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Die Ausstellung „Les Grands Spectacles“ handelt von den verschiedenen Formen, die der Raum der Öffentlichkeit, der Medien und der Illusionen in den letzten 120 Jahren angenommen hat. Ob es nun um die Konstruktion eines Schauplatzes oder eines Ereignisses geht, den Anteil der Inszenierung oder den Ort kultureller Selbstvergewisserung, die Aufhebung der Bühnensituation oder die Reichweite der Projektions- und Übertragungstechniken – all diese Elemente haben sich zwischen 1885 und 2005 extrem verändert. „Les Grands Spectacles“ wird zeigen, wie diese Veränderungen in die Kunst hinein wirkten oder von ihr angetrieben wurden, wie die gesellschaftliche Bedeutung des Sensationellen, Tragischen oder Trügerischen in der Kunst begriffen und der Stoff des Spektakels in Kunstwerken erforscht, erweitert, entführt, verwandelt oder zerstört wurde.

Schon das Wort Spektakel ist ein Synonym für viele Phänomene; es steht im Deutschen für großes Aufsehen, billigen Lärm oder knallige Ablenkung, im Französischen aber, ebenso wie in der internationalen Theoriebildung für Schauspiel, Theater oder jede Art von Veranstaltung und wird daher immer häufiger als Stichwort für ein philosophisches oder theoretisches Konzept verstanden. Der französische Autor Guy Debord (1931-1994) hat in dem Buch "La Société du Spectacle" (Paris 1967) das Spektakel als komplexes System der Verblendung und des Betrugs beschrieben, das die Menschen den Forderungen der moderne Medien- und Arbeitsgesellschaft anpasst und sie um ihr Leben bringt. Der Schwerpunkt der Wortbedeutung hat sich mithin in ähnlicher Weise verlagert wie der Anteil des Spektakulären sich in der Gesellschaft verschoben hat; von einem marginalen Phänomen des Vergnügens wurde er zu einem zentralen Instrument der Kontrolle.

Die Ausstellung reflektiert die Auseinandersetzungen der Kunst mit dem Spektakel in drei, mehr oder weniger deutlich markierten Schritten: Sie setzt ein mit der Erfindung des Films und der Standardisierung des bürgerlichen Schauspielhauses am Ende des 19. Jahrhunderts, findet einen weiteren Schwerpunkt in der Modernisierung und Ausweitung der Massenmedien nach dem 2. Weltkrieg und führt schließlich zur Situation der Kunst am Beginn des neuen Jahrtausends, wo jeder noch so kleine Anlass seine theatralische Quali-tät vorzeigen muss und jede intime Regung der Individuen zum Unterhaltungs-stoff für die Massen werden kann. Auch wenn der so genannten Spaßgesell-schaft seit einiger Zeit das Ende angezeigt wird, die Richtlinien der Eventkultur gelten weiter. Die Bedeutung des Spektakulären befindet sich lediglich in einer neuerlichen Veränderung. Immer nachhaltiger wird die Kunst dazu gedrängt, ihre Termine als Ereignisse zu konzipieren und ihre Exponate als Stoff für massenwirksame Großveranstaltungen einzusetzen.

Angesichts dieser Bedingungen, folgt „Les Grands Spectacles“ einigen Spuren durch das 20. Jahrhundert, um künstlerische Strategien aus verschiedenen Epochen vorzustellen, die darauf zielen, das Kunstwerk (auch) zu einem Schauplatz für den Konflikt mit den Ansprüchen der Gesellschaft des Spektakels zu machen. Obwohl die Ausstellung dabei einen geschichtlichen Ablauf nachzeichnet, wird die Präsentation einzelner Exponate nicht strikt dieser chronologischen Struktur untergeordnet sein. Themen und Phänomene vom Anfang des 20. Jahrhunderts können also durchaus mit aktuellen Werken versetzt werden, denn die Frage nach dem Stoff des Spektakels und darin enthaltenen Konflikten soll nicht als eine historisch ferne oder sogar schon überwundene gezeigt werden. Die Ausstellung thematisiert die Übergänge zwischen Kunst und Gesellschaft und damit auch die gesellschaftliche Vorstellung von Kunst; Ausgangspunkt, Repertoire und Präsentationsgegen-stand sind Kunstwerke. Diese Grundkonstellation fordert Aufmerksamkeit: Ziel ist es, den Ansprüchen der Kunst zu folgen und sich nicht mit dem durch die Gesellschaft historisch oder begrifflich fixierten Bild zu begnügen, das die Kunst als Freiraum definiert, um ihr damit nicht mehr als eine randständige Existenz und Bedeutung zuzugestehen.

