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Vergleichbar der jungen britischen Kunstszene von "Sensation" (Berlin) oder "Emotion" (Hamburg) bietet die Neue Galerie Graz anhand einer thematischen Ausstellung erstmals einen Ein- und Überblick über die Kunstszene in Australien, die in der westlichen Welt so großen Erfolg hat, vergleichbar dem Erfolg der australischen Filmindustrie von Peter Weir (Die letzte Flut, Club der Toten Dichter, Die Truman Show) bis zu Jane Campion (Das Piano) oder der Mad Max-Trilogie mit Mel Gibson. "Telling Tales" ist eine Ausstellung australischer KünstlerInnen zum Thema Erinnerung / Trauma / Verdrängung / kollektives Gedächtnis, über den Umgang mit persönlicher Vergangenheit und der Geschichte einer Nation. Australien sieht sich mit einem kollektiven wie individuellen Trauma konfrontiert, das aus seiner Geschichte und seinem Umgang mit den Aboriginals resultiert. Die Ausstellung behandelt nicht Objekte der Vergangenheit, sondern setzt sich direkt mit dem Prozeß der Erinnerung auseinander. Die KünstlerInnen stellen sich einer Konfrontation mit den persönlichen Traumata ihrer Kindheit genauso wie der kollektiven Verdrängung der kolonialen Vergangenheit ihres Landes.

Sigmund Freud hat 1895 die Psychoanalyse begründet und als Konsequenz daraus schrieb er die "Traumdeutung" (1900) und "Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten" (1905). Die Funktion des Witzes wie des Traumes ist es, verdrängte Inhalte, die auf den Widerstand des Über-Ichs treffen, auf verschobene und verdichtete Weise, gemäß den linguistischen Prinzipien der Metonymie und Metapher, dennoch zu artikulieren. Einer der populärsten Topoi der Witze, die einen empfindlichen Punkt der österreichischen Identität, die seit dem Zusammenbruch des K.K.-Imperiums 1918 schwer beschädigt und verletzt ist, bis heute treffen, handelt von der ständigen Verwechslung von Austria (englisch für Österreich) mit Australien (Australia). Da Australien auch unter dem Namen "down under" bekannt ist, wird klar, daß Österreich diese Verwechslung als pejorativ empfindet. Im Witz, in der Projektion, wird die Wahrheit transparent, die Österreich vor sich verbergen möchte, nämlich die Tatsache, daß Österreich wirklich peripher und "down under" in der Hierarchie der Staaten ist. Die traumatische Erfahrung des Kollaps des K.K. Imperiums wird in einem Witz, in einer Geschichte, erzählt, die gleichzeitig enthüllt und verhüllt. Robert Musil hat mit einem unvollendeten Roman, der von vielen mit den Werken von James Joyce und Marcel Proust gleichgesetzt wird, diese Geschichte des Landes Kakanien, wie Musil die K.K. Monarchie, das spätere Österreich, bezeichnete, als dramatischen Verlust der österreichischen Identität erzählt, und zwar mit dem bezeichnenden Titel "Der Mann ohne Eigenschaften". Ein zeitgenössischer Schriftsteller, Robert Menasse hat Österreich daher "Das Land ohne Eigenschaften" genannt. Amnesie gegenüber seiner Geschichte in der Zwischenkriegszeit und im Dritten Reich war das Ergebnis dieser Verdrängungsprozesse, die als Waldheim-Effekt international bekannt wurden.

Mit diesem Schicksal der Identitätslosigkeit, meiner Auffassung nach ein postkolonialer Effekt, sowohl auf Seiten des Kolonisators wie des Kolonisierten, siehe die Schriften von Fernando Pessoa bis Frantz Fanon, mit denen sie sich mit den multiplen und antinomischen Identitäten Portugals bzw. Algeriens auseinandersetzen, verbunden ist das Schicksal der Moderne in den jeweiligen Ländern, wo deren Entwicklung über Jahrzehnte vehement sistiert wurde. Einer der wichtigsten österreichischen Künstler, Günter Brus, der zum Kreis der Wiener Aktionisten zählte, in deren Aktionen der 60er Jahre das Trauma des Austrofaschismus und dessen Kontinuität nach 1945 in einer Reaktionsbildung, wie Freud sagen würde, in einer negativ besetzten Wiederkehr des Verdrängten (die ausbleibende Reinigung bzw. Klärung von der faschistischen Gesellschaft wurde durch eine Beschmutzung ersetzt), enthüllt wurde, hat 1973 einen Witz gezeichnet, der für diesen Zusammenhang von politischer Amnesie, Identitätsverwechslung und kultureller Anti-Moderne bezeichnend ist. Selbstverständlich ist nicht Australien gemeint sondern Austria und die parodierten künstlerischen Praktiken sind gerade diejenigen, die damals in Österreich von der Avantgarde favorisiert wurden. Ebenso enthüllend wie treffend ist, daß es um eine Ausstellung für den großen Bruder Deutschland geht, der vielleicht eine ähnliche Rolle spielt wie England für Australien.

Es gibt also vielfältige und auffällige, seltsame und selektierte Affinitäten zwischen Austria und Australia, außerhalb des Phonetischen und des Künstlerischen (wie z.B. die in beiden Ländern hervorragenden Leistungen auf dem Gebiet der Body-art, Performance und Medienkunst). Dies ist der Grund für mein Interesse an dieser Ausstellung. Australien könnte für Österreich aufgrund seiner zögernden Aufarbeitung seiner Vergangenheit die Funktion des Spiegels übernehmen. Gemäß der Logik des Witzes und des Unbewußten wie sie in der Zeichnung von Brus zutage kommen, könnte das von Österreich Verdrängte im Namen Australiens wiederkehren. "Telling Tales" würde dann also Geschichten erzählen, die von Österreich handeln und nicht von Australien. Mein Interesse an der Übernahme dieser Ausstellung ist also kulturpolitisch und psychoanalytisch begründet und hat nichts mit jenen vulgären Ausstellungen zu tun, die unter Titeln wie "Junge Kunst aus England" oder "Acht Künstler aus Europa" oder "Kunst aus Skandinavien" etc. eine reaktionäre Geopolitik betreiben. Ein zweiter Grund für die Relevanz dieser Ausstellung ist die internationale Tendenz, daß die Avantgarde zu Ende der 90er Jahre sich mit neuen Formen der Narration auseinandersetzt, um der kunsthistorischen Klammer zwischen Abstraktion und Figuration, den beiden primären, kontrahierenden Bewegungen der Kunst des 20. Jahrhunderts, zu entkommen. Die narrativen Möglichkeiten, welche insbesondere die Medien (von Fotografie bis Film, von Video bis computergestützte Installation) offerieren, werden im Dienste einer Rückkehr des Realen differenziert benützt. Die Differenzierung bezieht sich dabei nicht nur auf die künstlerische Methodik, sondern auf den Begriff des Realen selbst. Es wird nämlich unter Realität nicht eine mimetische Auffassung des Sichtbaren, sondern es geht vor allem um das verdrängte Unsichtbare, um den fiktiven Anteil bei der Konstruktion des Wirklichen, um Erinnerung und Utopie als Aktanten der Gegenwart.

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Telling Tales
Kuratoren: Jill Bennett, Jackie Dunn

Künstler: Ian Abdulla, Dennis del Favero, Tracey Moffatt, Gordon Bennett, Deej Fabyc, Jill Orr, Pat Brassington Julie Gough, Mike Parr, Anne Brennan, Louise Hearman, Catherine Truman, Jon Cattapan, Justin Kramer, Ken Unsworth