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Weltweit gibt es ca. 6000 Sprachen, es wird davon ausgegangen, dass in diesem Jahrhundert etwa 90 % der noch existierenden Sprachen verschwinden werden. Es sind damit aber nicht nur die Sprachen die verschwinden, sondern auch Kulturen und ihr Wissen. In einer neoliberalen Gesellschaft, die von einer derzeitigen und zukünftigen Wissensgesellschaft spricht, verschwindet durch die Geschwindigkeit globaler marktökonomischer Reglementierungen und Zielsetzungen heterogenes und vielfältiges Wissen und eine Bildung, die in erster Linie in einer kommunikationsorientierten Welt auch durch das Medium der Sprache vermittelt wird.

2008 ist von den Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der Sprache erklärt worden. Das erklärte Ziel der Sprachenpolitik der Europäischen Union ist die Mehrsprachigkeit der europäischen Bürger zu stärken: Mehrsprachigkeit fördere die persönliche Entwicklung des Einzelnen, sie verbessere die berufliche Mobilität und die Wettbewerbsfähigkeit (Lissabon-Strategie), fördere das Verständnis anderer Kulturen (interkultureller Dialog) und ermögliche ein «wirkliches Gefühl der Unionsbürgerschaft». Die neu eingerichtete Kommission für Mehrsprachigkeit unter Leonard Orban erklärt auf der Website der Europäischen Union folgendes: «Sprachen sind für Europäer, die zusammen arbeiten wollen, von entscheidender Bedeutung. Sie sind das Herzstück dessen, was die Europäische Union mit ‹Einheit in Vielfalt› meint. Wir müssen unser sprachliches Erbe in den Mitgliedstaaten erhalten und pflegen, wir müssen uns jedoch auch untereinander, mit unseren Nachbarn und mit unseren Partnern in der EU verständigen können. Mehrsprachige Unternehmen und mehrsprachige Bürgerinnen und Bürger sind wettbewerbsfähiger und mobiler.»(1) Die Wettbewerbsfähigkeit scheint aus wirtschaftlicher Logik ein zentrales Argument zu sein, das stärker wiegt als ein Interesse an heterogenen polyphonen Sprachgemeinschaften. Eine Wissensgesellschaft wird in diesem Sinn zu grossen Teilen durch ökonomische Vorteile definiert.

Die Sprachpolitik der EU ist bestimmt durch eine Vielsprachigkeit: derzeit sind es 23 Amtsprachen, die im Zuge von Übersetzungen allein auf legislativer Ebene über eine Milliarde Euro kosten. Sprachpolitik ist immer auch an ökonomische Bedingungen und damit an hegemoniale Entscheidungsstrukturen gebunden. Welche Sprachen bekommen einen Übersetzungsvorteil? Die koloniale Praxis hat gezeigt und zeigt, dass mehrheitlich eine Amtssprache eine Vielzahl von Sprachen und Sprachgemeinschaften dominiert. Entscheidungen wie etwa jüngst zum Beispiel in Venezuela oder schon länger in Peru, neben dem Spanischen, indigene Sprachen ebenfalls zu Verfassungs- und Amtssprachen zu deklarieren sind selten. Die Frage nach sprachpolitischen Entscheidungen ist nicht von einer Auseinandersetzung mit post/kolonialen Erfahrungen als auch migrantischen Bewegungen in Bezug auf Konzepte der Nationenbildung und Landessprachregelungen zu trennen. Dies hat das transnationale Forschungsprojekt „translate“(2) der eipcp.net Plattform deutlich hervorgehoben. Boris Buden, der ebenfalls an diesem Projekt aktiv beteiligt ist, zeigt in seiner Publikation „Der Schacht von Babel. Ist Kultur übersetzbar?“(3) auf, wie der Begriff der Übersetzung aus seinem ursprünglichen Kontext der Linguistik auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen wurde und somit einem ausgeprägten Wandel unterlag.