Den Auftakt bildet ein thematisch gegliedertes Kabinett, das die Vielfalt der technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen skizziert, die innerhalb eines sehr kurzen Zeitabschnitts am Ende des 19. Jahrhunderts gleichzeitig Wahr-nehmung und Bildbegriff radikal veränderten. Die Erfindung des Films (Marey, Muybridge) war zu Anfang eine wissenschaftliche Erforschung von Bewegungen und Formabläufen. Sie teilte ihren Gegenstand damals mit dem Interesse an einer technischen Optimierung der Arbeit durch Maschinen, woraus dann bekanntlich Fließbandproduktion und Autoindustrie entstanden, während der Film sich in dieser Zeit noch als Jahrmarktbudensensation bewähren musste. Erst in der Mitte des folgenden Jahrhunderts stieg er zu einem zentralen Medium der Industriegesellschaft auf. Das Kabinett wird sich daher zunächst als eine Art Wunderkammer oder spekulatives Labor präsentieren und dann übergehen in ein Archiv der klassischen Avantgarde, mit Werken und Doku-menten von Futuristen, Dadaisten und Surrealisten. Diese Bewegungen suchten nicht nur in der modernen Technik, sondern auch im verdrängten Bereich des Sensationellen – bei Zirkusattraktionen, auf der Bühne des Traums und in den populären Spekulationen über die 4. Dimension – nach dem Stoff, der das Potenzial hat, die Gesellschaft zu verändern.

In einer zweiten Sequenz dokumentiert die Ausstellung das Konzept der "Situationistischen Internationale" (1957 - 1972) und präsentiert deren Kritik der „Gesellschaft des Spektakels“ als eine der avanciertesten Positionen poetischer Praxis in den 50er und 60er Jahren. Auch wenn die Situationisten nach 1962 jegliche Kunst als Teil des Spektakels verwarfen, wird ihre untergründige Aktivität in der Ausstellung als eine durchaus ästhetische Intervention zu sehen sein, denn die "Situationistische Internationale" war selbst ein Schauspiel, dessen Mechanismus in der Imagination wirkte und mit Fiktionen durchsetzt war. Von dieser radikalen Position ausgehend werden Werke aus dieser Epoche (Andy Warhol, Yayoi Kusama, Yves Klein, Niki de Saint-Phalle) den eher dokumentarischen Rahmen auflösen und zeigen, dass die modernisierten Formen industrieller Produktion und die neuen Bedingungen des Massenkonsums im Kunstwerk durch neue und grundlegend andere Fragestellungen und gewandelte Produktionsweisen reflektiert werden. Auch außerhalb der "Situationistischen Internationale" untersuchten Künstler die neue Sprache der Massenkultur, um ihre Kunst – mit zum Teil sehr ähnlichen Mitteln (Eduardo Paolozzi, Raymond Hains, Richard Hamilton) – zum Schauplatz eines anderen Lebens oder Denkens zu machen.

Als Verbindung zwischen den 60er Jahren und der gegenwärtigen Situation wird die Ausstellung sich mit Orten der Produktion von Illusionen beschäftigen. Sie wird thematisieren, wie Filmproduktionstechnologie, Filmindustrie, das System Hollywood, Disneyland und Las Vegas in der Kunst aufgenommen und zurückgespiegelt wurden (Ed Ruscha, Raymond Pettibon, Gustav Kluge, Catherine Wagner). Zugleich wird die Fragestellung auf die reale Bühnen-situation ausgedehnt, wobei die Aufmerksamkeit dem Akt der Illusionspro-duktion, der Überhöhung der künstlichen Figur auf der Bühne ebenso gilt wie der Realität backstage (Nan Goldin, Marlene Dumas, Richard Prince). Die leere Bühne oder Leinwand ist der Schauplatz, an dem – nicht weit vom "Ende der Kunst" – Räume und Bilder auftauchen, in denen das Spektakel sich aufgelöst hat oder medial verschwunden ist (Candida Höfer, Hiroshi Sugimoto, Michael Asher).

