press release only in german

Die Zeit der Flaneure

Die politische Moderne begann in einem Ausnahmezustand. Mit dem Anbruch der französischen Revolution drang eine bis dato nicht gekannte Vielstimmigkeit von Meinungen und Postionen in die ehemals wohl geordneten Pariser Boulevards. Jeder Bürger war plötzlich frei sich und seinen Gedanken mittels Plakaten, Flyern und Pamphleten Öffentlichkeit zu verschaffen. Scheinbar unverrückbare Wahrheiten oder einfach nur profane Banalitäten konnten unvermittelt an jeder Straßenecke proklamiert werden. Diese neu entstandene vielstimmige Atmosphäre war derart einschneidend und komplex, dass sie die Aufnahmefähigkeiten des einzelnen bei Weitem überschritt. Was durch sie erzwungen wurde, waren neue Formen der Informationsbewältigung neue Arten der mentalen Selbstorganisation. Es waren feinsinnige Zeitgenossen, wie der Poet und Kunstkritiker Charles Baudelaire, welche auf die ungewohnten Gegebenheiten reagierten. Mündig und doch scheinbar ziellos durchstreiften sie, die nun ständigen Wandlungen unterzogene Stadt. Als Flaneure begannen sie die inzwischen vielfach gebrochenen Fassaden ihrer Zeit neu zu erschließen. Die Flaneure übernahmen hierbei keine vorgegebenen Routen, sondern entschieden spontan. Sie erotisierten das gesehene, schrieben Folgen von Annäherungen und Aneignungen in den Körper der Stadt. Als Suchende versenkten sie sich ins vielstimmige Raunen ihrer Umwelt, um diese im Laufe von spontan, aber durchaus fundiert gewichteten Entscheidungen überhaupt verständlich entstehen zu lassen. Ihre Art und Weise Wissen zu verarbeiten, den Stadtraum als interaktive Oberfläche neu zu denken, kann in seinen Auswirkungen kaum unterschätzt werden. Die eher statischen Institutionen der medialen Aufmerksamkeitsökonomie unserer Tage, genauso wie die schillernde Künstlerpersönlichkeit eines Marcel Duchamp wären ohne die Flaneure des 18. Jahrhunderts nicht vorstellbar. Umso mehr verwundert es, dass gerade der Kunstbetrieb den Flaneuren bis heute eher kritisch gegenüber steht. Deren nicht fassbare Dynamik und Zielgerichtetheit, welche Bewegung (innerlich wie äußerlich) in sinnstiftenden Momenten entfesselt, wurde in den White Cubes der Galerien und Museen zwar durchaus fasziniert, aber eben doch auch voller Angst betrachtet. Die Gefahr für die deklamatorische Potenz des Ausstellungsraumes, für die Faktizität der Kunstwerke (als Waren, Fetische und Archivobjekte) wurde stets als zu gravierend angesehen, um Flaneuren den freien Zutritt zu den Sphären der Kunstinstutitionen zu gestatten. Allein die Mehrzahl der modernen künstlerischen Positionen, welche sich etwa seit Ende des 19. Jahrhunderts in den Traditionslinien der Kunstgeschichte, in den unbändigen Impulsen der menschlichen Kreativität neu zu verorten begannen, müssen (bewusst oder unbewusst) als grundlegend Verwandt mit den Ideen und Konzepten der Flaneure verstanden werden.

schmidZeitgenössische Künstler, das ist inzwischen Konsens, beleben keine isolierte Sphären der hohen Kunst. Das taten Künstler übrigens nie. Sie drangen und dringen tief in die Ströme der Zeichen, Fiktionen und sozialen Gegebenheiten ihrer Zeit. Die nur scheinbar zeitlosen Tempel der klassischen Kunst sind dementsprechend schon lange verfallen. Auch dies kann als Reaktion auf Phänomene wie jenes der Flaneure gelesen werden. Die Fragen welche sich damit für den Kunstbetrieb formulieren, scheinen jedoch kontinuierlich ungehört zu verhallen. Zu sehr ist dieser noch immer in einer grundlegend bürgerlich organisierten Ökonomie verwurzelt. Die Beispiele in denen aktuellste Kunstwerke in ihrer vollen inhaltlichen und medialen Vielschichtigkeit in den öffentlichen Raum getragen werden, sind dementsprechend rar. Die von Anne Neukamp und Renaud Regnery geleitete Ausstellungsfläche SOX in der Berliner Oranienstraße, ist eines dieser Beispiele. Bei dem SOX Projekt handelt es sich um ein nur wenige Quadratmeter umfassendes Schaufenster, welches mitten in einer der bekanntesten Ausgehmeilen Berlins zu finden ist. Touristen, Anwohner, Besucher der diversen Shops der Straße, sowie Nachtschwärmer drängen sich täglich um das SOX, welches äußerlich nur durch punktuelle Eingriffe als Ort der Kunst zu erkennen ist. Die Soxbetreiber setzen also voll auf die irritierende Problematik, der von ihnen gezeigten Kunst. Sie setzen diese einer geschwätzigen städtischen Öffentlichkeit aus, die, so könnte man meinen, wenig Rücksicht auf leise Sprechende nimmt. Anne Neukamp und Renaud Regnery jedoch vertrauen der Strahlkraft von Kunst und der Sensibilität seiner Betrachter. Und das Herausstechende in diesem Kontext ist: es funktioniert. Im Tagesrhythmus der Straße, als Teil einer sie umfassenden, urbanen Normalität entwickeln sich die verschiedenen Arbeiten in einem ständigen Veränderungen unterworfenen Licht. Unterschiedliche Passanten und Tageszeiten erzeugen hier Kommunikationssituation, wie sie in einem Museum nie denkbar wären. Neben amerikanischen Touristen stehende türkischen Mütter beispielsweise werden kurz aus der Einförmigkeit ihres Alltages entführt. Die Widerständigkeit und Komplexität der Arbeiten zieht scheinbar an, geht nicht unter im Lichte dominanterer öffentlicher Zeichen, wie so gerne befürchtet wird. Manche Passanten bleiben stehen, manche wagen nur einen kurzen Blick. Die geraden Vektoren ihrer Wege werden auf jeden Fall wie von einem Magneten verändert.

