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"Was uns an allen Geschehnissen, an denen wir mit oder ohne Interesse teilnehmen, immer wieder zu fesseln vermag, ist einzig die fragmentarische Suche nach einer neuen Lebensweise." Guy Debord

St. Petrischnee versammelt Positionen der 60er und 70er Jahre, die versuchten, die alten Regelwerke der Kunstgeschichte und der Gesellschaft zu erweitern oder zu überwinden. Selten wurde so radikal vorgegangen und die Elterngeneration in Angst und Schrecken versetzt. Eine ganze Jugend-generation war im Aufbruch, um gegen die Auswirkungen des kalten Krieges anzugehen, gegen die kleinbürgerliche Verlogenheit und Engstirnigkeit, gegen die atomare Aufrüstung und den Vietnamkrieg. Subversive Strategien wurden diskutiert und ausprobiert: die Postulierung der freien Liebe, Hausbesetzungen, die Friedensbewegung, der Konsum von bewusstseinserweiternden Drogen, konspirative maoistische Zellen, die Politisierung der Arbeiterklasse, Unterstützung der Guerillatätigkeit in der dritten Welt, Gegenkulturen in den Kommunen... Im Grunde ging es der Jugend um Toleranz, doch schliesslich endeten die Ansätze der einzelnen Gruppen in Absonderung, in der Radikalisierung der politischen Ideen oder in einer politisch passiven "Feierkultur".

Aus dieser Aufbruchstimmung heraus versuchte die junge Generation dem Diktat des Modernismus zu entkommen und auch mit der damals vorherrschenden Kunstrichtung der Minimal Art zu brechen. Ansätze der partizipatorischen Environments zeichneten sich bereits ab, wurden aber erst Jahre später weiter verfolgt.

Als herausragendes Beispiel sind die Arbeiten des Brasilianers Hélio Oiticica zu nennen, der seine Ansätze aus dem Konstruktivismus weiterentwickelte und versuchte, seine Kunst direkt ins Leben einzubeziehen. Sein Ansatz gründete nicht mehr auf der Materialität des einzelnen Werks, vielmehr betrachtete er seine Arbeiten als Erfahrungen in einer postindustriellen Welt. Die Block Experiments in Cosmococa, eine 9-teilige Serie, deren erste fünf Folgen er mit dem Filmemacher Neville D'Almeida produzierte, beruht auf der Idee eines Quasi-Cinemas, das den Betrachter aktiv mit einbezieht. Das Werk ist eine direkte Antwort auf die Repressionen der brasilianische Diktatur, vor der Oiticica Anfang der 70er Jahre nach New York auswich. Gezeigt wird CCI Trashicapes, entstanden 1973, eine Rauminstallation, die Portraits vom Cineasten Luis Buñuel, vom Schauspieler Luis Fernando Guimaraes und Albumcovers von Zappa und Mothers of Invention vereinigt. Die Personen tragen alle ein "Make-up" aus feinen Kokainlinien. Ein Soundtrack mit volkstümlicher brasilianischer Musik untermalt die Bilder, unterbrochen durch Einschübe von Stockhausen, Jimi Hendrix, Strassengeräuschen und einer männlichen Lesestimme. Matratzen und Nagelfeilen laden dazu ein, sich in diesem Kosmos aus Klängen und Bildern treiben zu lassen.

Marc Camille Chaimowiczs Rauminstallation Celebration? Realife Revisited von 1972 wurde erstmals wieder im Jahre 2000 aufgebaut. Die silbernen Wände wirken wie „silverscreens“, auf dem Boden sind Gegenstände gruppiert, denen eine sentimentale Bedeutung anhaftet, wie Blumen, Wäschestücke oder Masken, ; das Theaterlicht wird durch die Reflexionen von Discokugeln gebrochen. Der Sound von David Bowie oder den Rolling Stones bestimmt die Atmosphäre. Im Gegensatz zur minimalistischen Neutralität der Zeit versucht Celebration? Realife, eine exzessive Subjektivität herzustellen: Die Abkehr vom permanenten Objekt hin zu einem zeitabhängigen Prozess, der auch den Betrachter involviert, die Abkehr auch vom Glauben an eine sozialpolitische Arbeit, welche die Kunst nicht nur auf Information reduziert. Für Chaimowicz steht die Sinneswahrnehmung und die Metaphorik im Vordergrund - Vorbilder sind sowohl unheroische Gestalten aus der Literatur, wie Leopold Bloom in Ulysses von James Joyce, als auch "Nachtschattengewächse" in ihrer dandyhafte Attitüde , anknüpfend an die französische Tradition von Baudelaire und Proust über Gide und Camus bis hin zu Genet.

Seit Ende der 60er Jahre filmt Michel Auder seine bohemehafte Umgebung in New York. Die Szene der Schauspieler, Fotomodelle, Musiker, Filmemacher und anderer Künstler bildete seinen Hintergrund und lieferte ihm den Stoff für Filme und Videos. Sein Blickwinkel ist unhierarchisch und intim. Auder verzichtet auf die konstruierte Objektivität des Dokumentarfilms und lässt sich eher mit kontemplativer Meditation vergleichen. 1971 begleitete und filmte Michel Auder die Cockettes bei ihrer Visite in New York, der die legendäre Performancegruppe zum Absturz brachte. Die Cockettes kamen aus der Hippie-Szene San Franciscos und schlugen von 1969 bis 1972 die Medien und die Undergroundszene in ihrem Bann. Ihre Performances improvisierten sie frei aus einem Lebensgefühl heraus, das auf Drogen, Glam-Rock und wilden Outfits basierte. Berühmt wurden sie wegen ihres Gender Crossing als Drag Queens mit subversivem politischen Humor. In San Francisco waren sie die Lieblinge der Kulturszene. Doch 1972 nach New York eingeladen, kollabierte ihr Ruhm ins Nichts - in einen Kulturschock zwischen Ostküste und Westküste. Die New Yorker, die glatte Professionalität gewohnt waren, konnten mit dem ruppigen Dilettantismus der Gruppe nichts anfangen.

