press release only in german

Das Kunstmuseum Wolfsburg eröffnet die Herbstsaison mit einer außergewöhnlichen Ausstellung: ausgesuchte Kunstwerke der westlichen Moderne begegnen Objekten der traditionellen japanischen Kunst. In einer eigens dafür entwickelten Architektur führen Zen-Malerei, Kalligraphie, Keramik, Samuraischwerter, Kimonos und Instrumente der Teezeremonie einen fesselnden Dialog mit herausragenden Werken abstrakter Malerei und Skulptur aus Europa und Amerika. Ca. 70 japanische Exponate aus Kunst und Kunsthandwerk stehen sich 70 Werken aus dem Westen gegenüber. So begegnet beispielsweise Paul Klees (1879-1940) Gemälde „Schwarze Zeichen“ von 1938 einer mit auffälligem Goldmuster versehenen Teeschale aus dem 17. Jahrhundert. In einem anderen, in japanischem Design gestalteten Raum tauschen eine lichthungrige Skulptur von Cy Twombly (geb. 1928) und ein dunkler Kiefernwald, den der legendäre Künstler Unkei im 16. Jahrhundert auf kostbares Papier „gezaubert“ hat, ihre sinnlichen Energien aus.

Der gemeinsame Aspekt, der die Artefakte in Wolfsburg zusammenführt, ist die „Schönheit der Leere“. Während das Phänomen des Minimalismus neben der Abstraktion ein Hauptmerkmal der westlichen Moderne im 20. Jahrhundert bildet, kennt die japanische Kultur die „erfüllte Leere“ und die kunstvolle Einfachheit schon seit dem 12. Jahrhundert und das nicht nur als Ausdruck der Zen-Philosophie, sondern als generelles Prinzip der Gestaltung. Besonders deutlich wird dies in der traditionellen japanischen Baukunst, die der modernen Architektur mit ihrem Hang zur formalen Klarheit scheinbar Pate gestanden hat. Die Ausstellung Japan und der Westen widmet dieser Verbindung ein eigenes Kapitel. Spektakulär ist der extra von dem japanischen Architekten Kyushu Hasada hergestellte Teeraum mit originalem Lehmputz und geflammtem Holz. Ein weiterer Höhepunkt ist der auf Dauer eingerichtete Japangarten im Innenhof des Museums, der öffentlich zugänglich ist und in Wolfburg einen Ort der Stille schafft.

Noch nie wurde die überraschende Analogie von japanischer Tradition und westlicher Moderne in so konkreten Gegenüberstellungen dargestellt. Es sollen dabei nicht nur formale Analogien, sondern auch die geistigen Unterschiede zweier auf unterschiedlichen Grundlagen basierenden Kultur vergegenwärtigt werden. Der Besucher der Ausstellung kann in Wolfsburg die vielfältigen Bezüge der Werke selbst entdecken und der Frage nachgehen, ob die Ästhetik der westlichen Moderne in ihrer Essenz nichts anderes ist, als eine stete Annäherung an die traditionelle japanische „Kultur der Leere“? Gerade heute, wo „die Leere und die Stille“ zu einem großen Bedürfnis geworden sind, liefert die Ausstellung Japan und der Westen ein tieferes Verständnis für bestimmte Fragen unserer Zeit.

Mit der Ausstellung „Japan und der Westen: Die erfüllte Leere“ realisiert das Kunstmuseum Wolfsburg ein seit langem vorbereitetes Projekt, dessen Konzeption auf Markus Brüderlin zurückgeht, der das Haus seit Januar 2006 leitet. Die Ausstellung steht in enger konzeptioneller Verbindung zu der Ausstellung "Ornament und Abstraktion: Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog", die 2001 an der Fondation Beyeler in Basel, der vorhergehenden Wirkungsstätte von Brüderlin, stattfand. Die Untersuchung zur „Fülle des Ornaments“ wird gleichsam mit der Darstellung der „Leere minimalistischer Kunst“ weitergeführt.

Mit diesem „Dialog der Kulturen“ liefert das Kunstmuseum Wolfsburg einen Beitrag zur Frage nach einer noch zu definierenden „Weltkunst“ in einer globalisierten Welt. Die Entwicklung der Moderne seit dem Jugendstil verdankt der Öffnung Japans in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl grundlegender Anregungen: Kühne flächige Kompositionen japanischer Farbholzschnitte, der „abstrakte“ Expressionismus japanischer Kalligraphie und nicht zuletzt die funktionale Leere traditioneller japanischer Innenräume. Als der deutsche Architekt Bruno Taut (1884-1967) 1934 in Kyoto in der Katsura Villa aus dem 17. Jahrhundert stand, war er offenbar zutiefst beeindruckt von der „modernen“ Schlichtheit ihrer Räume. Das war gewissermaßen der Moment, in dem das westliche Auge, das von dem exotischen Japonismus mit seinen bunten Holzschnitten erotischer Alltagsszenen geblendet war, den eigentlichen Beitrag Japans zur Architektur- und Weltkunstgeschichte entdeckte: die Schönheit der Leere.