Der Vorgang der Übersetzung im engeren Sinne bezeichnet die Übertragung eines Textes von einer Ausgangssprache in eine Zielsprache – jedoch ist es unmöglich, dass eine Übersetzung dem Sinn des ‹Originals› je völlig entspricht. Umberto Eco zeigt in seinem gleichnamigem Buch auf, dass eine Übersetzung nur eine Annäherung sein kann und keine exakte Übertragung – es ist somit ein Versuch «quasi dasselbe mit anderen Worten»(4) zu sagen. Dieser Umstand wirft die Frage auf nach der Differenz, die bei dem Übersetzungsvorgang von einer Sprache in die andere entsteht. Grundsätzlich impliziert der Vorgang des Übersetzens eine Erfahrung von Distanz, bzw. die Anerkennung von Alterität und die Notwendigkeit sich in ein Verhältnis zu dem ‹Anderen› zu setzen. Das ins-Verhältnis-setzen geschieht dabei meist vor dem Hintergrund der eigenen Sprache. Dieses ‹klassische› Übersetzungsmodell geht dabei von einer binären Gegenüberstellung zweier Bezugssysteme aus, die sich bestenfalls annähren können. Diese Annäherung bezeichnet Eco in seinem Buch mit dem zentralen Begriff des ‹Verhandelns›. Er befürwortet eine Position des Übersetzers/der Übersetzerin als autonomes Subjekt, das sich zwischen den Sprachen bewegen und im Vorgang der Übersetzung auch Freiheiten in Anspruch nehmen kann. Die Frage nach dem Umgang mit dieser notwendigen Differenz im Prozess der Verhandlung ermöglicht, wie Buden hervorhebt, verschiedene Zugangsweisen und auch Vereinnahmungen.

In der romantischen Übersetzungstheorie, vor allem vertreten durch Wilhelm Humboldt, sah man den Zweck der Übersetzung nicht darin, die Kommunikation zwischen zwei verschiedenen Sprachen und Kulturen zu erleichtern, sondern die eigene Sprache zu verfeinern und zu bilden, etwa indem man die Fremdheit der Originalsprache in der Übersetzung noch deutlich spüren konnte und dadurch die eigene Sprache erweiterte.

Doch das Konzept der kulturellen Übersetzung geht nicht aus dieser traditionellen Theorie hervor, sondern aus deren radikalen Kritik; erstmals formuliert in Walter Benjamins Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“ 1921. Er entledigt sich der Idee des Originals und damit auch des gesamten Binarismus der traditionellen Übersetzungstheorie. Ziel der Übersetzung ist nach Benjamin nicht die Kommunikation oder die Übermittlung und sie bezieht sich nicht auf den originalen Text, sie berührt ihn nur in einem einzigen Punkt, wie eine Tangente einen Kreis berührt und danach ihren eigenen Weg fortsetzt.(5) Weder das Original noch die Übersetzung, weder die Sprache des Originals noch die Sprache der Übersetzung hat eine essenzielle Qualität. Sie verwandeln und verändern sich ständig und somit stellt das Original keinen essentialistischen Ursprung dar. Benjamins dekonstruktivistische Herangehensweise öffnet den Weg für das Konzept der ‹kulturellen Übersetzung›, das wiederum von einem prominenten postkolonialen Theoretiker geprägt wurde: Homi Bhabha. Seine Motivation war ursprünglich die Kritik der multikulturellen Ideologie, das Bedürfnis, über Kultur nachzudenken und über Beziehungen zwischen verschiedenen Kulturen jenseits der Idee einheitlicher essenzieller kultureller Identitäten und Gemeinschaften, die aus diesen Identitäten entspringen. Nach seiner Theorie liesse sich der Raum ZWISCHEN den beiden als ‹dritter Ort› bezeichnen. Die inflationäre Verwendung, Ausweitung und Übertragung des Konzeptes von ‹Hybridität›, das sich primär auf den Bereich der Kultur bezieht, läuft Gefahr wie zum Beispiel Kien Nghi Ha in seiner Publikation „Hype um Hybridität“(6) aufzeigt, durch ‹Kulturalisierung› den Bereich des ‹Politischen› zu verdrängen.

