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Die Ausstellung setzt die künstlerische Recherche zur visionären Architektur der späten Moderne fort, die wir 2008 mit Megastructure Reloaded begonnen haben. Die Idee zu Wir sind alle Astronauten stammt von MARTa Direktor Roland Nachtigäller, dem wir für die Einladung zur Mitarbeit herzlich danken möchten. Die dynamisch-bewegten Ausstellungsräume des von Frank Gehry entworfenen Museums in Herford sind ein kongenialer Ort für die künstlerischen Reflexionen zu Buckminster Fuller, der Zeit seines Lebens gegen die Vorherrschaft des Kubus und der Starrheit der x-, y-, z-Koordinaten rebelliert hat.

Der überwiegende Teil der gezeigten Arbeiten stammt von Künstlern, die sich bereits explizit mit Buckminster Fuller auseinandergesetzt haben. Dazu zählen Ai Weiwei, Attila Csörgő, Björn Dahlem, José Dávila, Hermann Maier Neustadt, N55, Ólafur Elíasson, Franka Hörnschemeyer, Tobias Putrih, Pedro Reyes, Tomás Saraceno und Albrecht Schäfer. Die Ausstellung umfasst darüber hinaus Arbeiten von Lucas Lenglet, David Maljkovic und Beat Zoderer, deren Bezugnahme auf Fuller sich nicht auf den ersten Blick erschließt. Riccardo Previdi, Silke Riechert, Kai Schiemenz, Kerstin Stoll und Tilman Wendland haben extra für die Ausstellung neue Werke entwickelt.

Bereits in den späten 1960er-Jahren hatten Minimal- und Konzeptkünstler Buckminster Fuller für sich entdeckt. Für die aktuelle Rezeption sind allerdings weniger die kritischen Reflexionen Fullers in den Essays von Robert Smithson und Dan Graham oder Jaspar Johns’ malerische Umsetzung der Dymaxion Air Ocean World (heute im Museum Ludwig, Köln) von Bedeutung, als Stewart Brands Whole Earth Catalog und die freie Aneignung der geodätischen Strukturen durch die Gegenkultur. Die Domes und Zomes der Hippie Kommunen Drop City, Libre oder Red Rockers in Colorado wurden zu wichtigen Stationen im Verwandlungsprozess von Fullers hochkomplexen Ideen zu Ikonen der Protestkultur. Für die Gegenkultur der ausgehenden 1960er-Jahre ist Architektur, ganz in Fullers Sinn, ein Transmissionsriemen der großen Utopiemaschine und viele der Künstler, die sich gegenwärtig mit Fuller auseinander setzen, knüpfen hier an. Auch jüngere Architektenkollektive wie n55 aus Kopenhagen nehmen die Fäden der Fuller-Adepten von Archigram bis Ant Farm wieder auf. In ihren Projekten verbinden sie experimentelle Architektur und Design mit angewandter Urbanismus-Kritik und Performance orientierter Skulptur.

In einem Essay von 1949 definiert Fuller: „Der Spezialist für Comprehensive Design ist eine neu entstehende Synthese aus Künstler, Erfinder, Mechaniker, praktischem Ökonom und evolutionärem Strategen“. Heute greifen Künstler wie Tomás Saraceno oder Pedro Reyes Fullers Idee vom ‚Comprehensive Design‘ wieder auf und entwickeln Werke, die die Grenzen der Kunst weit hinter sich lassen. So entwirft Reyes 2007 in Anspielung auf Fullers Dymaxion Car sein Ciclomóvil, das als pedalbetriebenes, alternatives Fortbewegungsmittel für das vom Verkehrsinfakt bedrohte Mexiko City gedacht ist. Reyes versteht seinen Entwurf nicht nur als Skulptur, sondern auch als Initialzündung für ein soziales Unternehmen, das von der Entwicklung des Ciclomóvil über die Produktion bis hin zum Betrieb und Marketing Arbeitsplätze schaffen könnte.

Die Airport Cities von Tomás Saraceno beziehen sich auf das Project for Floating Cloud Structures (Cloud Nine) – kugelförmige, fliegende Städte, die Fuller gemeinsam mit Shoji Sadao um 1960 entworfen hat. Die Idee basiert auf der Annahme, dass das Gewicht geodätischer Kugeln bei großem Durchmesser relativ gesehen so gering wäre, dass die durch Sonneneinstrahlung bewirkte Erwärmung der Luft im Inneren die Kugelstädte wie Heißluftballone von der Erde abheben lassen müsste. Saraceno greift diese Idee auf und arbeitet mit großer Energie daran, Fullers Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Als ‚Comprehensive Designer‘ kooperiert er mit Wissenschaftlern bei der Entwicklung von Materialien, die leichter sind als Luft und hat bereits eine Thermo-Isolation für lighter-than-air Strukturen patentieren lassen.

Eine skeptische Auffassung von Fullers Cloud Nine artikuliert Tobias Putrih, der dem Projekt eine ganze Werkgruppe gewidmet hat. „Es scheint mir kein weiter Weg von Fullers fantastischer Idee zum Konzept der ultimativen, totalen, vielleicht sogar totalitären Struktur. Science-Fiction-Thriller: Das utopische Moment des amerika nischen Traums verbindet sich mit dem radikalen Konzept der schwebenden Stadt. Eine der möglichen Antworten auf Fullers Vision wäre es, seine ursprüngliche Idee zurück in die Hände und Köpfe der Individuen zu bringen, damit der Gestaltungs prozess von neuem beginnen kann und metaphorisch gesprochen Jeder und Jede eine eigene, deformierte Form von Cloud Nine entwickeln kann.“ Aus diesen Überlegungen heraus entstehen ab 2002 Putrihs Zeichnungen und Skulpturen der Werkgruppe Quasi Random, die unterschiedlichste Stadien der Deformation der perfekten Kugelwelten darstellen.

Kai Schiemenz hat mit ähnlichem Ansatz für die Ausstellung einen deformierbaren ‚Bucky ball‘ entworfen, einen geodätischen Sitzsack, der die perfekte Kugelform notwendigerweise einbüßen muss, soll er seine Funktion als Möbel erfüllen. Bei Bedarf und nach Belieben der Ausstellungsbesucher kann er aber wieder entzerrt und in seine kugelförmige Ausgangsposition zurück gebracht werden. Eine vergleichbar spielerisch-experimentelle Lust am Umgang mit der Fullerschen Geometrie findet sich auch bei Attila Csörgő, der etwa in seiner Football World Map den fussballförmigen Ikosaeder stumpf, das ‚Fulleren‘, mit der Dymaxion World Map verbindet oder auch bei José Dávila, der Fullers sublime Zeichnung der 25 Great Circles in einen gewöhnlichen Teppich transformiert. Die Skepsis gegenüber der allzu perfekten Form, der vollkommenen Geometrie ist ein durchlaufender Topos der Fuller-Rezeption und gipfelt bereits 1971 in Robert Smithsons’ Verdikt „ein Trümmerhaufen ist häufig interessanter als eine Struktur. Zumindest nicht so deprimierend wie ein Dymaxion Dome.“ Die ‚falsch verstandenen‘, nicht geometrisch perfekten Domes und Zomes der Hippiekommunen sind aus dieser Perspektive die Rettung von Fullers Ideen vor dem ihnen inhärenten Streben nach Perfektion; hier, so sagt etwa Tilman Wendland, „fängt die Poesie an“.

Zur Ausstellung erscheint im Kerber Verlag ein umfangreicher Katalog mit Essays vonJoachim Krausse, Dana Miller und Markus Richter, gestaltet von Weiss–Heiten Design / Tobias Kohlhaas.