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Eröffnung Samstag, 29. Oktober 2016, 19 Uhr

Sind die »Sixties« wirklich wieder im Kommen? Die britische Pop Art jedenfalls scheint aktueller denn je. Ob Konsumreflexion, die Gefahren der Macht- und Atompolitik oder die Befragung von Geschlechterrollen: Die zentralen Themen der Pop Art aus Großbritannien, die nach dem Zweiten Weltkrieg Kunst und Medien ebenso wie Kunst und Leben auf neue Art verbindet, bewegen uns noch immer. Auch hat die im Gegensatz zur US-Variante mehr aufgeraute und vielschichtigere Ästhetik der britischen Pop Art nichts von ihrem besonderen Appeal verloren. Jenseits von Oberflächenreizen werden hier immer wieder große Fragen wie die Rolle der Medien oder des Menschen in der Konsumgesellschaft verhandelt. presse@kunstmuseum-wolfsburg.de www.kunstmuseum-wolfsburg.de Genau 60 Jahre nach Richard Hamiltons bahnbrechender Multimedia-Installation „Fun House“, realisiert für die Ausstellung „this is tomorrow“ in London, verbindet die ambitionierte Großausstellung THIS WAS TOMORROW im Kunstmuseum Wolfsburg in einer multimedialen Inszenierung Malerei, Skulptur, Collage, Architektur, Zeichnung, Installation, Film, Musik und Fotografie zu einem einzigartigen Panorama der Pop Art in Großbritannien – zum ersten Mal seit Uwe M. Schneedes Präsentation „Pop Art in England“ 1976 im Kunstverein Hamburg.

Was konkret ist kulturhistorisch neu und anders an dieser Ausstellung? Der intensive Blick auf weibliche Akteure der Pop Art, der starke Fokus auf die eng mit der Kunstszene vernetzten, zukunftsweisenden Architekten Alison und Peter Smithson, Cedric Price und Archigram, ferner die dezidierte Einbeziehung von Musik, Zeitschriftenkultur, Fernsehen und Film als gleichwertigen Medien weiterer Grenzüberschreitung sowie der erweiterte Zeitrahmen: Der Bogen der Ausstellung spannt sich von Eduardo Paolozzis frühen Pariser Collagen von 1947 bis zum Höhe- und Endpunkt des „Swinging London“ 1968.

THIS WAS TOMORROW macht erstmals im Zusammenhang erfahrbar, dass die britische Pop Art sich buchstäblich aus den Ruinen und dem Smog des London der Nachkriegszeit entwickelt hat, aus intellektuellen Diskussionen der Independent Group (IG) und Projekten am Institute of Contemporary Arts (ICA) quer durch alle Kunstgattungen. Die IG-Mitglieder – bildende Künstler, Architekten, Fotografen, Kunsthistoriker und Kulturkritiker – arbeiten ab Anfang der 1950er-Jahre intensiv an der Erweiterung des Kultur- und Bildbegriffs, denken kollektiv über Urbanität, Mobilität und die Stadt der Zukunft nach. Die Ausstellungstitel der IG am ICA sprechen für sich: „Parallel of Life and Art“ oder „Man, Machine and Motion“ – ebenso wie jener der wegweisenden Schau in der Whitechapel Art Gallery: „this is tomorrow“. Im Großbritannien der 1960er-Jahre wird diese, im zuerst noch überschaubaren, interdisziplinären Kreis entwickelte Methode und Bildsprache zu einem Kunst, Architektur, Film, Musik und Mode übergreifenden Phänomen – und erhält noch vor den USA eben dort seinen Namen: „Pop“.