Bereits mit der Bauhaus-Bewegung hatte auch die westliche Moderne formale Klarheit und den Hang zur Reduktion zum ästhetischen Prinzip gemacht. Doch Modernisten wie der Architekt Walter Gropius (1883-1969) mussten im alten Japan das wiedererkennen, was sie einst als revolutionäre Erfindungen des neuen „Internationalen Stils“ gepriesen hatten. „Lieber Corbu“, schrieb Gropius 1953 an seinen Kollegen Le Corbusier, „alles, wofür wir gekämpft haben, hat seine Parallelen in der alt-japanischen Kultur. ... Das japanische Haus ist das beste und modernste, das ich kenne ...“. Und der Wiener Architekt Adolf Loos formulierte schon 1927: „Moderne Architektur ist: japanische Kultur plus europäische Tradition.“

In den Fünfziger Jahren entdeckten amerikanische Künstler wie John Cage, Barnett Newman und Ad Reinhardt den Klang der Stille und die Malerei als Darstellungsform des Nichts. Künstler in Europa verbanden Malen und Meditieren und kamen zu dem Schluss, dass die Zukunft der monochromen, mystischen Abstraktion nicht zuletzt im fruchtbaren Austausch mit der ostasiatischen Malerei und der Zen-Philosophie zu diskutieren sei. In Deutschland hat die Künstlergruppe ZEN 49, zu der u.a. der mittlerweile 99-jährige Maler Rupprecht Geiger zählt, diese Erkenntnis zum Programm gemacht.

Aber – und darauf legt die Ausstellung besonders Wert - auch jenseits der religiösen Erfahrung von Transzendenz und Erleuchtung gewann die Ästhetik der Leere im Westen zunehmend an Bedeutung. Das Terrain bereitete die Minimal Art mit ihren Hauptvertretern Donald Judd (1928-1994) und Carl Andre (geb. 1935) in den Sechziger Jahren, die allen gestalterischen Bereichen vom Design über die Mode bis zum Bühnenbild wesentliche Impulse vermittelte. In den letzten Jahren offenbart sich der Hang zum Minimalen immer mehr als ein verlässlicher Grundstrom, der allen Beliebigkeiten der Postmoderne zum Trotz die Nachhaltigkeit des Projektes der Moderne unterstreicht und die These provoziert, ob die Ästhetik der westlichen Moderne in ihrer Essenz eigentlich nichts anderes ist, als eine stete Annäherung an die traditionelle japanische „Kultur der Leere“ - der erfüllten Leere? Diese Frage liegt unserer Ausstellung als These zugrunde, denn gerade angesichts der globalen Definition von Kunst ist die Zeit gekommen, die Moderne anhand der japanischen Ästhetik der Leere neu zu überblicken. „Die erfüllte Leere“ möchte mit dem eingangs erwähnten Konzept der direkten Gegenüberstellung und mit einer dafür entwickelten Inszenierungsweise einen ungewöhnlichen Beitrag zu diesem „Dialog der Kulturen“ liefern – eine Darstellungsform, deren Radikalität vielleicht gerade an diesem Ort überrascht. Die Aura der Leere steht in klarem Gegensatz zur Opulenz der Pop-Ästhetik früherer Ausstellungen im Kunstmuseum Wolfsburg. Sie soll Raum schaffen für Neues.

Für die Inszenierung der Dialoge greifen wir auf die besonderen Möglichkeiten des Kunstmuseum Wolfsburg zurück, das mit seiner 40 x 40 Meter großen und 16 Meter hohen Halle und dem flexiblen System von Ausstellungswänden ideale Bedingungen liefert. Der Besucher trifft auf eine Anordnung von weißen zumeist betretbaren Kuben, in denen zunächst „Leere“ wahrnehmbar ist. Darin heben sich zwei, manchmal auch drei präzise gegenübergestellte Objekte ab. Eine kostbare, zehn Zentimeter große, schwarze Raku-Schale aus dem 19. Jahrhundert antwortet beispielsweise der stillen Tiefe eines „Black Paintings“ von Ad Reinhardt. Das intime Gehäuse eines kleinen, extra für die Ausstellung errichteten Teeraumes (chashitsu), das mit Lehm verputzt und mit Tatami-Matten ausgelegt ist, öffnet sich einer weiß getünchten Vitrine von Joseph Beuys, die zwei abgelegte Filzanzüge enthält. Die kunstvolle Armut, wie sie der Osten in der Ästhetik des wabi-sabi verehrt, verbindet sich mit Arte Povera und westlicher Materialspiritualität.