Eine letzte Sequenz gruppiert sich um die 90er Jahre und gibt mit einigen Werkgruppen von Künstlern wie Martin Kippenberger, Paul McCarthy und Jason Rhoades oder Jeff Koons Einblick in künstlerische Strategien, die sich der Verwertung in der Eventkultur durch affirmative Überhöhung, soziale Gegen-entwürfe, burleske Mimikri oder böse Satire entziehen. Die Kunst agiert nunmehr zwischen dem Elend eines Alltagslebens ohne Abenteuer und der Hölle einer glamourösen Welt ohne Erfahrung. Jedes Ereignis, jeder Wunsch und jede Lust werden entweder vermieden, nivelliert und bestraft oder sind schon modelliert, aufgerufen und durchexerziert, bevor irgendetwas davon einer Verwirklichung nahe gekommen ist. Die Kontrolle der individuellen und selbst der intimsten Phantasie durch voraus greifende Inszenierung und Muster stellt die Künstler – vor allem in ihrer Rolle als Clown – vor die Frage, wie sie in einer Welt erscheinen wollen, die jeden Einzelnen zum Maximum seines Vergnügens oder zur Projektion seines Bildes in die Welt der Stars auffordert. Der Unterschied zwischen Kunst und Leben oder Spektakel und Alltag wird hier aufgehoben, um von beidem nur noch das Elend nachzulassen: die künstlerische Vorstellungskraft als Reservoir lukrativer Extreme und das Leben als Schauspiel in einem rundum überwachten Gefängnis. Unter diesen Bedingungen treiben Künstler die Wiederaneignung der Idee des Außerge-wöhnlichen, Festlichen, Leidenschaftlichen und Mitreissenden (Jonathan Meese) gegen standardisierte Zeichen der Freizügigkeit oder des Schönen und gegen die vorgespielten Gesten einer Unberührtheit von Tabus, wie sie etwa die Mode oder das Reality TV propagiert.

Margrit Brehm / Roberto Ohrt Pressetext

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Les Grands Spectacles – 120 Jahre Kunst und Massenkultur
Kuratoren: Margrit Brehm, Roberto Ohrt

mit Vito Acconci, Antonin Artaud, John Baldessari, Matthew Barney, Ford Beckman, Vanessa Beecroft, Daniele Buetti, André Butzer, Maurizio Cattelan, Jake & Dinos Chapman, Michael Ray Charles, Phil Collins, Hanne Darboven, Luc Delahaye, Marcel Duchamp, Marlene Dumas, James Ensor, Alexandra Exter, Peter Feldmann, Sylvie Fleury, Günther Förg, Marianna Gartner, Red Sniper (Kendell Geers / Patrick Codenys), Andreas Gefeller, Nan Goldin, Dan Graham, Richard Hamilton, Isabell Heimerdinger, Andreas Hofer, Damien Hirst, Candida Höfer, Teresa Hubbard & Alexander Birchler, John Isaacs, Dennis Oppenheim, Allan Kaprow, Edward Kienholz (Edward & Nancy Kienholz), Martin Kippenberger, Christof Kohlhofer, Yves Klein, Gustav Kluge, Bettina Könnemann, Jeff Koons, Yayoi Kusama, Michael Light, El Lissitzky, Robert Longo, Urs Lüthi, E-J. Marey, Paul McCarthy / Jason Rhoades, Jonathan Meese, László Moholy-Nagy, Otto Muehl, Takashi Murakami, Eadweard Muybridge, Shahryar Nashat, Tim Noble & Sue Webster, Dennis Oppenheim, Eduardo Paolozzi, Raymond Pettibon, Pablo Picasso, Richard Prince, Martial Raysse, Tobias Rehberger, Alexander Rodtschenko, Mimmo Rotella, Tobias Rehberger, Dieter Roth, Ed Ruscha, Jean Tinguely, Rob Scholte, Elfie Semotan, Cindy Sherman, Joel Sternfeld, Hiroshi Sugimoto, Nicola Tyson, Dziga Vertov, Catherine Wagner, Andy Warhol, Franz West, Catherine Yass ...