press release only in german

Stephanie Kiwitt. Dialogues
Eröffnung: 7. 12. 2016, 20:00

Im Rahmen der Ausstellung »Dialogues« führt die in Brüssel lebende deutsche Künstlerin Stephanie Kiwitt zum ersten Mal verschiedene Arbeiten der letzten Jahre, die sie in Form von Publikationen und Ausstellungsprojekten realisiert hat, in einem gemeinsamen räumlichen Kontext zusammen: unter anderem die Arbeiten »Máj/My« (2015/16), diesen Sommer im Rahmen von Les Rencontres de la Photographie in Arles erstmals umfassend gezeigt, »Choco Choco« (2015) und »GYM« (2013), die letztes Jahr im WIELS in Brüssel zu sehen waren, und die Publikationen Four Oranges, Some Office Buildings, Woman’s Legs (2015), Wondelgemse Meersen (2012) sowie Cornerville (2008). Ergänzt werden diese Serien und Bücher durch den Neudruck des erstmals 2011 als Künstlerbuch in Leporello-Form erschienenen Capital Decor. Nun hat aber Kiwitt für die Ausstellung bei Camera Austria nicht einfach bestimmte Arbeiten aus diesen Serien und Büchern ausgewählt und in eine neue Anordnung gebracht. Sie hat vielmehr die Bücher selbst und Prints aus den Serien in ihrem Atelier arrangiert, übereinandergelegt, diese Konstellationen erneut fotografiert und als Schwarzweiß-Laserkopien im Copy Shop vergrößert. Diese Kopien positioniert sie in zwei Reihen über den Ausstellungsraum verteilt. Die ursprünglichen Unterschiede der Formate, zwischen Farbe und Schwarzweiß, zwischen Print und Buchseite, zwischen Materialien und Oberflächen, werden in diesem neuen Bildraum ausnahmslos vereinheitlicht. Dies ist umso bemerkenswerter, als Stephanie Kiwitt in ihren Serien zumeist mit dem Kontrast zwischen Farbe und Schwarzweiß arbeitet, teilweise auch mit dem Kontrast verschiedener Formate. Für diese Art der Präsentation durch ein einheitliches Bildformat hat die Künstlerin also etwas aufgegeben, und man kann großteils nicht einmal davon sprechen, dass die ursprünglichen Arbeiten in dieser neuen Form präsentiert werden – etwas völlig anderes ist entstanden, von dem man im ersten Augenblick nicht genau sagen kann, was es ist.

Zunächst wurde offensichtlich die Logik einer spezifischen Arbeit, deren Layout und Anordnung, oder die Dramaturgie eines Buches unterbrochen, aufgehoben: etwa die Auswahl spezifischer Bildpaare und die Konfrontation von Farbe und Schwarzweiß, wie in »Choco Choco«, die chronologische Anordnung von ausgewählten Kontaktabzügen, wie in »Wondelgemse Meersen«, oder der Wechsel von Schwarzweiß und Farbe, Mensch und Maschine, wie in »GYM«. Diese Ordnungssysteme waren jeweils die Grundlage für die Auswahl der Bilder, ihre Kombination, ihre Abfolge, das Narrativ der Serien, ein Prozess, der sehr lange dauert, hängt Kiwitt ihre Fotografien doch an den Wänden ihres Ateliers immer wieder um, hängt dieses oder jenes wieder ab, anderes dazu, sondiert und wählt aus, bis daraus eine Serie oder ein Buch entsteht.

Offensichtlich werden diese Ordnungssysteme in der Ausstellung »Dialogues« aufgesprengt, das Ordnen und Auswählen der Kombinationen von Büchern und Prints aus verschiedenen Serien folgt einem anderen (neuen?) Ordnungssystem. In »Dialogues« trifft »Choco Choco« auf Wondelgemse Meersen, »Choco Choco« auf »GYM«, Cornerville auf »Choco Choco«, Wondelgemse Meersen auf »Máj/My« … Neue Anschlüsse von Bild zu Bild entstehen, die es so nie gegeben hat, jedes neue Bild ist ein Sprung in der Zeit und im Raum, zwischen Belgien und Marseille, Prag und Gent … Oder handelt es sich eher um Kollisionen, denn um neue Anschlüsse?

