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Der Blick in den Spiegel und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Konterfei beschäftigte bereits die Figur des Narziss aus der griechischen Mythologie. Zu allen Zeiten stellen sich Künstlerinnen und Künstler, gleichsam als Erben des Narziss, selbst dar. In der Antike und im Mittelalter findet dies oftmals im Verborgenen und nicht immer mit porträtähnlichen Gesichtszügen statt. Seit der Neuzeit rücken sich Künstler explizit in den Vordergrund ihres Werks und machen ihr Selbstbildnis zum Bildthema.

Dabei fasziniert die Selbstdarstellung auf besondere Weise. Fragen, die bei der Beschäftigung mit einem Œuvre entstehen, können über das Selbstbildnis verdichtet gestellt werden – etwa zu den Zeitumständen, in denen das Bildnis entstanden ist oder zum Selbstverständnis der Künstler in ihrer jeweiligen Generation. Von diesen Themen geleitet sammeln Kunstliebhaber seit Jahrhunderten Selbstbildnisse. Die umfangreiche Hamburger Privatsammlung von Peter Engel bildet den Ausgangspunkt der Ausstellung im Kunsthaus Stade. Ergänzt um zahlreiche weitere Leihgaben privater Sammler, Galerien und Museen lässt sich eine allgemeinere Fragestellung hinzuzufügen: Wie hat sich die Kunst der Selbstinszenierung über ein Jahrhundert hinweg in Norddeutschland entwickelt?

Die Ausstellung ICH. Norddeutsche Selbstbidlnisse aus 100 Jahren und der begleitende Katalog zeigen die verschiedenen Facetten der Selbstbildes – von der Reflektion einer intimen Selbsterforschung bis hin zur offensiven Selbstinszenierung, von der ernsthaften Dokumentation bis zum ironischen Kommentar. Zugleich zeigt die Auswahl der Werke einen Gang durch die Kunstgeschichte Norddeutschlands – aus jedem Jahrzehnt, von der Jahrhundertwende bis heute, sind impulsgebende Künstlerinnen und Künstler vertreten.

"Wir schätzen uns glücklich, eine Ausstellung zeigen zu können, die dem Schaffen der Künstlerinnen und Künstler unserer Region Beachtung schenkt. Mit der Ausstellung gelingt ein Parcour durch das 20. und 21. Jahrhundert, der unsere Lokalkolorit würdigt und zugleich größere Zusammenhänge in den Blick rückt.", Dr. Sebastian Möllers

Viele Künstlerbiografien zeigen den Wechsel vom Schüler zum Lehrer, eine Generation hat die nächste beeinflusst. Anregungen aus dem Ausland kamen dazu, langjährige Gastprofessuren an den Kunsthochschulen prägten neue Künstlergenerationen mit wiederkehrenden Motiven und Fragenstellungen.

Steht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch das ernsthafte Selbstbildnis, das die künstlerische Auffassung, Inspirationen und die eigene Biografie thematisiert, im Vordergrund, so ändert sich dies radikal nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Dominanz ungegenständlicher Positionen zwingt zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung. Einige Künstler entscheiden sich für die Weiterführung figürlicher Kunst, viele verwerfen zugunsten einer Fokussierung auf Form, Farbe und Material naturgetreue Motive, andere finden zu einer Synthese ungegenständlicher und gegenständlicher Elemente. In den 1960er Jahren setzt eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstbildnis ein. Das tradierte Verständnis vom Selbstporträt als Präsentationsform der eigenen Person und Kunstauffassung wird hinterfragt. Die Inszenierung, das Rollenspiel und die Dekonstruktion der eigenen Identität werden offengelegt – dieser kritische Umgang setzt sich bis heute fort.

Die Ausstellung zeigt auf drei Etagen über hundert Werke aus dem 20. und 21. Jahrhundert und bildet einen Querschnitt durch die norddeutsche Kunstgeschichte.

In der Ausstellung sind Arbeiten von der ersten Worpsweder Künstlergeneration sowie vom Hamburgischen Künstlerclub von 1897 vertreten. Künstler der norddeutschen Avantgarde der 1920er Jahre von Emil Nolde und Wenzel Hablik bis zur Hamburgischen Sezession folgen. Auch die Zeit der NS-Verfemung reflektieren einige Künstler in ihren Selbstbildnissen. Surreale Tendenzen finden sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Künstlerkreis um die Galerie „Insel“ in Worpswede ebenso wie in Hamburg, etwa bei Richard Oelze und Arnold Fiedler. Politische Inhalte fließen Ende der 1960er Jahre in die Arbeiten von Harald Duwe und der Hamburger Filmmacher Cooperative ein, genauso in die Aktionskunst etwa von Boris Nieslony. Postmoderne Tendenzen finden sich bei dem exzessiven Selbstdarsteller Paul Wunderlich. Um die Eingebundenheit der eigenen Identität in den künstlerischen Prozess geht es in den 1970er Jahren bei Anna Oppermann. Surreale Geschichten erzählen die Selbstdarstellungen der 1980er Jahre von Anna und Bernhard Blume. Parallel hinterfragt Franz Erhard Walther die Bedeutungen von Werk, Künstler und Betrachter. All diese Facetten sind nach wie vor Thema der Selbstdarstellung – auch bei der nachfolgenden Generation, wie beispielsweise Arbeiten von Jonathan Meese, Daniel Richter und Arne Lösekann zeigen.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog von der Kuratorin der Ausstellung, Dr. Friederike Weimar, zum Museumspreis von 19.90 Euro.