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Am 18. Oktober eröffnet das Kunstmuseum Thurgau die Ausstellung „Olaf Nicolai. Mirador“, in der der erfolgreiche deutsche Konzeptkünstler seine neuesten Werke zeigt. Die Arbeit „Mirador/Selkirk“ hat der Künstler eigens für das Kunstmuseum Thurgau geschaffen, wo sie erstmals zu sehen sein wird. Mit der Werkschau von Olaf Nicolai setzt das Kunstmuseum Thurgau seine Ausstellungsreihe mit Werken hochkarätiger Konzeptkünstler fort. Olaf Nicolai gilt heute als einer der herausragenden deutschen Künstler der Gegenwart. Mit seinen Arbeiten steht er in der Tradition der Konzeptkunst, die seit den Sechzigerjahren das Verhältnis von Idee und Bild oder von Idee und Objekt überprüft. In der Ausstellung „Mirador“ kombiniert Olaf Nicolai eine neu für das Kunstmuseum Thurgau entwickelte Arbeit mit weiteren, in den letzten zwei Jahren entstandenen Werken zu einer Auslegeordnung seines künstlerischen Handelns. Er nutzt unterschiedliche Medien, um ausgehend vom Ort und von den vorhandenen Räumen ein Geflecht von Fragen aufzubauen, in denen Inhalte, Form und Inszenierung zur Diskussion gestellt werden. Die Werke Den Kern der Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau bildet die Arbeit „Mirador/Selkirk“, die Olaf Nicolai für die Kartause Ittingen neu geschaffen hat. „Mirador de Selkirk“ ist der Name eines 565 Meter hoch gelegenen Aussichtspunktes auf einer Insel im Südpazifik. Von hier aus hielt ab 1705 der ausgesetzte Seemann Alexander Selkirk vier Jahre lang täglich Ausschau nach Schiffen, die ihn von der unbewohnten Insel wegbringen sollten. Nach seiner Rückkehr 1709 zog er durch England und berichtete von seinem Schicksal. Zehn Jahre später erschien Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, in dem das Schicksal des Seemanns romanhaft überhöht zum romantischen Erlebnis verklärt wurde. Mit der Wahl der Figur des Alexander Selkirk thematisiert Olaf Nicolai die Vorstellung des Einsiedlerlebens und schafft dadurch einen direkten Bezug zum Ausstellungsort der Kartause Ittingen. Im Kartäuserorden leben die Mönche zurückgezogen und schweigend in ihren Zellen, gleichsam als Einsiedler in der Gemeinschaft. Das Leben der Kartäuser wird ebenso zum Mythos verklärt wie Selkirks Realität sich in die überhöhte Robinsonfigur verwandelte. Mit der Gegenüberstellung dieser zwei Modelle einsiedlerischen Lebens verweist Olaf Nicolai auf den allgegenwärtigen Mechanismus der Überhöhung und thematisiert damit einen Kommunikationsprozess, der wesentlich unsere Vorstellung von Werten und Bewertung prägt. Die Arbeit „Mirador“ analysiert den Überhöhungsprozess nicht nur thematisch, sondern zelebriert diesen auch in der Inszenierung der Fotografie als Kunstwerk: „Mirador/Selkirk“ besteht im Wesentlichen aus einer Fotografie des heutigen Zustandes des Aussichtspunktes von Alexander Selkirk. Um diese Fotografie zu erstellen, hat Olaf Nicolai 2009 eine Reise in den Südpazifik unternommen. Von der Fotografie wurde nur ein einziger Abzug gefertigt, der nun im Museum erstmals gezeigt wird. Das Negativ ist bei einem Notar mit der Auflage hinterlegt, keine weiteren Vervielfältigungen zuzulassen. Ebenso sind Abbildungen und Reproduktionen untersagt. Auf diese Weise wird das Bild zum Unikat, das nur in der Ausstellung betrachtet werden kann. Das Motiv von „Mirador/Selkirk“ – der Ausblick des Einsamen – wird verdoppelt durch die vom Künstler vorgegebenen Auflagen für Produktion und Präsentation. Das Phänomen der Einsamkeit, des Singulären wird von der Arbeit als Produktionsprinzip aufgenommen, indem nur ein einziger Abzug des Fotos gefertigt wird. Mit dieser Inszenierung überhöht der Künstler die an sich reproduzierbare Fotografie zum einzigartigen Original. Er versieht das Abbild mit der Aura des Sinnbildes und macht es zum Ausgangspunkt einer Denkreise über das Funktionieren von Bildern im Zeitalter ihrer grenzenlosen Reproduzierbarkeit. Eine weitere Sinnschicht erhält „Mirador/Selkirk“ durch die Einbettung der Fotografie in die ebenfalls ganz neue, mehrteilige Installation „Topographie Ondulatoire/Modulaire“. Die Installation besteht aus dem Nachbau eines Einrichtungsgegenstands des Architekten Le Corbusier sowie aus einem künstlichen Steinbrocken aus Aluminium. Ebenso gehört die Wandgestaltung nach dem Masssystem „Modulor“ von Le Corbusier zur Installation. Es verbindet sich also eine künstlich hergestellte Naturform