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Derzeit steht Stan Douglas an einem ganz besonderen Moment seines künstlerischen Werdegangs: Seit 2008 hat er großformatige fotografische Werkserien produziert, und in den jüngsten Werken Musik, Film, Theater, Fotografie sowie digitale Formate aufs engste verwoben, so dass sie gleichzeitig mehreren Medien zuzuordnen sind.

Eine Hauptattraktion der Ausstellung ist die Video-Musik-Installation "Luanda-Kinshasa" (2013), eine fiktive Erzählung über den abwesenden Miles Davis. Neuland betritt Stan Douglas auch mit der Theaterproduktion "Helen Lawrence" (2014), bei der die Darbietung der Schauspieler augenblicklich in eine computergenerierte Umgebung eingefügt wird (zeitgleich zur Ausstellung als Gastspiel in den Münchner Kammerspielen).

Die Ausstellung vereint außerdem die neuesten, überwiegend großformatigen fotografischen Werkserien: "Crowds and Riots" (2008), "Interiors" (2009-2010), "Midcentury Studio" (2010-2011), "Malabar People" (2011) und "Disco Angola" (2012). Diese Fotografien inszenieren historische Momente, vorwiegend aus der Zeit vom Kriegsende bis Mitte der 1970er-Jahre: die Schwarzmarktkultur der Nachkriegszeit und den Übergang zu anderen Formen des Warenhandels, streikende Hafenarbeiter, Demonstrationen für die Redefreiheit sowie die Auseinandersetzung zwischen Hippies und Staatsmacht. Mit der Werkserie "Disco Angola", einer synchronen Betrachtung der Discokultur in New York und der spannungsgeladenen Atmosphäre in Angola, bindet Stan Douglas beide Kulturen in eine übergreifende Narration über Postkolonialismus ein. Auf diese Weise bereichert er die Präsentationen, die sich in jüngster Zeit im Haus der Kunst auf Konzepte der Entwicklung von Modernität konzentriert hatten, um die bewusst fragmentarisch angelegte Erzählung: "Man inszeniert ein Historiendrama in Bruchstücken, die einen dazu anregen, sich eine umfassendere Situation vorzustellen." (Stan Douglas)

"Midcentury Studio", 2010-2011 Nach dem Zweiten Weltkrieg widmeten sich u.a. ehemalige Soldaten der Fotografie, weil sie hofften, vom Fotojournalismus leben zu können. Ein bezeichnendes Beispiel hierfür war Raymond Munro. Stan Douglas schildert dessen Werdegang so: "ein Veteran der kanadischen Luftwaffe, der 1949 beschwipst und mit einer Schlüsselbeinfraktur in Vancouver auftauchte, um sich bei einer Lokalzeitung als Luftbildfotograf zu bewerben. Munro war kein ausgebildeter Fotograf, aber er war sich sicher, dass er ein Flugzeug mit einer Hand fliegen konnte; er bekam den Job." Im Archiv der Fotoagentur Black Star in der Universität Ryerson schaute sich Stan Douglas zahlreiche Bilder aus den Jahren 1945 bis 1950 an. Sie wurden von Autodidakten mit einer unhandlichen 4 x 5" Laufbodenkamera mit Blitz, die langsam zu laden und mühselig einzustellen war, aufgenommen. Die Motive waren Verbrechen, Unfälle, Straßenszenen, Tiere, Mondscheinkneipen, berühmte Leute - alles, was dem Fotografen Geld einbrachte. Für die 29-teilige Schwarzweißserie "Midcentury Studio" schlüpft Stan Douglas in die Rolle eines solchen Fotografen der Nachkriegszeit, der für praktische Zwecke fotografiert und "schlechte Fotos, aber manchmal ... interessante Bilder" macht. In "Camouflage, 1945", 2011 etwa soll die Beleuchtung das Modell eigentlich besser sichtbar machen, tatsächlich aber macht sie es völlig unsichtbar. Und "Athlete, 1946" ist das Porträt eines Sportlers, bei dem das Geschehen am Bildrand vom Thema ablenkt, weil der Moment des Abdrückens ungeschickt gewählt ist.

So sorgfältig Stan Douglas die historischen Ereignisse auch recherchiert und so aufwändig er sie inszeniert - die Fotografien sind dennoch frei von jedem Anspruch auf Geschichtstreue oder Deutungshoheit. Sie geben sich als Mutmaßungen und Fragmente zu erkennen, als eine im Konjunktiv II vorgetragene Erzählung. Stan Douglas wendet eine literarische Technik an: Nach Recherche der historischen Fakten erschafft der Autor eine fiktive Hauptfigur und erzählt aus auktorialer Perspektive, wie es gewesen sein könnte. Auch ein entsprechend konstruierter Roman vermittelt den Eindruck, dass Wissen Stückwerk ist, und Realität instabil.

