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Seit Ende der 1980er-Jahre hat die britische Künstlerin Rachel Whiteread (geb. 1963 in London) ein einzigartiges Œuvre von Abgüssen von Einrichtungsgegenständen und Räumen geschaffen. Ihre Arbeiten laden zu intimen Erfahrungen ein, beschwören Assoziationen herauf und erzeugen oft ein Gefühl von Abwesenheit und Verlust. 1993 erhielt sie den renommierten Turner-Preis, und 1997 wurde ihr für ihren Beitrag zur Biennale in Venedig eine Medaille verliehen. Sie hat ihre Arbeiten weltweit in zahlreichen Einzelausstellungen präsentiert und bedeutende Werke für den öffentlichen Raum geschaffen, u. a. das »Holocaust-Mahnmal« (2000) in Wien, »Monument« (2001) in London und »Water Tower« (1998) in New York.

Spricht man von einer bestimmten Atmosphäre im Raum, sagt man metaphorisch, er sei von Angst, Trauer, Anspannung oder dergleichen erfüllt. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die vorausgesetzte Leere des Raums, die einem erlaubt, ihn mit etwas zu füllen. Kaum jemand hat diesen Vorgang des Füllens so wörtlich genommen wie die britische Künstlerin Rachel Whiteread, die Räume ausfüllt – mit Industriematerialien wie Gips, Beton, Gummi, Polyesterharzen und anderen Substanzen. Sobald das Material hart geworden ist, wird die äußere »Hülle«entfernt. Die entstandene Skulptur weist an ihrer Oberfläche die Abdrücke des sie vormals umschließenden Materials auf. Mit ihrem Negativabgussverfahren verwandelt die Künstlerin Leerraum in Volumen. Whitereads Werke sind meist Abgüsse von Innenräumen von Möbeln oder Gebrauchsgegenständen wie z. B. Matratzen, Schränken oder Badewannen. Seit 1990 wendet sie sich auch größeren Dimensionen zu: ganzen Wohnräumen und sogar einem Haus sowie einzelnen Architekturelementen wie Böden, Türen und Treppen. Fast alle ihre Werke zeichnen sich durch eine gewisse Monumentalität aus. Material und Form der Objekte verleihen den Arbeiten mitunter eine überwältigende Kompaktheit. Ihre massiven Kolosse lösen eine Kette von emotionalen, symbolischen, metaphorischen, persönlichen oder gar moralisch-politischen Reflexionen aus.

»Ghost« (National Gallery, Washington D.C.),1990, ist das erste auf einem architektonischen Raum basierende Projekt. Es zeigt den Abguss eines fast quadratischen Wohnzimmers eines typischen viktorianischen Reihenhauses Nord-Londons. Whiteread hat den Raum von allen »überschüssigen« Objekten befreit und sich auf dessen reine architektonische Form konzentriert. Alles, was sonst Raum einnimmt, gibt hier, am Kunstwerk, Raum und umgekehrt: der Kaminerker stülpt sich nach innen, die Fensternischen haben Masse und wölben sich nach außen, Türrahmen, Leisten und Schwellen sind am Objekt Rinnen und Hohlräume.

»House« entstand zwischen August und Oktober 1993 und wurde im Januar 1994 zerstört. Die Arbeit war der Abguss eines viktorianischen Arbeiterwohnhauses. Das Reihenhaus stand frei auf einer Brachfläche im Londoner Stadtteil Bow, da die angrenzenden Gebäude bereits abgerissen worden waren. »House« wird häufig als politisches Statement zu den Auswirkungen der fehlgeschlagenen Regionalplanung auf die Lebensverhältnisse in diesem Viertel angesehen.

Rezeption und Interpretation von Whitereads Objekten kreisen um die Themen Erinnerung, Vergangenheit und Gegenwart, Privatsphäre und Öffentlichkeit, Intimität, häusliches Leben, Kindheit, Verlust und Tod. Der Betrachter sucht nach Indizien für sein vages Gefühl, in den Räumen persönliche Spuren ihrer Bewohner zu entdecken oder projiziert seine Vorstellungen davon hinein. Doch die Uniformität der Gips- oder Betonklötze stellt sich diesem Habitus der Raumkonstitution anhand narrativer Erinnerung in den Weg. Die Räume selbst weisen keine wahrnehmbaren Elemente auf, aus deren symbolischer Aufladung sich eine persönliche Raumbedeutung oder gar Geschichte ablesen ließe. In diesem Zusammenhang steht auch die Thematik von Verlust und Tod. Mit dem Erstarren von Raumvolumen geht nicht nur die Möglichkeit des Seins in ihm verloren: Der homogene, starre Raum gibt keine Identität seiner Bewohner mehr preis. Hinzu kommt, dass Material und Form der Objekte eine gewisse Ähnlichkeit mit Grabmalen oder wie bei »Ghost« mit Mausoleen aufweisen, was Assoziationen zum Thema Tod nährt.

