur Weißhöhung verharrt in der Konvention. Die Intensität der Bilder kann nicht darüber hinweg täuschen, dass sie im „Rahmen“ bleiben und sich nicht entgrenzen. Andere Teilnehmer wie Erich Bödeker oder Alfred Wallis fallen in ihrer unverkennbaren Unbeholfenheit gegenüber solchen Positionen noch einmal ab. Im Vergleich mit den Profis drängt sich allgemein der Eindruck auf, dass die Außenseiter keine echten Entgrenzungsstrategien darbieten, sondern sich in dem „Rahmen“ der Moderne entfalten, der sie mitträgt. Es fehlen die durchgreifenden, komplexen Brechungen und die überraschenden Wendungen. Sicher sollte man von Zeit zu Zeit festgefahrene Sehweisen und Etikettierungen in Frage stellen. Aber es wäre ein Kurzschluss, damit gleichzeitig unterschiedliche, künstlerische Qualitäten einzuebnen. Nicht alles, was eigenartig ist, erweist sich auch als großartig.

Die Frage, ob sich mit einer solchen Ausstellung aus heutiger Sicht ein verändertes und vertiefendes Bild der Moderne erzeugen lässt, mag sich als kuratorisches Konstrukt erweisen. Die vorgeführte Fokussierung entwickelt nicht mehr die nötige Brisanz. Das Außenseitertum stellt derzeit kein vorrangiges Strategie- oder Karrieremodell mehr dar. Der Versuch der Aufweichung vermeintlicher Grenzen zwischen In- und Outsidern, Modernen und Modernisten, gerät zu einem eher kunsthistorisch und retrospektiv angelegten Unterfangen.

Die Schatten der Avantgarde sind sehr lang. Nicht viele der gezeigten Arbeiten treten heraus ans Licht.