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Erinnerungen können süß sein oder schmerzhaft. Mal schwelgen wir in ihnen, mal trügen sie, mal verlassen sie uns. Es gibt Erinnerungen, die wir um keinen Preis verlieren möchten, und andere, die wir möglichst zu umgehen versuchen. Ein bestimmter Geruch kann ausreichen, um einen ganzen Lebensabschnitt zu vergegenwärtigen, ob wir es wollen oder nicht.

Unser Verhältnis zur Vergangenheit ist vom Wissen um die unüberbrückbare Distanz zu ihr geprägt. Einzig die Erinnerung vermag Vergangenes wieder ans Licht der Gegenwart zu holen; ein Vorgang allerdings, der nicht ohne Interpretation und Selektion abläuft und damit per se konstruiert und lückenhaft ist. Eine nahezu melancholische Komponente enthält sie überdies: Um ins Bewusstsein zu gelangen, muss die Erfahrung, auf die sie sich bezieht, erst abgeschlossen sein – Erinnerung setzt immer einen Verlust voraus. Und doch ist sie nicht nur zurückgewandt, sondern bietet zukunftsweisendes Potenzial: Wir nutzen Erinnerungen zur Bestätigung der Gegenwart, zum Anstoß von Erneuerungen oder zur Befragung des eigenen Standpunktes. Erinnerung dient der Selbstvergewisserung, sie stiftet Identität. 

Der Diskurs über Erinnerung hat mit der steten Medialisierung unserer Gesellschaft, der Immaterialisierung aller Daten und den damit verbundenen Möglichkeiten, das Gedächtnis zu veräußern, zunehmend an Bedeutung gewonnen, was sich auch in der zeitgenössischen Kunstproduktion niederschlägt. In der Beschäftigung mit Erinnerung ist der Raum (und zwar nicht im Sinne eines Punktes auf der Landkarte, sondern als soziales Gefüge) die vielleicht wichtigste Kategorie. In Räumen werden Erinnerungen gespeichert und konserviert, geordnet und festgeschrieben. Dafür ist die Kunst ein treffendes Beispiel: Einmal in den Kanon musealer Sammlungen aufgenommen, verkörpert sie nicht nur einen Teil unseres kollektiven Gedächtnisses, sondern ist auch selbst maßgeblich an dessen Produktion beteiligt. Im Aufbau von Erinnerungsräumen kommt KünstlerInnen daher eine besondere Rolle zu: Sie kommunizieren zwischen Epochen und Generationen und tragen dazu bei, dass der Fundus unseres gemeinsamen Wissens nicht verloren geht. Gleichzeitig sind ihre Werke nicht selten kritische Auseinandersetzungen mit diesem Wissen, indem sie den gegebenen Kanon der Geschichtsschreibung unterwandern oder befragen. Kunst kann also selbst als eine Technik der Erinnerungsschreibung betrachtet werden.

Die Ausstellung Räume der Erinnerung widmet sich sowohl den Medien des Speicherns und Archivierens von Erinnerung als auch der künstlerischen Reflexion von Geschichte. In den Werken der sechs Künstlerinnen und Künstler entfaltet sich einerseits auf lebendige Art und Weise, wie Erinnerungen, die zunächst immer auf einer individuellen Erfahrung beruhen, allgemein verbindlich werden können. Andererseits beschäftigen sie sich mit der Zerstörung und Überschreibung von „Erinnerungsdenkmälern“, thematisieren die Vergänglichkeit und Veränderbarkeit von Erinnerung oder behandeln die Rekonstruktion, Neustrukturierung von Gedächtnisräumen und die Lücken in ihnen.

Anri Salas (*1974, Tirana) Videoarbeit Byrek (2000), steht ganz im Zeichen eines identitätsstiftenden Rituals, das der Künstler offensichtlich zu bewahren versucht: die tägliche Byrekzubereitung seiner eigenen Großmutter. Persönliche Erinnerungen an die eigene Familiengeschichte überlagern sich hier mit der allgemeinen Schwierigkeit, die Traditionen der eigenen Herkunft über räumliche und zeitliche Distanz zu wahren und weiterzugeben.

