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Der Ausstellungstitel bezieht sich auf den mexikanisch/amerikanischen Politthriller Vantage Point von 2008, in welchem ein Attentatsversuch auf den amerikanischen Präsidenten aus acht verschiedenen Blickwinkeln geschildert wird. Während allerdings nicht der thematische Hintergrund des Spielfilms und der einzelnen Arbeiten der Ausstellung einen gemeinsamen Bezugspunkt schafft, stellt die Vorgehensweise und methodische Annäherung an die jeweils differenzierten Themenfelder das verbindende Element dar. Spätestens mit der Allansichtigkeit von Giambolognas Raub der Sabinerinnen (um 1583) entwickelt die Kunstgeschichte ein Verständnis für die Abhängigkeit der Perspektive zu einer umfassenderen Interpretation – in der Ausstellung vantage points soll dieser Ansatz fokussiert und forciert werden.   Neben dem assoziierten Spielfilm liegt auch den Arbeiten der fünf in der Ausstellung präsentierten Künstler eine mehrschichtige, oft als irritierend wahrgenommene Verschiebung des Blickwinkels und eine damit generierte Veränderung der interpretatorischen Sichtweise zugrunde. Mit einer Fokusverschiebung erhalten die Arbeiten teilweise nicht allein einen weiteren, sondern mit dem ersten kollidierenden Aussagecharakter. Das Hinterfragen eines stabilen, beziehungsweise statischen (auch hier ist die subjektive Perspektive für die Entscheidung eines der beiden Adjektive verantwortlich) Blickwinkels und die Addierung alternativer ?points of view“ schaffen darüber hinaus die Basis für eine potentielle eigene Erweiterung der Blickwinkel durch den Beitrag der individuellen Interpretation.  

Ulf Aminde (*1969, Stuttgart) wählt oft als Protagonisten für seine Video- und Photoarbeiten Menschen in extremen Lebenszusammenhängen, deren eigene Positionierung in der Gesellschaft und deren Perspektive in der Kunst üblicherweise eine periphere Rolle spielen. Aminde übernimmt allerdings nicht die distanzierte außenstehende Funktion eines auktorialen Künstlers wie Duane Hanson bei seiner kanonischen, hyperrealen Skulptur eines Heroinabhängigen, sondern partizipiert und beobachtet gleichzeitig. Reale, dokumentarische sowie fiktive, provozierte Zusammenhänge und Situationen bilden ein verschwommenes Bild gegenseitiger Abhängigkeiten. Damit schafft er ein System verschiedener, sich bedingender Variablen und die Einsicht in die Unmöglichkeit zu einer konstanten Positionierung zu gelangen. Amindes tableaux der ?Feldforschung“ stellen sich als anfangs- und endloses Projekt dar – als ein sich immer weiter verzweigendes System von Elementen und Variationen, dessen Kern unentscheidbar bleibt und so eine Frage nach Subjektivität verhandelt.

Mike Bourscheid (*1984, Esch/Alzette, Luxemburg) vollzieht die Blickwinkelverschiebung rein formal bereits in der Verwendung zweier verschiedener Medien und deren Darstellung desselben Ortes, eines Wohnwagens auf dem gemähten Rasen eines Waldgrundstücks, gelegen an einem trüben See. Die panoramaähnliche Photographie der ortspezifischen Situation ergänzt Bourscheid in seiner Super-8-Film-Arbeit um eine Halbtotale des Wohnwagens und sichtbar gemachte Zeit: Die sich im Wagenrückfenster spiegelnde Sonne wandert bis zu einem Winkel, bei dem das gleißende Licht das Bild und schließlich den Blick des Betrachters vollständig ausfüllt und, einem Papier unter einer Lupe vergleichbar, ausbrennt. Die Nebeneinanderstellung und Gleichberechtigung unabhängiger Bezüge reicht von der kleinbürgerlichen Spießeridylle als Gegenpol der (auch nur scheinbar) freien Künstlerboheme, der Evozierung der Theorie des Sublimen (C.D. Friedrich, Schiller etc.), welcher zufolge der Betrachter mittels des Kunstwerks auf sich selbst zurückgeworfen werde, der kunsthistorischen Thematisierung des Eindringens des Menschen in die Natur (vgl. Impressionismus), bis zur Implikation ikonologischer Deutungsmechanismen, aufgrund derer der medialüberflutete Betrachter die Bilder vor dem Hintergrund seines Bildgedächtnisses interpretiert und polarisiert. Auch hier bedingt schließlich der Blickwinkel die Deutung – wieweit ließe sich das Interpretationsspektrum mit der Addierung weiterer Blickwinkel potenzieren? Oder hätte diese vielmehr eine Verengung der interpretativen Sichtweise zufolge?