Die Ausstellung im Kunsthaus Bregenz ist die überhaupt erste große Einzelausstellung von Rachel Whiteread in Österreich. Sie ist dem Haus als zentralem Thema ihres Werks gewidmet. Der Bogen der Präsentation umspannt Grundelemente des Hauses wie die Treppe in »Untitled (Upstairs)«, 2000–2001, die drei Bodenabformungen »Untitled (Bronze Floor)«, 1999–2000, »Untitled (Cast Iron Floor)«, 2001, und »Untitled Floor (Thirty-Six)«, 2002, einen kompletten Raum mit der Skulptur »Untitled (Room 101)«, 2003, sowie die neue 14-teilige Serie »Untitled (In Out I–XIV)«, 2004, mit Abformungen von Türen verschiedener Londoner Gebäude, die Rachel Whiteread speziell für Bregenz realisiert hat.

Der ursprüngliche Raum 101 der in Bregenz ausgestellten Arbeit »Untitled (Room 101)«, 2003,war ein Büro im Broadcasting House der Londoner BBC-Zentrale, in der George Orwell während des Zweiten Weltkriegs eine Zeit lang in der Indian Section des Eastern Service arbeitete. Der Raum lieferte Orwell die Inspiration für die Folterkammer in seinem Roman »1984«. Auf Einladung des BBC nahm Whiteread einen kompletten Abguss des Zimmers. Wenngleich der ursprüngliche Raum zu Orwells Zeiten vermutlich anders aussah, wird durch dessen Abformung die Skulptur über die bloße Form hinaus mit Erinnerung aufgeladen.

Seit den frühen 1990er-Jahren macht Rachel Whiteread Bodenabdrücke: »Ich habe schon früher im Atelier Bodenabgüsse gemacht. Ich dachte immer, die sind wie die Eingeweide eines Hauses, wie die versteckten Winkel, die sonst niemand zu Gesicht bekommt.« (Rachel Whiteread in einem Interview mit Andrea Rose) Die Künstlerin betrachtet ihre Boden-Arbeiten als niemals abgeschlossen, da sie von den Schritten der Besucher verändert werden können. Die Spuren der Schritte aus der Vergangenheit überlagern und vermischen sich mit den Schritten der Gegenwart. Im Fall von »Untitled (Bronze Floor)«, 1999–2000, handelt es sich um einen Abguss des Bodens aus dem Haus der Kunst München, der auf die Mitte der 1930er-Jahre zurückgeht, in der in Deutschland der Nationalsozialismus an der Macht war. Die Überführung von einem Zeugnis desselben in ein zeitgenössisches Gebäude löst unausweichlich Erinnerungen an die Vergangenheit aus, was den Gehalt der Skulptur verdichtet.

Bei »Untitled (Upstairs)«, 2001, handelt es sich um einen Abguss der Treppe des Hauses im Londoner Stadtteil Bethnal Green, das die Künstlerin und ihr Partner gekauft haben. Auf dem Grundstück stand ursprünglich eine Kirche, später eine Synagoge, die im Zweiten Weltkrieg bombardiert wurde. Der Umstand, dass die Arbeit ein Element des eigenen Lebens- und Arbeitsplatzes wiedergibt, fügt ihr eine weitere Bedeutungsebene hinzu.

Whitereads Treppen entfernen uns in doppelter Hinsicht von der Realität. Der leere Raum unter der Treppe wird zunächst dadurch negiert, dass er in eine undurchdringliche geschlossene Form verwandelt und dann um seine eigene Achse gedreht wird, wodurch die Gesetze von Orientierungssinn und Schwerkraft aufgehoben erscheinen. Solche gleichermaßen fremdartigen wie vertrauten Konfigurationen zwingen einen dazu, sich selbst auf dem Weg nach oben oder nach unten vorzustellen. Rachel Whitereads Treppen stellen so die Glaubwürdigkeit unserer Wahrnehmung in Frage und verkörpern Absurdität und Unmöglichkeit.

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