Zwei Anliegen treffen bei der Frage um Vielstimmig/sprachigkeit aufeinander: Einerseits der Wunsch, möglichst mit vielen best möglichst kommunizieren zu können, was sich etwa in Versuchen von Spracherfindungen und Plansprachen wie zum Beispiel des Esperantos(7) zeigt; andererseits verlangt ein komplexes vielschichtiges Verständnis dezidiert Sprachkenntnisse und -kompetenzen der jeweils anderen Sprache, um kontext- und geschichtsspezifisch ein Wissen und Verständnis entwickeln zu können und kulturelle vielfältige Stimmen zu generieren. Verhandlungs- und Abkommensgespräche produzieren häufig (auch gewollte) Missverständnisse und Übersetzungsproblematiken, diese sind wiederum nicht allein von einem ‹Sprachverstehen› abhängig, vielmehr benötigt Kommunikation Interessenssolidaritäten und einen gegenseitig langfristigen Erfahrungsaustausch.

So betont Étienne Balibar in Hinblick auf die ‹notwendige Unmöglichkeit› eine ‹Bürgerschaft in Europa› zu konstituieren um eine gemeinsame demokratische europäische Öffentlichkeit zu erreichen, die Wichtigkeit von Sprache als Medium der Verständigung: «Die ‹Sprache Europas› ist kein Code, sie ist ein in ständiger Veränderung begriffenes System einander begegnender Sprachgebräuche, anders gesagt: Sie ist eine Übersetzung»(8). Balibar führt diesbezüglich aus, «dass auch die ‹Übersetzungsgemeinschaft› keine ist, in der alle die Sprachen aller sprechen oder verstehen, sondern im Gegenteil eine, in der die ‹Mittler›-Funktion je nach der Situation oder Konfiguration des Austauschs der Reihe nach jedem zufällt und von der ‹Mehrheits›- zur ‹Minderheits›-Position übergeht(9)».

Diese für einen europäischen Einigungsprozess (der nicht auf wirtschaftliche und sicherheitspolitische Bereiche beschränkt verstanden wird) so entscheidende Frage nach Viel-/Mehrsprachigkeit zeigt sich in kleinerem Massstab auch innerhalb der Schweiz, zum Beispiel durch die Diskussion um das Rätoromanische: In der Schweiz gibt es vier Landesprachen, nach swissworld.org wird Deutsch von 63,7 % gesprochen, Französisch von 20,4%, Italienisch von 6,5%, Rätoromanisch von 0,5%, weitere 9% sprechen andere Sprachen. Rätoromanisch ist keine Sprache, sondern eine Familie mehrerer Dialekte, die von Tal zu Tal variieren. Es existieren fünf Schriftsprachen: Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Vallader und Puter. Romantsch Grischun und wurde vom Zürcher Romanisten Heinrich Schmid entwickelt und 1983 vorgestellt und stellt einen sprachlichen konstruierten Kompromiss zwischen den verschiedenen Idiomen dar, der als Einheits(schrift)sprache fungieren soll. Seit 1993 ist Romantsch Grischun offizielle Landesprache(10) und seit 2001 im Kanton Graubünden Amtsprache, die seit 2007/2008 in 23 Gemeinden als Lehrsprache an den Schulen fungiert.

Die Projektreihe „Übersetzungsparadoxien und Missverständnisse“ unterteilt sich in drei Kapitel. Sie nimmt im ersten Teil (Oktober - Dezember 2008) sprachpolitische Überlegungen zur ‹Vielsprachigkeit› einerseits zum Ausgangspunkt und überlegt andererseits, inwiefern diese ebenfalls die ‹Vielstimmigkeit› ähnlich aber anders betreffen. Denn Übersetzungsproblematiken, -paradoxien und Spracherfindungen tauchen nicht nur bei der Überbrückung von Sprachgrenzen auf, sondern befinden sich auch innerhalb dieser. Darüber hinausgehen wir bei der Frage nach Übersetzung nicht nur von der gesprochenen Sprache aus, sondern von dem Modus der Übersetzung an sich, der im intersubjektiven Verständnis/Konflikt genauso vorhanden ist wie im Transkontextuellen oder Intermedialen. Künstlerische Arbeiten und Filme werden gezeigt, die sich der Frage nach den (Un-) Möglichkeiten von Übersetzung sowie (un)produktiven Missverständnissen auseinandersetzten. Im Rahmen einer Kommentarebene wurden von den teilnehmenden KünstlerInnen vorgeschlagene AutorInnen oder WissenschaftlerInnen gebeten einen kurzen Text über Inhalte und Fragen der jeweiligen Arbeit in ihrer Sprache zu verfassen. Neben den Vermittlungsaspekten findet auf dieser Ebene bereits eine doppelte Übersetzungsbewegung statt. Einerseits findet eine Übersetzung der künstlerischen Arbeit in das Medium Schrift statt und andererseits werden die Texte aus der Sprache, in der sie verfasst wurden, ins Deutsche übersetzt.