Die aus dem sozialen Umfeld des Künstlers stammenden Personen auf den Photographien der Serie In order of appearance von Johannes Kullen (*1981, Berlin) imitieren verschiedene, bereits ikonische Posen aus Mode, Werbung und Kunstgeschichte und erweitern das bestehende gestische und mimische Repertoire um ihre subjektive Darstellung und Interpretation. Durch die Inszenierungen und Re-Inszenierungen wird das dialektische Verhältnis von dokumentarischen und inszenatorischen Ebenen des photographischen Bilds hinterfragt. Die Darstellung der eigenen Individualität und der Rückgriff auf bestehende soziale Codes laufen parallel, werden in den Arbeiten miteinander verwoben und mit der scheinbaren Objektivität des Künstlers der subjektiven Entscheidung des Betrachters überlassen. Der repräsentative Charakter der Portraits wird dabei durch eine stetige Neu-Kontextualisierung und Typologisierung unterwandert. So entsteht durch die Vielschichtigkeit und Verwebung der Bezüge ein sich überlappendes Geflecht an Interpretationsebenen.

Cyrill Lachauer (*1979, Rosenheim) impliziert mit seinen Arbeiten eine Kontextverschiebung und ermöglicht damit neue, unvoreingenommene Sichtweisen auf den traditionellen, unreflektierten Umgang mit kulturellen Konzepten und die Verhandlung von Natur. Die antithetischen Pole eines rein oberflächlich selben Gegenstandes wie Sehnsucht und Enttäuschung, Triumph und Versagen, Planen und Scheitern werden in der Gegenüberstellung eines Siebdrucks des Matterhorns mit der Videodokumentation des Bergsteigens und Zündens farbigen Signalrauchs formuliert. Kartographische Höhenfarben, die Einteilung der Natur als Konzept, inszeniert Lachauer mit seiner individuellen Umdeutung als künstlerischen Entwurf und setzt durch die daraus resultierende (Ver-)Kontextualisierung gedankliche Prozesse frei. Die Umkehrung des Blickwinkels wird beim Diptychon Ein kritischer Augenblick am Totenkirchl liest man aus unseren Gesichtern programmatisch vollzogen: Lachauer spiegelte eine Photographie des eigenen Großvaters, infolgedessen Original und Reproduktion, greifbar anhand der entgegengesetzten Fernglasaus- und Blickrichtung der abgebildeten Personen, sich kontradiktieren und schließlich gegenseitig aufheben.

Grundlage und Fragestellung der Arbeiten Daniel Lergons (*1978 Bonn) stellt die Wechselwirkung von Oberfläche und einfallendem Licht dar. Die Bedeutung des Malgrunds zeigt sich in der Auswahl textiler Stoffe als Bildträger, die jeweils durch bestimmte optische Eigenschaften wie Fluoreszenz oder Retroreflexion gekennzeichnet sind.  Auf diese wird meistens mit transparentem Lack gemalt - im Grunde genommen eine Vertauschung der Funktionen von Malgrund und Pigment. Die Malerei geschieht in einer dem Labor vergleichbaren Situation, in welcher der durch Licht aufgeladene, textile Stoff als Versuchsterrain fungiert. Konträr zur Malerei mit Lack auf textilen, lichtmetaphorisch aufgeladenen Stoffen stehen Zeichnungen und Malerei mit einer ganz anderen, dieser Lichtthematik gegenüberstehenden Materialität. Mit pulverisierten Metallen wurde direkt auf massive Wände gemalt und so eine andere, nicht durch Lichtmodulation, sondern durch Masse und Körnung bestimmte Störung von Oberfläche geschaffen. Der Begriff des Albedo (Titel einer vorangegangen Einzelausstellung) kann als Synonym eines Verständnisses seiner Arbeiten sowie des Konzepts von vantage points fungieren: Er beschreibt das Maß des Reflektionsvermögens eines Körpers.

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vantage points

Künstler: Ulf Aminde, Mike Bourscheid, Johannes Kullen, Cyrill Lachauer, Daniel Lergon