"Disco Angola", 2012 Die 1974 und 1975 angesiedelte Serie von acht Farbfotografien kombiniert Situationen in Angola und New York. In dieser Zeit führte in Angola die Auseinandersetzung um Unabhängigkeit und Entkolonialisierung zum Bürgerkrieg. Diesmal schlüpft Stan Douglas in die Rolle eines Fotografen, der mit wenig Ausrüstung arbeitet, auf 35mm-Film, bereit schnell zu wechseln und schnell zu knipsen um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, das richtige Bild zu bekommen. "Irgendwie ist es ihm gelungen, das Vertrauen von einigen Rebellen zu gewinnen, die ihn mit wiederum anderen Leuten bekannt machen, die ihm dann die einheimischen Verhaltensregeln beibringen; die nicht zu kennen, wäre tödlich", sagt Stan Douglas über diesen fiktiven Abenteurer. Versklavte Afrikaner, die im 18. Jahrhundert von Luanda aus über die Mittelpassage verschifft wurden, hatten die afrikanisch-brasilianische Kampfkunst Capoeira in die Neue Welt gebracht. Mit "Disco Angola" stellt sich Stan Douglas vor, diese Kampfkunst sei in ihr Heimatland zurückgekehrt.

"Luanda-Kinshasa", 2013 Diese Video-Musik-Installation hat ihre Europapremiere im Haus der Kunst. Sie erzählt von einer Studioaufnahme, die Miles Davis nach der Veröffentlichung seines Albums "On the Corner" im Jahr 1972 hätte gemacht haben können. Etwas naiv war Miles Davis der Meinung, Anleihen bei klassischer indischer Musik und bei Karlheinz Stockhausen seien das richtige Rezept für den Kontakt zu einem jüngeren Publikum. Allerdings beschloss Columbia Records, "On the Corner" mit Blick auf eine ältere Zielgruppe von Jazzfans zu vermarkten; das Album wurde Miles Davis' größter Flop.

"Luanda-Kinshasa" imaginiert, dass Miles Davis - statt mit seiner Tourband bis zu seinem Bühnenabschied 1975 drogenselige Jams aufzunehmen - versucht haben könnte, mit einer anderen, neuen New Yorker Jugendkultur in Kontakt zu treten. Er hätte hierfür etwa sein Interesse an Weltmusik ausdehnen und den Dialog mit dem Afrobeat von Manu Dibango aus Kamerun suchen können, der ebenfalls synthetischen Jazz und Funk fusionierte.

Realisiert hat Stan Douglas das Projekt in einem Nachbau des Columbia-Studios in der 30. Straße, in dem Miles Davis von 1954 bis 1981 alle seine Studioalben aufgenommen hatte. Zeitkodiert und synchronisiert filmen zwei bewegliche Kameras auf Schienen die wartenden, zuhörenden, plaudernden, spielenden Musiker und ihre Entourage. Wie in "Journey Into Fear" (2001) bildet eine begrenzte Anzahl von Kameraeinstellungen und Handlungsfragmenten - hier Ensembleauftritten - die Grundlage für eine nahezu endlose Anzahl möglicher Variationen: Immer wenn ein Musiker oder eine Musikerin nicht im Bild ist, kann seine oder ihre Darbietung durch eine alternative Aufnahme ersetzt werden. Miles Davis selbst ist durch Abwesenheit präsent - im Ensemble von Stan Douglas gibt es keinen Trompeter.

"Helen Lawrence", 2014 Die kinohafte Bühnenproduktion "Helen Lawrence" spielt in Vancouver im Jahr 1948 und zitiert die Ästhetik des Film Noir. Das Setting ist "eine heimtückische, wechselhafte Umgebung mit Polizisten, Rotlichtmilieu, Soldaten, Flüchtlingen, beschädigten Waren und geisterhaften Lovern, die im Treibsand Fuß zu fassen suchen" (Stan Douglas). Die Hauptfigur, Helen Lawrence, ist psychisch instabil und bleibt höchst ambivalent: Hat sie ihren Ehemann getötet, oder war der Mörder ein anderer?

"Helen Lawrence" verbindet Theater mit Film und computergenerierter Bildwelt. Die Schauspieler agieren gleichzeitig als Kameraleute, deren Abbild in übergroßen Projektionen präsent ist. "Helen Lawrence" hatte im März 2014 Weltpremiere am World Premiere Arts Club Theatre, Vancouver, und kommt als Gastspiel an die Münchner Kammerspiele.

Die Premiere findet am Mittwoch, den 18. Juni 2014 um 18 Uhr statt, weitere Vorstellungen am 19., 20., 21., 22., 24., 25. und 26. Juni. Karten an der Tageskasse der Münchner Kammerspiele, den Vorverkaufsstellen von München Ticket oder online über die Homepage www.muenchner-kammerspiele.de. Der Vorverkauf beginnt am 16. April. Akkreditierung für Pressevertreter in der Pressestelle vom Haus der Kunst.

"Circa 1948", 2014 Diese jüngste Arbeit macht das Vancouver der Nachkriegszeit als App erfahrbar. Erstmalig arbeitet Stan Douglas mit diesem Format für iPhone. 31 Geschichten ereignen sich in Hotel, in dem auch "Helen Lawrence" spielt, weitere 14 in einer kleinen Gasse.

Zur Ausstellungsbiografie von Stan Douglas, geb. 1960 in Vancouver, Kanada, gehört neben zahlreichen Einzelausstellungen die mehrfache Teilnahme an der documenta sowie an der La Biennale di Venezia.

Der Katalog erscheint bei Prestel, mit Beiträgen von David Campany, Diedrich Diederichsen, Seamus Kealy, León Krempel, Chantal Pontbriand; in Englisch, Französisch und Deutsch, 49,95 €, ISBN 978-3-7913-5347-0.

Die Ausstellung Stan Douglas: Fotografien wird für das Haus der Kunst von León Krempel kuratiert. Sie ist eine Koproduktion des Carré d'Art in Nîmes und des Irish Museum of Modern Art in Dublin.