Die Japanerin Yayoi Kusama hatte die Hochphase ihres Schaffens in den 60er und frühen 70er Jahren in New York, bevor sie wieder in ihre Heimat zurückkehrte. Kusama gilt als Vorreiterin der Pop Art, speziell der seriellen Arbeiten Andy Warhols. Eine Schlüsselfigur zu Beginn des Zeitalters von Installationen und Performances propagierte sie zum ersten Mal aktualitätsbezogene Inhalte, was auf einen Bruch mit der etablierten Kunstkritik hinauslief. Inhalte, die den Vietnamkrieg radikal anprangerten oder Themen wie Bulimie oder Sexismus in der Kunst aufgriffen. Doch grundlegend bleibt Yayoi Kusamas Thema die Auslöschung des Selbst in der Unendlichkeit des Universums. Es ist der Kampf gegen die japanische Erwartungshaltung einer kollektiven Seele, die keine individuellen Seitensprünge toleriert. Kusama bedeckte Leinwände mit netzartigen Strukturen, später traten Polka Dots (grosse Punkte) hinzu. Sie benutzt phallische Skulpturen für ihre Installationen aus Stoff, mit denen sie ganze Environments überzieht. Die Materialisierung dieser halluzinatorischen Punkt-Welten bis ins Unendliche zeigt sich auch in ihren verspiegelten Installationen Love Forever ,1969/2000 und Fireflies on Water, 2000. Beide Installationen ziehen den Betrachter in die endlose Weite des Selbst, widergespiegelt vom Universum.

Die Schweizer Künstlerin Manon beschäftigt sich seit 1974 mit dem Thema der Identität, der Selbstdarstellung und des Images. Manon präsentiert sich mit Requisiten, Insignien und Environments, die ein persönliches Weltbild vermitteln, und destilliert Bilder, die den gesellschaftlichen Umbruch der 70er Jahre beschreiben. Die Liberalisierung der Sexualität, die Befreiung von gesellschaftlichen Regeln und Drogen sind ihre Grundpfeiler. Gezeigt wird im migros museum für gegenwartskunst die schwarz-weisse Fotoserie Dame au crane rasé , eine Arbeit die 1978 in Paris entstand. Es sind Bilder des gefallenen Stadtengels, der zwischen mondänem Leben und der Isolation in der Grossstadt hin und her pendelt. Ihr Augenmerk gilt dem individuellen Freiraum, denn die Selbstdarstellung ist ein Code, der dem Gegenüber ein Vertrautsein oder Fremdheit vermittelt, -der aber auch - wie Camouflage - in täuschen kann.

Bei einem Rockkonzert der Gruppe The Who im Londoner Roundhouse hatten Gustav Metzgers Liquid Crystals 1966 Premiere. Die kaleidoskopartigen Strukturen aus Flüssigkristallen lieferten ein psychedelisches Bühnenbild. In der gesellschaftlichen Aufbruchstimmung der 60er Jahre entwickelte Gustav Metzger seine Idee der "Autodestructive Art". In fünf Manifesten erörtert er die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Kunst nach Holocaust und Hiroshima. Die Flucht aus dem faschistischen Deutschland 1939 hat Gustav Metzger die Möglichkeit der Vernichtung der eigenen Existenz gezeigt und den Künstler jüdischer Abstammung bis heute geprägt. Seine Strategie zur Rückeroberung des Terrains der Kunst besteht in der Schaffung der "Autodestructive Art", einer Kunst, der ein Selbstzerstörungsmechanismus innewohnt und die sich durch diesen konstituiert. Die Idee der autodestruktiven Kunst erweitert Metzger später um die Dimension der autokreativen Kunst, zu der auch die Liquid Crystals gehören. Dahinter steckt das Konzept eines Werkes, das sich aus sich selbst erschaffen kann, ohne die bestimmende Hand des Künstlers.

Theo Altenberg war Kommunarde in der Otto-Mühl-Kommune des Friedrichshofs bei Wien. Dort fotografierte er das Leben der Kommune von 1973 bis 1978. Diese Bilder dokumentieren eines der radikalsten Experimente mit alternativen Lebensformen. Das Kommunenleben war ein Leben der grossen psychologischen Selbstbespiegelung, abgeschottet von der Aussenwelt. Es wurden die verschiedensten Formen der freien Liebe und der Sexualkultur durchgespielt. Das dabei freigewordene Potential fand seinen Niederschlag in Drehbüchern, Fotoarbeiten, Malerei - neue soziale Utopien und Disziplinen wie Demokratieforschung oder Sprach- und Austauschanalysen entstanden. Laut Altenberg war die Kommune "im Besitz der konsequentesten linken Praxis, weil wir das Gemeinschaftseigentum verwirklicht und die Eifersucht überwunden hatten, weil wir die Revolte hedonistisch deuteten und mit psychoanalytischer Theorie verbanden." Dieser Versuch scheiterte 1990 mit dem Zusammenbruch der Monarchie von Otto Mühl. Pressetext

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St. Petrischnee
mit Theo Altenberg, Michel Auder, Marc Camille Chaimowicz, Neville D´Almeida, Yayoi Kusama,  Manon , Gustav Metzger, Hélio Oiticica