mit einer Ikone der modernen Form zu einer irritierenden Befragung des Kunstwerks als Ort der Harmonie. Dadurch wiederholen sich auf einer anderen Ebene noch einmal die Gegenüberstellungen von Idealbild und Realität, von Original und Reproduktion. „Mirador/Selkirk“ wird in der Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau flankiert von zwei weiteren Arbeiten, in denen ähnliche Fragestellungen aufgeworfen werden. „Rodakis“ (2008) ist ein Filmporträt über den Architekten und Bauern Alexis Rodakis, der um 1880 auf der griechischen Insel Aegina ein Haus baute, das wegen seiner besonderen Form und seinem Skulpturenschmuck bald die Aufmerksamkeit von Architekten erregte und später den Ruf einer Ikone der modernen Architektur avant la lettre erlangte. Sowohl sein Entdecker, der griechische Architekt Dimitris Pikionis, als auch Sigfried Gideon und Le Corbusier stilisierten das Haus unter dem Namen seines Erbauers Rodakis zum Mythos. Merkwürdig ist der Umstand, dass über den autodidaktischen Architekten kaum etwas bekannt ist. Olaf Nicolai inszeniert den Film über das Haus und seinen Erbauer als fiktives Filmporträt. Die Bilder des Gebäudes in seinem heutigen Zustand werden zur Folie einer biografischen Erzählung, deren Fakten aus dem Gespräch mit einer Geisterseherin stammen. Die vermeintliche Objektivität der Filmdokumentation erweist sich als fiktive Erzählung, wodurch der Künstler auch hier mit dem Spannungsfeld zwischen Faktenwahrheit und Erzählwahrheit spielt. Mit „Samani. Some Proposals to Answer Important Questions“ (2008) fügt Nicolai dem eher historischen Bezugssystem der anderen Werke der Ausstellung einen explizit zeitgenössischen Aspekt hinzu. Im grossen Ausstellungskeller tanzt ein einzelner Scheinwerfer um eine verspiegelte Metallsäule. Er gleitet auf und ab, dreht sich abrupt um die eigene Achse, driftet, schlängelt sich und zeichnet arabeske Figuren in den Raum. Dabei folgt er einer komplizierten Programmierung von wiederholten und zufälligen Rhythmen. Begleitet werden die Bewegungen von einer musikalischen Komposition, die durch die bizarren Geräusche der gesteuerten Motoren entsteht. Als animierte Form scheint der Scheinwerfer einer fremden Intelligenz zu gehorchen; sein Agieren erweckt den Eindruck einer schizoiden Symbiose von kinetischer Maschine und menschlicher Subjektivität. Die in der Ausstellung „Mirador“ zusammengestellten Arbeiten untersuchen auf je unterschiedliche Art und Weise die Bedingungen, unter denen sich Erfahrungen von Authentizität wie Individualität bilden und artikulieren. Statt des Insistierens auf Besonderheit oder Einzigartigkeit verweisen sie auf die Effekte der vielfältigen technischen, medialen wie symbolischen Vermittlungen, die ein heutiges Individuum konstituieren, und betonen besonders die Modi von Künstlichkeit, Animation und Fiktion. Nicht zufällig, so scheint es, folgt im Wörterbuch auf den Begriff „Mirador“ für den Aussichtspunkt und Wachturm das wortverwandte „Mirage“, das Trugbild. Biografie Olaf Nicolai wurde 1962 in Halle/Saale in der damaligen DDR geboren. Er wuchs in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, auf. Von 1983 bis 1988 studierte er Germanistik (Diplom) in Leipzig, Wien und Budapest. 1992 promovierte er an der Universität Leipzig. An der Fachhochschule für Angewandte Kunst Schneeberg absolvierte er zudem ein Diplomstudium. Olaf Nicolai lebt und arbeitet in Berlin. Olaf Nicolai war an der Documenta X (1997) vertreten, ebenso wie auf den Biennalen 49 und 51 von Venedig (2001 und 2005). Er erhielt mehrere Stipendien, unter anderem das der Villa Massimo in Rom (1998) und das der Villa Aurora in Los Angeles (2007). Im Jahr 2002 verlieh ihm die Stadt Wolfsburg den Kunstpreis Junge Stadt sieht Junge Kunst. Nicolai nimmt weltweit an Einzel- und Gruppenausstellungen teil. Seine Arbeiten finden sich auch in öffentlichen Sammlungen, u.a. im Museum of Modern Art, New York, der Thyssen-Bornemisza Art Contemporary, Wien, der Friedrich Christian Flick Collection, Berlin, oder dem Migros Museum, Zürich. Mit konzeptuellen Ansätzen und unterschiedlichen Medien stellt Nicolai die gewohnten Betrachtungsweisen der Alltagswelt immer wieder infrage. Theorien aus Natur- und Geisteswissenschaften übersetzt er ästhetisch-künstlerisch und lässt sie so im neuen Kontext erfahrbar werden.

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Olaf Nicolai
Mirador - Rodakis - Selkirk - Samani