Kiwitts Serien – und die Künstlerin arbeitet ausschließlich in Serien – stellen seit vielen Jahren ganz grundsätzlich die Frage danach, ob sich mit fotografischen Bildern eine Art sinnvolles Ordnungssystem errichten lässt, das über die zentrifugalen, sich scheinbar auflösenden Ordnungen unserer Wirklichkeit erzählen könnte, das diese Wirklichkeiten aufspüren, manifestieren oder zugänglich machen könnte. Immer treffen die Bilder auf diese Wirklichkeiten und errichten eine Spannung zwischen dem, was die Künstlerin vorfindet, und den Bildern selbst. In »GYM« oder »Choco Choco« ist sicherlich die Konstruiertheit der Bilder offensichtlicher als in Cornerville oder »Máj/My«, obwohl es sich niemals um Inszenierungen im engeren Sinn handelt. Doch kann man sich nie ganz sicher sein, in welchem Verhältnis die Konstruktion der Bilder und ihre Zufälligkeit, vielleicht eher ihr Geschehen-Lassen, stehen, oftmals erwecken sie den Eindruck, zugleich zufällig entstanden und doch bewusst konstruiert zu sein.

Die Sichtbarkeit, die sich in Kiwitts Projekten und Büchern wiederfindet, in den Bildern und von einem Bild ins andere, scheint sich somit entlang einer Grenze zu bewegen, an der Planung und Zufall, Schönheit und Abgestoßen-Werden, Interesse und Abkehr, Faszination und Abscheu im Bild verhandelt werden. Denn enthüllen die trainierenden Körper (»GYM«) in ihrer Konzentration auf ein Besser-Werden, Gesünder-Werden, Schöner-Werden, Geliebt-Werden nicht auch einen pathologischen Zug des Sozialen, der uns abstößt? Offenbaren nicht die verführerischen Ströme von Schokolade und die Schönheit der Präzision ihrer endgültigen Form (»Choco Choco«) einen Fetischismus am Genuss und damit eine Abhängigkeit vom Stofflichen, die uns zutiefst verunsichert? Vermittelt die Schönheit städtischen Niemandslandes (Cornerville, »Wondelgemse Meersen«) nicht auch eine Art Leere des sozialen Raumes, seinen Niedergang und seine Auflösung, die uns immer auch beängstigt? Die Radikalität von Stephanie Kiwitts Arbeit – wenn denn dieser Ausdruck zutrifft – äußert sich vor allem subtil, in der Konsequenz, mit der sie das jeweilige Konzept der Serien und Bücher umsetzt, in der präzisen Konstruktion der Bilder, der Kohärenz der Kombinationen, die sich jedoch niemals in den Vordergrund drängen, keine Ausschließlichkeit beanspruchen, sondern die Offenheit eines Entwurfs bewahren. Immer bleibt die Spannung zwischen dem Ordnungssystem der Bilder und dem, was der Wirklichkeit angehört, aufrecht. Insofern eignet den Bildern vielleicht auch eine Art Beunruhigung, weil sie nicht ganz identisch werden wollen mit dem, was sie zeigen, weil es da noch die Logik des Blicks, der Auswahl, der Verkettung der Bilder gibt, die dem Bild eingeschrieben ist. Das Spannungsmoment findet sich schließlich vor allem im Verhältnis des einen zum anderen Bild, da, wo das eine an das andere Bild stößt, ein Übergang, ein Sprung, ein Abstand, der ermöglicht, er-dacht, konstruiert ist, einer Regel folgt, die ebenfalls erdacht und konstruiert ist, die aber das eine mit dem anderen Bild nicht versöhnt, sondern zulässt, dass sich die Bilder gegenseitig befragen, zumindest aber gegenseitig kommentieren. Der Fortgang der Bilder bleibt brüchig, stellt ein Wagnis dar, ist niemals auf Vollständigkeit aus. Im einzelnen Bild sucht die Künstlerin nicht nach dem Aussagekräftigen, nach dem vorgeblich Wichtigen, Besonderen, Bedeutungsvollen. Sie misstraut dem Einzelbild in seiner Wahllosigkeit, als Beleg oder Authentifizierung, so dass das eine Bild immer ein anderes voraussetzt oder generiert. Was bedeutet nun die Auflösung und Neugruppierung, die in »Dialogues« unternommen wird, die einmal etablierten Ordnungen zu unterbrechen, eine Ordnung durch eine andere zu ersetzen, die eigene Arbeit nochmals völlig neu in den Blick zu nehmen oder sie im Hinblick auf zusammenhängende oder übergreifende Logiken der Ordnung der Bilder hin zu untersuchen? Lassen sich dabei die »ursprünglichen« Themen, Kontexte und Erzählungen überhaupt noch ausmachen, oder werden sie gar verstärkt? Geht es auch um die Widerständigkeit der Arbeiten selbst, um die Erfahrung, dass sich die Bilder gegen manchen Übergang zu einem neuen nächsten Bild hin sträuben (einem Bild aus einer ganz anderen Serie, die sich ganz anderen Fragestellungen verdankt)? Führt der Prozess des Re-Arrangierens erneut in die Bilder selbst hinein, Bild für Bild, um sie zu erinnern, erneut zu analysieren und neu darüber zu denken? Was bedeutet es nun also, das Ordnen von Bildern zu einer abgeschlossenen Serie auf einer weiteren Ebene aufzulösen oder zu wiederholen? Was bedeutet diese Wiederholung? Werden die Brüche zwischen den Bildern zugespitzt, die Kollisionen forciert, vielleicht sogar dramatisiert? Legt die Künstlerin in dieser Ausstellung das Augenmerk noch stärker auf den Abstand zwischen den Bildern oder vielmehr auf ihre Ähnlichkeiten, ihre Gemeinsamkeiten, die sich nicht allein formal denken lassen, sondern gerade auf der Ebene ihres Spannungsverhältnisses mit den Dingen der Wirklichkeit angesiedelt sind, in diesem spezifischen Verhältnis, in das Kiwitt ihre fotografische Produktion zur Wirklichkeit setzt?

