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Als Ort des Handelns erschafft Paul Renner (*1957 in Bregenz) erstmalig 2007 für das Kunsthaus Bregenz das »Theatrum Anatomicum«, ein temporäres Gebäude, in dem der Sinn und die Sinne gleichermaßen geschärft und seziert werden. Alle Handlungen im »Theatrum Anatomicum« werden als synästhetische Prozesse auf der Suche nach jenem Punkt des Verschwindens der Wahrnehmung erlebt, wo das Ästhetische zum Unendlichen wird, die Unterteilungen sich auflösen und alle Sinne zu einem zusammenfließen. Das »Theatrum Anatomicum« ist ein dynamisches Modell, dem die Idee des Gesamtkunstwerks zugrunde liegt. Es ist ein Ort für das Zelebrieren von lebensverändernden Handlungen.

Das Kunsthaus Bregenz ist als Quintessenz der diagonale Schnittpunkt eines magischen Polygons, das sich aus den Eckpunkten der vorhergegangenen Inszenierungen in Neapel, London, New York und Wien ergibt. Im Unterschied zu den vorherigen Schauplätzen dieses Gesamtkunstwerks wird das »Theatrum Anatomicum« von Grund auf neu erbaut.

Paul Renner hat zusammen mit Squid, einem jungen Wiener Architekturstudio um Gundolf Leitner, das spektakuläre, schädelförmige, 12 Meter hohe Zelt aus gebogenen Hölzern und Wursthaut samt vollständiger Einrichtung entworfen. Dieses luxuriöse Interieur wird Themen und Objekte aus vergangenen wie neu geplanten Reisen enthalten. Es ist ein Platz, an dem sich 133 Personen in einer Atmosphäre endgültiger Anästhesie ausruhen können. Die Besucher werden platziert wie einst die Studenten in einem Teatro Anatomico, jener geheimen, uterusgleich von der Welt abgeschlossenen Struktur, in der die Ärzte der Renaissancezeit ihre Anatomielektionen erteilten. Das Bregenzer »Theatrum Anatomicum« wird mit seinen Speisefolgen experimentell arbeitender Küchenchefs und mit diversen Live-Performances von ähnlicher Offenbarungskraft sein.

Es wird am 6. Juli mit der »Gas Night/Betäubung« eröffnet, für die der Historiker des Wahnsinns und Narkotiker Mike Jay zusammen mit dem Koch Carles Abellan von Comerç 24, Barcelona, jenem Koch, der über zehn Jahre die rechte Hand von Ferran Adrià war, verantwortlich zeichnet. Sowohl in der Performance des Mike Jay als auch in den Speisen des Carles Abellan kommt Lachgas zum Einsatz. Die 10-Jahres-Feier des KUB am 7. Juli wird zur »Nacht der Sektion«. Medlar Lucan und Durian Gray öffnen in ihrer Performance mit Bernie Rieder und Pablo Meier-Schomburg für das Restaurant »das turm«, Wien, verschiedene Körper. Am 9. Juli gelangen zum Thema »Hypnerotomachia Poliphili« Körper als essbare Skulpturen zur Schaustellung. Es kocht Erwin Kasper, begleitet von der Uraufführung einer Komposition, mit der der Komponist Alexander Moosbrugger beauftragt wurde. In den »Riten der Selbstauflösung« am 10. Juli zelebriert der Koch Adi Bittermann exzentrische Formen der Einbalsamierung, begleitet von der kolumbianischen Sängerin Lucia Pulido und einem Vortrag des Spezialisten Gerald Matt. Die »Dead and Gone Night« am 12. Juli huldigt verschiedenen Tötungsritualen wie der sizilianischen Matanza und der Transformation der Körper in Gesang und japanischen Esszeremonien. Küchenchef dieses Abends ist Martin Real mit japanischen Sushimeistern, Chef auf der Bühne Fritz Ostermayer. Das Finale am 13. Juli bestreiten Hermann Nitsch und Paul Renner gemeinsam in einer Aktion, in der die Anatomie der Körper und Speisen anhand von Nitschs Orgien Mysterien Theater und Renners kulinarischem Theater vorgeführt wird.

