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In der Ausstellung "Move" ist die Choreografie, also die Vorgabe von Bewegungsabläufen, der gemeinsame Nenner von Kunst und Tanz. Die hier zusammengeführten Werke choreografieren den Besucher: sie lenken seine Bewegungen und laden ihn zu einer körperlichen Erfahrung ein, die ihn in einen aktiven Teilnehmer verwandelt. Manche Werke werden auch während der gesamten Ausstellungsdauer durch eine Gruppe von Tänzern und Darstellern aktiviert.

Sinnfällig für die Verbindung von Installation und Teilnahme des Besuchers ist William Forsythes "The Fact of Matter" (2009), ein choreografisches Objekt aus 200 Turnringen, die in unterschiedlicher Höhe von der Decke hängen. Der Besucher kann mithilfe dieser Ringe den Raum durchqueren, ohne den Boden zu berühren und damit seine Kraft und Beweglichkeit auf die Probe stellen.

Forsythe bietet also eine Struktur an für eine Vielzahl möglicher Bewegungen. Denselben spielerischen Ansatz verfolgt Christian Jankowski mit seiner Einladung, in der Ausstellung Hula Hoop zu tanzen ("Rooftop Routine", 2007), und Trisha Brown, die mit Wasser gefüllte Töpfe so aufreiht, dass der Besucher entweder bewusst in die Töpfe hineinsteigen oder sie umgehen kann ("The Stream", 1970).

Den Gegenpol zur spielerischen Erfahrung von Geschicklichkeit und Leistungsfähigkeit bildet ein grüner Lichtkorridor von Bruce Nauman, der die Bewegungsfreiheit des Besuchers absichtlich stark einschränkt. "Green Light Corridor" (1970) besteht aus Pressspanwänden, die man nur seitwärts durchqueren kann. Enge, intensives grünes Licht und Schalldämpfung führen zu einer verstärkten Wahrnehmung des eigenen Körpers, die sich zu Beklemmung steigern und so zu neuer Selbsterkenntnis führen kann. "Ein Bewusstsein seiner selbst gewinnt man durch ein gewisses Maß an Aktivität und nicht, indem man nur über sich selbst nachdenkt." (Bruce Nauman)

Die direkte Beteiligung des Ausstellungsbesuchers hat heute eine Tradition von vierzig Jahren. 1971 hat Robert Morris mit "BodySpaceMotion" einen Skulpturen-Parcours inszeniert, durch den sich der Ausstellungsbesucher bewegen sollte - ohne Notwendigkeit von genauen Anweisungen oder Proben. Das hölzerne Schaukelbrett, auf dem der Besucher nun im Haus der Kunst versuchen kann die Balance zu halten, war damals Teil dieses Parcours. Manche Objekte existieren nur im Zusammenspiel mit dem Besucher und machen dessen Körper selbst zur Skulptur. Bei Franz Erhard Walthers "Für Zwei (Nr. 31, 1. Werksatz)" von 1967 legen sich zwei Personen ein Stück Stoff um den Hals, indem sie den Kopf in jeweils eins der beiden Löcher stecken. Auf diese Weise miteinander verbunden, stehen sie sich eine Minute gegenüber und sehen sich in die Augen.

In der Zeit, als diese Werke entstanden, verlagerte sich der Schwerpunkt von der Betrachtung unberührbarer Kunstwerke hin zu Aktion und Bewegung. Gleichzeitig erreichte die Kritik am Kunstwerk als Objekt und Ware einen Höhepunkt. Wie die Performance und das Happening war auch der Tanz eine willkommene Lösung, um den Objektcharakter eines Kunstwerks aufzulösen, sich dem Kunstmarkt und damit auch dem Kapitalismus zu entziehen. Die Künstler der nächsten Generationen wie Mike Kelley (geb. 1954) oder Pablo Bronstein (geb. 1977) können diese Entwicklung als gegeben voraussetzen. Sie legen den Schwerpunkt von Choreografie zunehmend auf allgemeine menschliche Handlungen. Dabei gilt ihr besonderes Interesse degeneriertem, künstlichem und manipulierendem Verhalten.

Mike Kelleys "Test Room Containing Multiple Stimuli Known to Elicit Curiosity and Manipulatory Responses" (1999/2010) ist eine Art Spielzimmer mit überdimensionalen Objekten, die der Besucher berühren und mit denen er interagieren kann. Zu diesem "Test Room ..." gehören mehrere Darsteller: Zwei führen mit den Objekten abwechselnd zärtliche und aggressive Handlungen aus, zwei weitere - zum Teil im Affenkostüm - imitieren das Verhalten von Affen. Der Besucher, der die Objekte eben noch selbst als Bewegungshilfe genutzt hat, ahnt plötzlich wie es ist, Versuchsobjekt von Verhaltensforschern zu sein. Pablo Bronstein platziert mitten im Raum einen architektonischen Bogen, der mit Ornamenten verziert ist und die Gestaltung öffentlicher Plätze im frühen Barock zitiert ("Magnificent Triumphal Arch in Pompeian Colours", 2010). Ein Performer schreitet um diesen Bogen herum und weist in Bühnensprache auf ihn hin ("Oh, what a beautiful arch! It reminds me of ancient Rome"). Dieses Verhaltensmuster höfischer Eleganz scheint dem Betrachter von heute aufgesetzt und geziert. Das gesellschaftliche System, für das der Bogen steht und das die Bewegungen des Performers dirigiert, wirkt wie ein Korsett und lange überholt.

