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Das Ende der Nachkriegszeit vollzog sich im Westen des geteilten Deutschlands wie ein Erdbeben. Epizentrum war die Kultur; Rockmusik und Avantgardekunst. Seit den Sechziger Jahren erfassten die Wellen mit anschwellender Intensität auch die Politik, die Gesellschaft und die gesamte Lebensrealität. Die Fotografie erreichten sie verhältnismäßig spät. Erst im Juni 1979 zeigte die Ausstellung In Deutschland des Rheinischen Landesmuseums Bonn die Auswirkungen umwälzenden Veränderungen auf die fotografische Ästhetik. Sie stellten die spezifischen Formen der Bildsprache ebenso infrage wie die Einstellung der Fotografen zur sichtbaren Realität; die erstarrten Methoden der Annäherung wie die Formulare der fotografischen Gattungen. Und nicht zu vergessen: Es ging auch um die prekäre Position der Fotografie innerhalb der Bildkünste. Galt das ästhetische Interesse der künstlerischen Fotografie bislang einem „gestalterischen“ Bild der Dinge mit Kult des Einzelbildes, rückte nun ein nüchterner, genauer, dokumentarischer Blick in den Fokus. Auffälligstes Zeichen war die klare Absage an das Einzelbild zugunsten des Prinzips der Serie. Eine kleine Reihe ambitionierter junger Fotografen und Fotografinnen aus allen Teilen West-Deutschlands und Berlin beförderten den Impuls.

Von Bonn aus griff der Wandel rasch auf die anspruchsvolle Fotografie in Deutschland über. An den nationalen Grenzen machte er nicht Halt und verband sich schließlich mit entsprechenden fotografischen Initiativen in den USA. Diese wiesen zwar eine unterschiedliche Genealogie auf, zielten aber in die gleiche Richtung. Promotoren und Schlüsselgestalten der Entwicklung waren Bernd und Hilla Becher. Ihre typologische Darstellung kaum beachteter Industriearchitektur im Modus einer visuellen Erzählung ohne Story wies den ästhetischen Weg. Die signifikanten Motive der neuen Fotografie waren menschenleere Großstadtstraßen, unbedeutende Alltagsarchitektur, zuweilen, doch seltener, Menschen, triste öffentliche und private Interieurs, spröde unübersichtliche Naturansichten sowie eine Menge unansehnlicher Begleiterscheinungen der industriellen Zivilisation. Ziemlich „unattraktive(s) Material“, befand Peter Galassi. Gleichwohl eine lakonische Bilanz der bislang ausgeblendeten Schattenseiten dessen, was die Moderne außer verbreitetem Wohlstand, individueller Freiheit, Konsum und Glamour sonst noch hervorgebracht hat.

„Diese Richtung“ wurde „in zwei sehr verschiedenen und dennoch verwandten Ausstellungen dokumentiert: New Topographics, 1975 von William Jenkins in Rochester, New York organisiert […] und In Deutschland, 1979 von Klaus Honnef in Bonn organisiert, in der Werke von dreizehn Deutschen gezeigt wurden, darunter […] Heinrich Riebesehl, Michael Schmidt, zwei von Schmidts Studenten, sowie Struth und drei andere Becher-Schüler“.*

Nämlich Candida Höfer, Tata Ronkholz und Axel Hütte. Der erste Auftritt der legendären Becher-Schule. Die Initialzündung zu In Deutschland lieferte Wilhelm Schürmann. Die übrigen Mitstreiter waren Ulrich Görlich und Wilmar Koenig, die beiden „Schmidt-Studenten“, Johannes Bönsel, Hans-Martin Küsters, Martin Manz, Hartmut Neubauer und Schürmann selbst. Über Schmidt und die Bechers, die als einzige Deutsche bei New Topographics vertreten waren, liefen die frühesten Verbindungslinien zur avancierten US-Szene, zu Robert Adams einerseits und Stephen Shore andererseits.

Mit In Deutschland – der Untertitel Aspekte gegenwärtiger Dokumentarfotografie erläuterte, was Sache war – hat sich die deutsche Fotografie endgültig aus dem Banne des nationalsozialistischen Kulturbruchs gelöst. Ihre Komplizenschaft war lange das entscheidende Hemmnis einer künstlerischen Anerkennung der Fotografie in Deutschland. Nicht von ungefähr stiegen im Kielwasser des unerwarteten Erfolges von In Deutschland Fotografen wie Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Struth und Michael Schmidt neben anderen rasch zu gefeierten Stars einer Kunstszene auf, als deren Leitmedium sich die Fotografie etablierte. „Deutsche Fotografie“, eine zunächst eher verpönte Bezeichnung, mutierte zum Markenzeichen.

Kicken Berlin eröffnet mit einer verdichteten Reprise der Ausstellung In Deutschland mit Bildern von Görlich, Höfer, Hütte, Riebesehl, Ronkholz, Schmidt, Schürmann und Struth eine Reihe von fotografischen Ausstellungen zum Thema. Die Bilder aus In Deutschland vergegenwärtigten im Rückblick ein Land auf der Suche nach seiner Identität. Krieg und Nazizeit steckten noch in den Bauten und den Köpfen. Die fragile mentale Gemengelage spiegelt sich in den betont subjektiven und nichts desto weniger um Authentizität der Wiedergabe und Plausibilität im Formalen bestrebten Blicken der Fotografinnen und Fotografen. So sind die Bilder in doppelter Hinsicht Ausdruck eines „dokumentarischen Stils“ (Walker Evans). Eines Stils, der Haltung bezeugt.

Klaus Honnef

* Peter Galassi, „Gurskys Welt“, in: ders., Andreas Gursky, The Museum of Modern Art, New York, Ostfildern-Ruit 2001, S. 13.