Eine nachfolgende Ausstellung möchte Fragen spezifizieren, die in der ersten Ausstellung vorskizziert sind. Eine genauere Betrachtung der vielsprachigen Schweizer Situation und Mikrorecherchen zu Minderheitssprachen und -regionen in Europa ist in Diskussion (Februar - April 2009). In einem weiteren Schritt möchten wir die Krux und die Frage nach der kuratorischen Übersetzung ins Spielfeld bringen. Mit einer internationalen Konferenz und einer Ausstellung zu diesem Praxis- und Diskursfeld möchten wir die Reihe abschliessen (Juni - Juli 2009).

KünstlerInnen und Kommentare von AutorInnen Wir haben die beteiligten KünstlerInnen gebeten, ihrerseits eine/n SchriftstellerIn, WissenschaftlerIn oder Kontext bezogene Person einzuladen, einen kurzen Text aus ihrer Perspektive und in ihrer Muttersprache über die jeweilige Arbeit oder die inhaltlichen Fragen der Arbeit zu verfassen. Diese Texte sind als Kommentarebene in die Ausstellung integriert und hier mit einer Übersetzung ins Deutsche abgedruckt. So kann man bereits von einer doppelten Übersetzungsbewegung sprechen: Es findet eine Übersetzung der künstlerischen Arbeit in das Medium Text statt und gleichzeitig wurden die Texte ins Deutsche übersetzt.

Pierre Bismuth, Chiapas Media Project, Beth Derbyshire / Ilari Valbonesi, Esra Ersen / Miya Yoshida, Patricia Esquivias / Cristián Silva, Lise Harlev / Boris Boll-Johansen / Leila El-Kayem 1 / 2, Farida Heuck / Kien Nghi Ha, Susan Hiller / Sonja Lau / André Siegers, Andreas Künzli, Wolf Schmelter, Pavel Medvedev / Alexander Komin, Praga Manifesto / Dietrich M. Weidmann, Khanh Minh Nguyen / Andrea L. Rassel, Raqs Media Collective / Ravi Sundaram, Volker Schreiner / Kristina Tieke.


1 http://ec.europa.eu/commission_barroso/orban/index_de.htm 2 http://translate.eipcp.net/ 3 Vgl. Boris Buden: „Der Schacht von Babel. Ist Kultur übersetzbar?“ Berlin 2005. 4 Umberto Eco: „Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen“. München 2006. 5 Vgl. Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: ders.: „Gesammelt Schriften Bd. IV/1“. Frankfurt am Main 1972, S. 19f. 6 Kien Nghi Ha: „Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus“. 2005 7 Die Ständerätin Gisèle Ory und die Nationalrätin Francine John-Calame haben den Esperanto-Weltbund (Universala Esperanto-Asocio, UEA) als Kandidation für den Friedensnobelpreis 2008 vorgeschlagen 8 Étienne Balibar: Schwieriges Europa: Die Baustellen der Demokratie, in ders.: „Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen“, 2003, S. 289. 9 Ebd. S. 287. 10 Artikel 70 Abs. 1 der Bundesverfassung der Schweiz: «Die Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes.

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Übersetzungsparadoxien und Missverständnisse, Teil 1
Gedankenskizze zur Projektreihe

Künstler: Pierre Bismuth, Chiapas Media Project, Beth Derbyshire / Ilari Valbonesi, Esra Ersen / Miya Yoshida, Patricia Esquivias / Cristian Silva, Lise Harlev / Boris Boll-Johansen / Leila El-Kayem , Farida Heuck / Kien Nghi Ha, Susan Hiller / Sonja Lau / Andre Siegers, Andreas Künzli, Wolf Schmelter, Pavel Medvedev / Alexander Komin, Praga Manifesto  / Dietrich M. Weidmann, Khanh Minh Nguyen / Andrea L. Rassel, Raqs Media Collective  / Ravi Sundaram, Volker Schreiner / Kristina Tieke