Bild Tag

Und auch die Kunstwerke scheinen hierbei auf eine besondere Art zu schillern, sich in ihrer Konsistenz zu ändern. Außerhalb der klassischen Ausstellungsräume beginnt man diese eben nicht mehr als statische Artefakte, sondern als Bruchstück ihrer Zeit, als im Erleben, im dynamischen Aneignen von Lebenswirklichkeiten und kulturellen Wissen fundierte Konzentrate zu verstehen. Vielleicht mussten es gerade Künstler wie Anne Neukamp und Renaud Regnery sein, die uns wieder beinahe beiläufig jene innere Kraft und Dynamik, jenen aus dem unfertigen Wesen des Menschen gespeisten Impuls des künstlerischen Wirklichkeit-Schaffens spüren zu lassen. Hierbei ist die Variabilität Neukamps und Regnerys eines der zentralen Charakteristika ihrer kuratorischen Arbeit. Wie man gerade anhand der aktuellen Schau Podrostok sehen kann, ist ihr Programm eben nicht durch Beschränkungen auf einzelne Medien wie Beispielsweise der Photographie gekennzeichnet, sondern die zeitgenössische Kunst wird in ihrer unbändigen Breite angegangen. Die Lust am Ausstellen, das Experimentieren, das kreative Suchen nach mutigen Positionen zeichnet die beiden Organisatoren grundlegend aus. Die Dichte, die sie in ihren Ausstellungen wiederholt erzeugen, sollte hierbei jedem professionellen Austellungsmacher zu denken geben.

Die Podrostok Schau kann gleichwohl als Verdichtung einer inzwischen schon zwei Jahre andauernden Ausstellungstätigkeit angesehen werden. Zwischen Photographie und dieses Medium interpretierender Malerei, zwischen Skizzen, Readymades und installativen Arbeiten erzeugen sie ein künstlerisches Interaktionsfeld, in welchem Blicke, Perspektiven und Einsichten in einer unmöglich zu überblickenden Vielfalt gebrochen und gespiegelt werden. Nichts in (und an) diesem Schaufenster ist Dekor oder einfach nur Ablage. In den Winkeln und Oberflächen eines mehrfach gebrochenen, an einen zerrissenen Holzstern erinnernden Regalsystems von Nicoll Ullrich hängen Bilder, Ketten und Apparate. Die kreisförmigen, geometrischen Zeichnungen von Achim Kobe an der Rückwand des Schaufensters scheinen den Betrachter zwar auf eine Art in den Raum zu ziehen, die Rückwand selbst in einem Strudel transparent zu machen. Sie werden jedoch, je nach Perspektive, immer wieder von einzelnen Arbeiten überlagert, gehen mit diesen eine fast schon spielerische Beziehung ein - was ihre formal eher strenge Oberfläche auf eine interessante Art neu lesbar macht. Um diese Masse an Informationen zu bewältigen, verspürt man beinahe augenblicklich den Impuls sich zu bewegen. Die Podrostok Ausstellung erzeugt auf wenigen Quadratmetern Fläche eine kommunikative Landschaft, ein Panoptikum, welches tiefe Einblicke ins kreative Herz unserer Zeit/Geschichte ermöglicht. Wir lernen hier Bewegung, das kaum bewusste, flüchtige Changieren von Informationen als essentiellen Teil unserer Wirklichkeit zu verstehen. Vor diesem Schaufenster werden wir alle zu Flaneuren die gelernt haben die bewegten Szenerien der Kunst zurück in die Welt zu tragen.

Heiko Schmid

only in german

Podrostok

Künstler: Olivia Berckemeyer, Jean-Baptiste Bouvet, Anina Brisolla, Johannes Buss, Nicolas Dussolier, Michael R. Fischer, Agathe Fleury, Axel Geis, Emanuel Geisser, Rainald Goetz, Sebastian Gräfe, Gregor Hildebrandt, Ludovic Jecker, Iva Kafri, Arnd Kaestner, Achim Kobe, Jan Koch, Stephan Kurr, Alicja Kwade, Peter Langer, Alexander Lieck, Xavier Mazzarol, Regine Müller-Waldeck, Antonia Nordmann, Jens Nordmann, Jerome Poret, Hannu Prinz, Marie Reinert, Prinz Gholam, Franz von Reden, Henrieke Ribbe, Bernd Ribbeck, Peter Sempel, Nicoll Ullrich, Giovanna Sarti, Claudia Wieser