Nach Jacques Rancière ist Politik genau jene Tätigkeit, die eine gegebene sinnliche Ordnung zerbricht, und Kunst ist nicht politisch durch ihre Themen oder ihre Aussagen, sondern indem sie mit bestimmten Weisen des Zusammen- oder Getrenntseins und bestimmten Formen der Erfahrung bricht. Und dasjenige, das mit bestimmten Formen des Zusammenseins bricht, ist nicht primär das Neue, das Außergewöhnliche, das Besondere oder Überraschende, das Nie-Gesehene, Aufmerksamkeit heischende, sondern das Unvermutete, das Beiläufige und Vernachlässigte, das Immer-Schon-Gesehene und -Gegebene. Das Alltägliche fremd erscheinen lassen, um dessen vermeintliche Natürlichkeit als Konstruktion zu entlarven, um die unwahrscheinlichen Bestandteile dessen Funktionierens ganz plötzlich hervortreten zu lassen, um zu zeigen, was es verdeckt, was es im Grunde nicht herzeigen will, dies scheint die Bildproduktion von Kiwitt voranzutreiben. Und dies gelingt nicht durch ein einzelnes Bild, die Bilder brauchen immer andere Bilder.

»Ein Bild ist nie allein. Was zählt, ist die Beziehung zwischen Bildern«, schrieb Gilles Deleuze. Was passiert also am Übergang vom einen zum anderen Bild, wie verhält sich die Konstruktion des einen Bildes zur Konstruktion des anderen Bildes, was wird aufgegriffen, weitergeführt, widerlegt, noch einmal anders in den Blick genommen, was taucht erst viel später wieder auf? In ihren Büchern und in den Ausstellungen arbeitet Kiwitt immer wieder mit Tableaus, die Bilder zusammenfassen, oder mit Doppelseiten und Diptychen, mit Einschüben einzelner Bilder in Tableaus, mit Gruppierungen, mit festgelegten Abfolgen, mit einer besonderen Dramaturgie des Erscheinens und Verbergens, des Zeigens und Verweisens. Was dabei entsteht, ersetzt nicht die Wahrnehmung oder eine wie auch immer gedachte Wirklichkeit; was dabei entsteht, ist eine Ordnung der Bilder, die ihrerseits weder vollständig ist noch eine Wahrheit behauptet, die sich aber als eine Befragung von Wirklichkeiten verstehen lässt, als ein Raum, ein visueller Raum, in dem zur Disposition gestellt werden kann, was als Wirklichkeit erachtet, behauptet, verkündet oder als selbstverständlich angesehen wird.

