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Zentraler Ausgangspunkt des Films »Anteroom of the Real« (dt. Vorraum des Realen) ist die Stadt Prypjat, die in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit dem Atomkraftwerk Tschernobyl gegründet und 1986 auf Grund des dortigen Reaktorunglücks geräumt wurde. Zwei Hände blättern durch einen Stapel Fotografien: leere Gebäude, verlassene Straßen, zerstörte Büros, ein Modell von ‚Reaktor 4’, verstaubte und zerrissene Unterlagen und Bücher, ein Fernsehmonitor auf dem eine Dokumentation über die Tschernobyl-Katastrophe läuft, etc. Der filmische Rhythmus wird durch das Blättern vorgegeben. Es erzeugt eine zögernde und stockende Bewegung, die weniger auf das Zeigen der Bilder fokussiert ist als auf deren Wahrnehmung. Sicher erinnern einige der Bilder auf eine unheimlich Art an das Reaktorunglück in Fukushima im März 2011. Sie entwickeln unwillkürlich ein Szenario auf der Grundlage der historischen Ähnlichkeit, während andere durch ihren enigmatischen, nicht zuletzt auch anachronistischen Charakter aus diesem Raster fallen und sich einem Vergleich mit aktuelleren Medienbildern versperren. Auf einer anderen Ebene, jedoch mit dem Status des massenmedialen Bildes eng verknüpft, könnte man den Film auch als eine Übung im Sehen begreifen: Was ist ein (Bewegt-)Bild? Wie wird (filmische) Narration hergestellt? Oder, um eine Formulierung von W.J.T. Mitchell anzustrengen: Was will das Bild? Es geht also um das Denken durch Bilder und in letzter Konsequenz zielt dies auf die Befragung der Möglichkeiten und Grenzen sowohl der Bilder als auch des Erzählens ab.

Lina Selander (*1973 in Stockholm) arbeitet vorwiegend mit Film, Fotografie, Text und Sound, wobei es meistens zu einer Verschränkung dieser Medien kommt. Deren Materialität spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle wie das Ausloten ihrer vermeintlichen Grenzen. Ein wiederkehrendes Thema in Lina Selanders Arbeit – das auch in »Anteroom of the Real« zentral ist – ist die Frage nach der Erzählbarkeit von Geschichte.

Felix Vogel