Die Ausstellungsarchitektur macht all dies räumlich spürbar. Atmosphärisch dichte Innenräume spiegeln die intensiven Zusammenkünfte der Künstler und die Tristesse der englischen Nachkriegskapitale sowie die ersten zukunftsweisenden Kunst- und Architekturprojekte. Nigel Hendersons eindringliche Schwarz-Weiß- Fotografien eines entbehrungsreichen Wiederaufbaus treffen hier auf Modelle und Entwurfszeichnungen der Smithsons für ihr House of the Future. Comics, Science-Fiction, wissenschaftliche Buchillustrationen, Werbeanzeigen, Hollywood-Filme und Zeitschriftenseiten werden jenseits jeden klassischen High-and-Low- Denkens als Inspirationsquellen sichtbar. Nach der Raumexplosion von Richard Hamiltons „Fun House“, das in allen sinnlichen Details inklusive Jukebox und Erdbeerduft rekonstruiert wird, betreten die Besucher eine veritable „City of the Sixties“.

In der 16 Meter hohen Halle entstehen Straßen, Plätze und Künstlerhäuser unterschiedlichster Größe und Höhe für die sehr individuell arbeitenden, jedoch nicht selten freundschaftlich und inhaltlich einander verbundenen Akteure der Kunst- und Kulturszene der „Swinging Sixties“: Zentrale Protagonisten wie Peter Blake, David Hockney, R. B. Kitaj und Allen Jones, gemeinhin etwas unbekanntere, jedoch wesentliche Mitstreiter wie Derek Boshier, Peter Phillips, Richard Smith, Gerald Laing, Patrick Caulfield, Antony Donaldson, Colin Self und Joe Tilson, aber auch die oft vernachlässigten, dezidiert weiblichen Positionen von Pauline Boty und Jann Haworth sind dort mit größeren Werkgruppen zu erleben.

Während Pauline Boty im maßgeblich männlich dominierten Feld ihre Weiblichkeit freimütig ausspielt und zugleich reflektiert, Allen Jones demgegenüber – nach Hermaphroditen im malerischen Frühwerk – die Frau als Fetisch fokussiert, wird David Hockney durch seine Selbstinszenierung und den offensiven Umgang mit seiner Homosexualität zu einer der schillerndsten Figuren des sogenannten „Swinging London“. Die Durchdringung von Kunst, Medien und Leben sowie von Kunst, Musik und Mode im Zeichen der Konsumgesellschaft wird durch die grenzüberschreitenden Aktivitäten von Bands wie den Beatles, den Rolling Stones und The Who beschleunigt – und in Antonionis Filmklassiker „Blow Up“ pointiert, der auf einmalige Art und Weise Musik, Mode, Fotografie und Medienreflexion bündelt.

Stets geht es darum, die zahlreichen, heute meist vergessenen Querverbindungen zwischen den damals fluide werdenden Kulturformen und ihren kreativen Akteuren exemplarisch erlebbar zu machen. So präsentiert ein Schaufenster mit alten Fernsehgeräten die den jungen Pop-Künstlern der quirligen Londoner Szene gewidmete BBC-Fernsehdokumentation „Pop Goes The Easel“ von 1962. Und ein „Music Store“ mit „Soundbar“ und Fotowand inszeniert die Gleichzeitigkeit der kulturellen Ereignisse: die prägenden Netzwerke, Zeitschriften, Modeinszenierungen, Bands und Plattencover.

Die Ausstellung schließt mit Werken und Zeitschriften der Architektengruppe Archigram, die in ihren Projekten aus der Kunst, Musik und Mode ihrer Zeit schöpfen und exemplarische Pop-Architektur bis hin zur Pop-up-Stadt entwerfen sowie der Wandlung des „Swinging London“ zum „Swingeing London“ 1968. Der Bogen der Ausstellung von den frühen Collagen Paolozzis in Paris bis zu Hamiltons Bildrelief mit Mick Jagger und dem Galeristen Robert Fraser in Handschellen macht die künstlerische und kulturhistorische Bedeutung der britischen Pop Art mit allen Sinnen erlebbar – und erschließt diese Zeit als wesentliche Vorgeschichte unseres Heute.