Auch João Penalvas Installation "Widow Simone (Entr'acte, 20 years)" (1996) kreist um soziale Choreografie als Form der Kontrolle: Penalva berichtet in dokumentarischer Form von einem Tänzer, der seit über 20 Jahren in dem Ballett "La Fille mal gardée" die Rolle der Witwe Simone tanzt. Trotzdem hat dieser Tänzer aus urheberrechtlichen Gründen nicht das Recht, die Choreografie an andere weiterzugeben und Penalva, der selbst Tänzer war, darin zu unterrichten. Der Tänzer ist nur die ausführende Marionette.

Xavier Le Roy und Tino Sehgal geben die Idee für einen Handlungsablauf vor, ohne dafür überhaupt noch ein materielles Objekt einzusetzen. Beide Künstler schaffen stattdessen die Grundlage für eine zwischenmenschliche Begegnung. In "Production" von Xavier Le Roy und Mårten Spångberg üben Tänzer in der Ausstellung einen Tanz ihrer Wahl ein. Falls ein Besucher daran besonderes Interesse zeigt, gehen die Tänzer auf ihn zu und bieten ihm ein Gespräch an, das sich je nach Resonanz auf einen kurzen Dialog beschränkt oder zu einem gemeinsamen Rundgang durch die Ausstellung ausweiten kann. Die Begegnung endet in einer Vorführung: Die Tänzer setzen für den Besucher eine der Installationen in Gang. Hier ist der Austausch zwischen Tänzer und Besucher selbst die Choreografie, und der Besucher kann sie entscheidend beeinflussen.

Auch die Werke von Tino Sehgal existieren nur solange der Ausführende anwesend ist. In seinem Beitrag für diese Ausstellung liegt die ausführende Person auf dem Boden, führt sehr langsame Bewegungen aus und erreicht dadurch eine skulpturähnliche Wirkung. ("Instead of Allowing Some Thing to Rise Up to Your Face Dancing Bruce and Dan and Other Things", 2000). Bei jeder Aufführung ergeben sich Abwandlungen: Der Interpret führt niemals genau dieselbe Folge von Bewegungen auf, und auch die Betrachter reagieren unterschiedlich. Trotz der ständigen Veränderung gelingt es Sehgal, diesen flüchtigen Ereignissen den Status eines Werks zu verleihen: etwa indem er fordert, dass seine Arbeiten - wie Skulpturen oder Gemälde - während der gesamten Ausstellungsdauer zu sehen sind. Wie die Künstler der 60er-Jahre will auch Tino Sehgal das Kunstwerk von der Bedeutung als rein materielles Objekt befreien. Die Chance, dies durch Choreografie zu erreichen, scheint gegeben.

Ein digitales Archiv mit Filmen von wichtigen Performances der letzten 50 Jahre rundet die Präsentation ab. "Move" wird von Stephanie Rosenthal, Hauptkuratorin an der Hayward Gallery in London, kuratiert und für die Präsentation in München von Julienne Lorz angepasst. Im Anschluss reist "Move" zur K20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (16. Juli - 25. September 2011).

Katalog "Move. Choreographing you", hrsg. von Hayward Publishing; mit Essays von Susan Leigh Foster, André Lepecki, Peggy Phelan und Stephanie Rosenthal, 176 Seiten, ISBN 978-1-85332-282-2; in Englisch

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Move
Kunst und Tanz seit den 60ern
Kurator: Stephanie Rosenthal, Julienne Lorz

Künstler: Janine Antoni, Pablo Bronstein, Trisha Brown, Boris Charmatz, Lygia Clark, William Forsythe, Simone Forti, Dan Graham, Christian Jankowski, Isaac Julien, Mike Kelley, Robert Morris, Bruce Nauman, Joao Penalva, La Ribot , Xavier Le Roy & Marten Spangberg, Tino Sehgal, Franz Erhard Walther, Franz West


Stationen:
03.10.2010 - 09.01.2011 Hayward Gallery, London
11.02.2011 - 08.05.2011 Haus der Kunst, München
19.07.2011 - 25.09.2011 Kunstsammlung Nordrhein Westfalen, Düsseldorf