Diese Annäherungen schaffen einen Spannungsbogen, in welchen der Betrachter mit all seinen Sinnen mit einbezogen wird. Ähnlichkeit zielt dabei nicht auf Gleichsetzung. So will die Paarung von Donald-Judd-Boxen mit einer Serie von schwarzen Rakuschalen nicht kausale Abhängigkeiten nachweisen, sondern über die Analogie die kulturellen Unterschiede zwischen identischer und nichtidentischer Reproduktion, zwischen industrieller und nichtindustrieller Herstellungsweise, die in Japan noch eine bedeutende Rolle spielt, vergegenwärtigen. Es geht darum, in den Ähnlichkeiten die Differenzen zu erkennen - die Unterschiede zweier, letztendlich auf völlig verschiedenen Grundlagen ruhenden Kulturen, um damit etwas über uns selbst zu erfahren. Das gilt auch für die Begegnung von Gerhard Merz´ durch 18000 Watt erleuchteten Lichttempel mit dem lichtdurchfluteten Glaszylinder des 2004 eröffneten „museum of contemporary art of the XXI century“ in Kanazawa. Schöpfer dieses sublimen Baues sind Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa vom Tokioer Büro Sanaa. Sanaa ist z.Z. der Gipfel des Minimalismus in der internationalen Architekturszene. Eigentlich scheint die gleißende Helligkeit das pure Gegenteil zu sein zum „Lob des Schattens“, den Tanizaki Jun´ichiô in den 30er Jahren als Grundcharakter der japanischen Ästhetik gepriesen hat. Die technoide Perfektion und der Einsatz von exklusiven Industriematerialien widerspricht der ehrwürdigen Patina des wabi-sabi. Und dennoch unterscheidet sich Sanaa vom Geist des westlichen Minimalismus und ist die hypermoderne Variante von all dem, was japanische Form- und Materialspiritualität ausmacht.

Speziell für die Ausstellung in Wolfsburg wurden neben der Ausstellungsarchitektur von Dieter Thiel ein Teeraum mit originalem Lehm-Strohputz und geflammtem Holz von dem japanischen Architekten Kyushu Hasada unter Anleitung von Manfred Speidel eingerichtet. Der documenta-Teilnehmer Gerwald Rockenschaub hat eine überraschende Installation realisiert, die die Ausstellungsarchitektur kommentiert und Yoshihiro Suda hat „homöopathische Eingriffe“ mit feinen Pflanzen in einigen Ausstellungsräumen vorgenommen. Spektakulär ist auch die große „Spirale“ auf der Empore, in der monumentale Panoramen von japanischen und chinesischen Landschaften von Raffi Kaiser und ein Steinkreis von Richard Long zu sehen sind.

Nach der Ausstellung ArchiSkulptur im letzten Jahr ist Japan und der Westen ein historischer Meilenstein in der Projektreihe „Auf der Suche nach der Moderne im 21. Jahrhundert“, mit der das Kunstmuseum Wolfsburg seit 2006 sein neues inhaltliches Programm begründet. Ausgangspunkt für die transdisziplinäre und transkulturelle Ausrichtung ist der Universalismus der modernen Kunst, die vieles vorausdachte, was später in anderen Gebieten aufgenommen wurde. Trotz der Rede von der Postmoderne beweist das Projekt der Moderne eine große Nachhaltigkeit. Die Reise in den Osten ist verbunden mit der Erwartung, in diesem Dialog einen wertvollen Baustein in der Genetik der Moderne aufzuspüren. Die stete Annäherung moderner, abstrakter Kunst an die japanische „Idee der Leere“, die wir als Grundthese herausdestilliert haben, mag ein Indiz dafür sein, dass die Synthese von westlicher Aufklärung und östlicher Spiritualität ein Schlüssel für die Zukunft der globalen Kunst und Kultur ist.

Katalog Der 300-seitige Katalog fällt durch sein reichhaltiges Material und seine großzügige Gestaltung auf. Der bekannte Schriftsteller und Japankenner Adolf Muschg hat einen einleitenden kulturhistorischen Essay verfasst. Von Markus Brüderlin stammt der einführende Text in die Ausstellung gefolgt von einem Aufsatz von Co-Kuratorin Annelie Lütgens, der den Verbindungslinien des Themas zwischen Geistesgeschichte, Religion und Ästhetik nachgeht. Essays von Shinichiro Osaki, Stephen Addiss, Ulrich Schneider, Manfred Speidel und Kazuhisa Kawamura vertiefen das Thema in verschiedenste Richtungen.

Künstler: Carl Andre, Joseph Beuys, Julius Bissier, James Lee Byars, John Cage, Helmut Federle, Terry Fox, Alberto Giacometti, Rupprecht Geiger, Roni Horn, Johannes Itten, Donald Judd, Raffi Kaiser, Yves Klein, Paul Klee, Wolfgang Laib, Richard Long, Agnes Martin, Joseph Marioni, Gerhard Merz, Barnett Newman, Walter Niedermayr, Plinky Palermo, Ad Reinhardt, Gerwald Rockenschaub, Ulrich Rückriem, Reiner Ruthenbeck, Robert Ryman, SANAA, Fred Sandback, Yoshihiro Suda, Richard Tuttle, Cy Twombly, Yu Ichi

und Objekte des traditionellen japanischen Kunsthandwerks und der japanischen Malerei, darunter von Unkei, Sakurai Baishitsu, Sen no Rikyû, Hakuin Ekaku, Ikeda Harumasa, Kichizan Minchô, Yokoyama Seiki, Hakuin Ekaku, Hon'ami Kôetsu und Tawaraya Sôtatsu, Kano Eitoku Tatsunobu, Shunsô Shôju, Yokoyama Seiki, Rengetsu Ôtagaki R., Shôton Kôsen.