In den Büchern und Serien Stephanie Kiwitts zeigt sich, dass wir anhand von Bildern die Welt nicht zeigen, aber anhand von Bildern über die Welt verhandeln, Wissen austauschen, Bedeutungen, Kritik und Alternativen zirkulieren lassen. Es ist eine Art und Weise, visuell über die Welt zu sprechen. Das mag banal erscheinen, doch zwingt es uns dazu, die Ordnung von Bildern zu hinterfragen, jeder visuellen Erzählung zu misstrauen, ist die Bedeutung doch so sehr von der Auswahl und der Anordnung abhängig. Wir sind herausgefordert, in den Bildern etwas zu suchen, das sie selbst möglicherweise nicht zeigen, vielleicht gar nicht zeigen können, jedenfalls nicht in der Art eines Inhalts, sondern eher in der Art ihres Zusammenhangs mit anderen Bildern. Vielleicht fehlt in den Bildern immer etwas, vielleicht gibt es so etwas wie einen blinden Fleck, einen Bereich, in den sie nicht hinein reichen und den sie nicht kontrollieren können, und wir sind herausgefordert, dies in den Bildern zu suchen, etwas, das selbst nicht visuell ist. Stephanie Kiwitt scheint dieses Fehlen in den Bildern nicht nur zuzulassen, sondern es sogar mit auszustellen – eine Ahnung der Fragilität der Bilder.

So sehr also ihre Praxis auf eine Strukturierung der Bilder zurückgeht, so sehr bleiben ihre Serien unabgeschlossen, fragmentarisch, offen für Anschlüsse, für ein Hinzufügen, möglicherweise nicht von weiteren Bildern, aber eines Denkens. Anschnitte, Ausschnitte, Bilder, die über ihren Rand hinausreichen, die weiterführen, woanders hinführen, vielleicht in ein anderes Bild hinein, Ähnlichkeiten aufscheinen lassen, wo zunächst keine zu sehen gewesen wären, zugleich jede Gleichsetzung oder Identität oder gar Identifikation vermeiden, die Bilder weder ins Besondere noch ins Beliebige werfen, Anschlüsse herstellen, Übergänge von einem Bild ins andere zulassen und gleichzeitig auf der Unterschiedenheit der Bilder insistieren, »Unterschiede sichtbar machen, indem Dinge miteinander verbunden werden« (Georges Didi-Huberman). In besonderer Weise gelingt es Kiwitt, ihre Bilder, Serien und Bücher an dieser Grenze anzusiedeln, an der eine Beschreibung etwas eröffnet und ermöglicht, anstatt es auszuformulieren und abzuschließen, eine Grenze, an der die Bilder etwas zur Verfügung stellen anstatt es zu demonstrieren.

Insofern erscheint »Dialogues« nicht als Widerspruch zur bisherigen Praxis der Künstlerin. Sie weitet ihre Praxis lediglich aus, die Unabgeschlossenheit, die Suche nach neuen Anschlüssen und neuen Verkettungen von Bildern ziehen sich jetzt durch Arbeiten mehrerer Jahre. Sie löst die Logik einzelner Arbeiten auf, zeigt dadurch aber zugleich, dass sie einer spezifischen Logik entstammen und eröffnet uns einen Raum der Befragung dieser Logiken. Die ursprünglichen Ordnungssysteme werden zugunsten einer neuen Re-Konstruktion der Bilder aufgehoben, wodurch eine Arbeit und ein Denken mit den Bildern ausgelöst werden kann, das über das Sehen, das Anschauen hinausreicht. In gewisser Weise verstärkt sich so der Eindruck der Konstruiertheit der Bilder und zugleich wird deutlich, dass erst diese Konstruiertheit eine Befragung von Wirklichkeiten zulässt. Diese Befragung ereignet sich nicht ohne zutun, sie muss in Gang gesetzt werden – durch Bilder, die nicht zufällig entstehen und auch nicht beiläufig, die aber andererseits auch nicht so tun, als wüssten sie es immer schon besser, Bilder, denen auch eine Zurückhaltung eigen ist, durch die die Bilder einen Dialog eröffnen, sowohl zwischen den Bildern selbst als auch mit ihren BetrachterInnen.

Reinhard Braun