An vier Abenden wird von der Artistengruppe zierKuss ein TonFilm-Werk auf die Sektionstische des »Theatrum Anatomicum« projiziert.

Prospectus: 1995 und 1998 schuf Paul Renner gemeinsam mit Johannes Gachnang das Symposium Vakanz. Für die Erwartungen des Publikums interessierten sie sich dabei wenig, viel mehr waren sie von dem Gedanken getrieben, das künstlerische Experiment als Aufführungspraxis in den Mittelpunkt zu stellen und eine Bühne von Künstlern für Künstler zu schaffen. Philosophen, die auch auf anderen Fachgebieten bewandert waren, trafen auf Klavierbauer und Architekten, die über Theater, Mathematik und Ornithologie referierten.

Geleitet von dem Gedanken, ein Theater der Obsessionen zu entwerfen, gründete Renner mit Lucan und Gray 2000 in London »The Hell Fire Touring Club« , der neben den drei Protagonisten nur anonyme Mitglieder zählt. Dieser Pseudoclub, inspiriert von Sir Francis Dashwood, Präsident des historischen ersten »Hell Fire Club«, brachte seltsame Hybridformen von Reisen, Essen, Theater, Malerei, Schreiben, Bildhauerei und Ausstellung hervor.

Die erste öffentliche Vorstellung ihrer Ideen fand im Traveller’s Club in London 2001 vor geladenem Publikum statt. Angetrieben von visionären Utopien erstellten sie einen Bericht über ihre Reisen, einen Atlas der Labyrinthe des hermetischen Europa. Sie verstanden den Kontinent als einen anästhetisierten Koloss, der auf dem Operationstisch der Geschichte ausgestreckt lag und zwischen Leben und Tod schwebte. Ihre Reise über den Kontinent war als eine alptraumhafte endoskopische Expedition durch die Drüsenkanäle konzipiert, die ein lebenswichtiges Organ mit dem anderen verbindet. Sie begann mit dem Mund – dem Höllenschlund – als Suche nach dem Eingang zum Hades in Sizilien und führte sie über 18 weitere europäische Orte, denen sie Organe zuordneten, schließlich zum Fundament nach Neapel, wo sie 2002 in der Fondazione Morra ihren Bericht zum ersten Mal vollständig präsentierten. Ein gewaltiges Buch war in einer streng limitierten Auflage von 19 Stück entstanden, eingeschlossen in einem Kasten (einer Kreuzung aus Wunderkammer und Reiseapotheke), der Medlar Lucans und Durian Grays Texte und Renners Bilder enthält.

Den dritten Eckpunkt setzte Paul Renner 2004 mit dem Grande Spectacle »The Hell Fire Dining Club« in der Kunsthalle Wien, wo er das gläserne Aquarium am Karlsplatz in einen Schmelztiegel von Kunst, Speisen, Alkohol und mystischer Technologie verwandelte. An siebzehn aufeinanderfolgenden Abenden wurde der Bogen von der Geburt bis zum Tod gespannt. 2006 entwarf Renner mit »The Hardcore Diner« für die Galerieräumlichkeiten des New Yorker Galeristen Leo Koenig eine temporäre Variante des Clubs, eine mit Meeresalgen tapezierte Kompressionskammer, in der in einem aus Sperrmüll gebauten Diner eine Woche lang in verschwenderischem Stil gegessen und getrunken wurde.

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Paul Renner
Theatrum Anatomicum

Aktionen mit Mike Jay, Carles Abellan, Medlar Lucan, Durian Gra, Bernie Rieder, Pablo Meier-Schomburg, Erwin Kasper, Alexander Moosbrugger, Adi Bittermann, Lucia Pulido, Gerald Matt, Martin Real, Fritz Ostermayer, zierKuss , Hermann Nitsch, Paul Renner ...