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Marco Polonis künstlerisches Werk umfasst Film, Fotografie, Text und Installation. Seine Forschungs- und Bildarbeit der letzten fünfzehn Jahre bündelt sich dabei in seiner 2014 gegründeten Agentur "The Analogue Island Bureau", welche als künstlerische Rechercheagentur die Probleme und Narrationen, die Verfassung und geopolitische Geschichte des Mittelmeerraums untersucht. Sein Bild- und Textarchiv erstellt eine Chronik der Zusammenhänge von sozialer Unsichtbarkeit und Macht, von Subjektivität und Ideologie.

Polonis jüngste Werkgruppe, "Codename: Osvaldo", setzt sich aus mehreren Fallstudien zusammen, zwei davon finden sich in der Galerie Campagne Première zu einer raumgreifenden Präsentation gegenübergestellt. Am Anfang von "Codename: Osvaldo" steht die charismatische und komplexe Figur des Giangiacomo Feltrinelli, Unternehmer, Millionär und Revolutionär. 1954 gründete Feltrinelli das gleichnamige Verlagshaus in Mailand. In den 60er und 70er Jahren war er unter dem Decknamen "Compañero Osvaldo" aktives Mitglied des gewaltbereiten anti-imperialistischen Untergrundes.

Feltrinelli steht als Stellvertreter für das unterdrückte Kapitel der italienischen Identitätskonstruktion, die in "Codename: Osvaldo" die Form eines rhizomatischen Narratives annimmt. In der ersten Fallstudie, "The Pistol of Monica Ertl", zeichnet Poloni die Ermordung des damaligen bolivianischen Generalkonsuls in Hamburg, Roberto Quintanilla, durch die junge Deutsche Monika Ertl im Jahr 1971 nach. Als Befehlshaber des bolivianischen Geheimdienstes hatte Quintanilla vier Jahre zuvor Che Guevara verhaften und auf der Stelle exekutieren lassen. Für den revolutionären Untergrund musste er dafür eliminiert werden - für den Auftrag ausgewählt wurde Monika Ertl. Die Tochter des umstrittenen Leni Riefenstahl-Kameramanns Hans Ertl zog nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit ihrer Familie nach La Paz. In den 60er Jahren trat sie der linken Bolivianischen Freiheitsarmee bei, erhielt militärisches Training in Chile und Kuba. Den Revolver, mit dem sie Quintanilla ermordete, erhielt sie von Giangiacomo Feltrinelli.

Die zweite Fallstudie, "The Orgosolo Laboratory Project", die in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Kurator Noah Stolz entstand, ist eine visuelle Aufarbeitung einer revolutionären Bewegung, welche in den späten 60er Jahren im zentralsardinischen Dorf Orgosolo einen im Nachkriegs-Italien einzigartigen Fall der Selbstverwaltung unternahm. Den Stadtrat gegen eine Volksversammlung eintauschend, stellte sich die gesamte Dorfbevölkerung vereint in den "vier Tagen der Republik Orgosolo" gegen den geplanten Bau eines Truppenübungsplatzes auf den Weiden von Orgosolo. Sie erzwang durch Straßenblockaden den Rückzug der italienischen Truppen und setzte damit ein deutliches Zeichen gegen inneritalienische Kolonialisierung. Visuelle Spuren dieser Ereignisse sind die zahlreichen propagandistischen Wandmalereien in Orgosolo, die sich deutlich auf die südamerikanische Tradition der murales beziehen, sowie die Poster, die sich in ihrer Bildsprache dem internationalen Kampfgeist der Post-68er anschließen, und die vielen militanten politischen Pamphlete und Flugblätter der Bewegung, für die Feltrinelli verantwortlich zeichnete.

Nicht nur die Thematik von "Codename: Osvaldo" evoziert Bilder aus Kriminalfilm und -literatur, auch formal erinnert die Arbeit an forensische Arbeitsweisen; so wirken die über die Wände und den Tisch ziehenden Fotografien und Textfragmente wie Mind-Maps, die den aktuellen Ermittlungsstand festhalten. Die Arbeit mit Diaprojektoren erinnert an gerichtliche Beweisführungen. Im Gegensatz zu diesen Orientierungshilfen widersetzt sich Polonis Arbeit aber einem offensichtlichen System: wie zufällig scheinen bei ihm die Bilder an der Wand verstreut, Pressedokumente und ethnologische Fotografien, Schnappschüsse, Materialien aus Polizeiakten und Fundobjekte stehen gleichwertig nebeneinander - die Versuchsanordnung ist ihrer Funktionalität enthoben, das Arrangement scheint auf nichts zu verweisen außer auf sich selbst.

So wird die Anordnung aber auch zum Kommentar auf die visuelle Kultur: Fotografien zirkulieren, erzeugen historische Glaubwürdigkeit und schaffen durch Kombination und gezielte mediale Verbreitung eine kollektive, offizielle Narration - bei der allerdings vieles unsichtbar bleibt. In "Codename: Osvaldo" erlauben es sich die Bilder nicht, in einen indexikalischen Sinnzusammenhang gebracht zu werden, sie widersetzen sich einer Vereinnahmung für historische Konstruktionen. Sie bilden einen assoziativen Bewusstseinsstrom, der lediglich Schlaglichter in das komplexe Dunkel wirft.

Die Galerie wird damit zum Forschungslabor - ein Labor, in dem nur vordergründig "Geschichte" anhand von gesammelten Dokumenten erzählt wird. Vielmehr wird sie zum Spiegelbild der losen Verbindungen zwischen dem revolutionären Umfeld jener Zeit und unserem fragmentarischen Wissen davon - sowie der Struktur persönlicher und konstruierter Erinnerung.

Text: Nina Lucia Groß

www.theanalogueislandbureau.net
www.stellamaris-atlas.net
Lit.: Jürgen Schreiber: Sie starb wie Che Guevara. Die Geschichte der Monika Ertl, Artemis & Winkler, 2009.