Auch in Kader Attias (*1970, Seine-Saint-Denis) Bodenskulptur Couscous (2009) ist Essen gleichermaßen existenzielles Lebensmittel einer bestimmten geografischen Region und Träger individueller Erinnerung. Das Getreide ist zu einer leicht hügeligen Landschaft aufgeschüttet, die allerdings von Leerstellen durchsetzt ist. Die Löcher rufen Assoziationen an die Auslöschung oder das Verschwinden ganzer Städte und Völker hervor. 

Erinnern und Vergessen, Schreiben und Überschreiben ist ebenfalls für Mircea Cantors (*1977, Oradea) Videoarbeit Tracking Happiness (2009) zentral. Weiß gekleidete Frauen laufen hintereinander im Kreis. Jede hält einen Besen in der Hand, mit der sie die Spur ihrer Vorgängerin verwischt und gleichzeitig selbst eine neue hinterlässt, die ebenfalls im nächsten Moment überschrieben wird. Wie ein Mantra wiederholt sich der Reigen unaufhörlich und spielt auf die Unmöglichkeit von Dauer und Ewigkeit an.

In Cyprien Gaillards (*1980, Paris) Fotoserie Geographical Analogies (2006-2012) ist die Vergänglichkeit bereits mit der Auswahl des Materials beschlossene Sache. Der sich beständig weiterentwickelnde Bilderatlas ist ein Schlüsselwerk seiner langjährigen Erforschung des Verhältnisses von Natur und Architektur. In einer Art Schaukasten präsentiert, zeigen die Polaroidserien eine sehr persönliche Auswahl von Naturstätten, mythisch aufgeladenen Orten, gebauten Denkmälern und urbanem Leben im Allgemeinen. Gaillard geht es weniger um Verlust, auch wenn er immer wieder Verfall und Zerstörung dokumentiert. Vielmehr ist er fasziniert von den Transformationen, denen unsere Umwelt unterliegt. So steht die Bildersammlung eindrücklich für eine Parallelität verschiedener Zeiten im Raum.

Tatiana Trouvé (*1968, Consenza) versteht den Prozess des Zeichnens selbst als Gedankenprozess: Im seriellen Zeichenvorgang findet eine ständige Produktion immer neuer Erinnerungsräume statt. Die so entstehenden Räume sind schwer fassbar und erscheinen wie die Erinnerung selbst eher fluid als statisch. Es entsteht der Eindruck, dass das Vergessene und Abwesende genauso Teil der Zeichnungen ist wie das Sichtbare. Dies verleiht den Arbeiten eine nahezu schlafwandlerisch-träumerische Aura.

Bei Dominique Gonzalez-Foersters (*1965, Straßburg) Rauminstallationen handelt es sich um begehbare Zimmer, in denen sich biografische Erinnerungen mit Reminiszenzen aus Literatur und Film verweben. Die von ihr eingerichteten Wohnräume erzählen mit reduzierten Mitteln, insbesondere durch den präzisen Einsatz von Licht und Farbe, von Menschen und Ereignissen. Diese Gedächtniskammern können autobiografisch geprägt sein oder auch das Leben anderer betreffen, nie erschöpfen sie sich in der bloßen Darstellung einer subjektiven Erfahrung, sondern sind immer auch ein über das Individuum hinausweisendes Zeugnis einer bestimmten Zeit.

Räume der Erinnerung ist eine Ausstellung mit Preisträgern und Nominierten des Prix Marcel Duchamp. Seit 2000 wird der französische Kunstpreis einmal jährlich von der ADIAF (Association pour la Diffusion Internationale de l’Art Français – Vereinigung zur internationalen Verbreitung der französischen Kunst) an jeweils einen in Frankreich lebenden Künstler vergeben.

Kuratiert von Elodie Evers

Zur Ausstellung erscheint eine Publikation im Kehrer Verlag mit Texten von Kathrin Barutzki, Elodie Evers, Philipp Fürnkäs, Magdalena Holzhey, Doris Krystof, Miriam Lowack, Heike Munder, Harriet Zilch und anderen.