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Erstmals nach über zwanzig Jahren zeigt ein deutsches Museum das vielgestaltige Werk des französischen Malers, Zeichners und Bildhauers Henri Matisse. Die Ausstellung der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen konzentriert sich auf jene Darstellungen, in denen der Künstler sein wichtigstes Sujet fand: das Interieur mit weiblicher Figur.

Seit 1964 besitzt die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen das Gemälde Rotes Interieur, Stillleben auf blauem Tisch aus dem Jahr 1947 (Abb. 1), ein Hauptwerk der Spätzeit des Künstlers Henri Matisse. Es zeigt den Blick vom Innenraum über das Stillleben auf blauem Tisch hinweg durch das Fenster in den blühenden Garten der Villa Le Rêve in Vence. Ein dynamisches Zick-Zack-Muster greift von der Wand in die Fensterzone über, verschleift ornamental die Sphären von Innen und Außen und schafft in Verbindung mit einem dichten Netz von Bezügen die immense Oberflächenspannung des Gemäldes. Links oben im Bild findet sich die kleine Reliefdarstellung von Caroline Joblaud, der frühen Gefährtin des Künstlers, aus dem Jahr 1894, die hier als linear verknappte Pinselzeichnung zitiert wurde. Matisse übersetzt die sanft modellierte Reliefplastik aus seinem Frühwerk (Abb. 2) in die prägnante malerische Sprache seines Spätwerkes und verknüpft so – in der Darstellung seines ersten weiblichen Modells – gleichsam Anfang und Ende seiner künstlerischen Laufbahn.

Dieses pointierte Bild der Düsseldorfer Sammlung war Ausgangspunkt für die Planung einer großen Matisse-Ausstellung. Ihr Thema sind die komplexen Konstellationen von Figuren und Räumen, die von Matisse in neuartiger Weise miteinander in Beziehung gesetzt werden. Figur und Raum interpretiert der Künstler zumeist als weibliche Figur im Innen-Raum: als vom Betrachter abgewandte Lesende in einer schwach beleuchteten Interieurecke, als Protagonistin des häuslichen Lebens bei Verrichtungen am reich gedeckten Tisch, als posierendes Aktmodell im Atelier des Künstlers, als schlafende oder träumende Haremsdame (Odaliske) inmitten einer orientalisch dekorierten Szenerie. Die weibliche Figur im Innenraum ist das Hauptmotiv von Matisse’ Kunst, an dem der Künstler in allen Werkphasen und durch alle Innovationsschritte hindurch immer festgehalten hat. Es geht dieser Ausstellung damit um die wesentlichen künstlerischen Phänomene seines Werkes, um seinen spezifischen Blick auf Figuren, Räume und Dinge, um seine visuelle Erschließung und Deutung der Welt der Moderne. Dieser thematische Fokus ergab sich unmittelbar aus dem Düsseldorfer Bild; er eröffnet aber eine umfassende Perspektive auf das Gesamtwerk, so dass eine breit angelegte Matisse-Ausstellung mit Werken in allen künstlerischen Medien – Malerei, Zeichnung, Druckgrafik, Plastik, Papierschnitt – und aus allen Schaffensphasen – von den kraftvollen Interieurgemälden der Frühzeit bis zu den zeichenhaft verkürzten Kompositionen des Spätwerkes – verwirklicht werden konnte.

Matisse hatte ein reiches Leben, in dem ihm nach bescheidenen Jugendjahren volle Anerkennung zuteil wurde. 1869 in Le Cateau-Cambrésis geboren, verlebte er seine Jugend in Bohain nahe der belgischen Grenze, im französischen Teil Flanderns. Die ersten einundzwanzig Jahre verbrachte Matisse unter dem grauen nördlichen Himmel der Picardie, dieser schnell industrialisierten europäischen Region, die eine halbe Generation zuvor Vincent van Gogh hervorgebracht hatte. Wie van Gogh zog es auch Matisse bald in südlichere Gefilde, zunächst – ab 1891 – nach Paris, wo er als Student der Académie Julien, als Schüler von Gustave Moreau, als Kopist im Louvre seine ersten prägenden Künstlerjahre verbrachte. Von Paris aus zog es ihn weiter ans Mittelmeer, nach Korsika, nach Collioure, nach Algerien und Marokko, 1930 sogar bis nach Tahiti.

Seine Laufbahn ist markiert von Entwurzelungen, von immer neuen Aus- und Aufbrüchen. Das Fenster, die geöffnete Tür, der Blick nach draußen erweisen sich als aufschlussreiche, vielfach interpretierbare Bildmetaphern in Matisse‘ Werk. 1918 lässt sich der Künstler in Nizza nieder. Hier kam das Leben des »sesshaft Reisenden« – wie Matisse von sich sagte – phasenweise zur Ruhe, hier entwickelte sich seine Malerei als Kunst der scheinbar problemlosen Sinnlichkeit und Schönheit. In Nizza, auf dem Friedhof von Cimiez, hat er 1954 seine letzte Ruhestätte gefunden.

Matisse‘ wichtigstes Sujet, die weibliche Figur im Interieur, hatte seine Blütezeit in der bürgerlichen Kultur des niederländischen 17. Jahrhunderts, erhielt in Frankreich in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit J.B.S. Chardin große Popularität und avancierte im französischen 19. Jahrhundert geradezu zum Kampfplatz, auf dem um die Grenzen der Identität gerungen wurde. Zu Matisse‘ Zeiten – im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – stand das weiblich besetzte Interieur als künstlerisches Sujet also keineswegs mehr selbstverständlich zur Verfügung; es hatte eine Geschichte der künstlerischen Neubewertung im 19. Jahrhundert durchlaufen, in der das tradierte Thema anderweitig aufgeladen wurde: mit Aspekten der sozialen Realität von Frauen, mit zeittypischen Mythen von Weiblichkeit, aber auch mit der Ästhetik des Dekorativen und der beginnenden Abstraktion.

Matisse hat sich als Künstler immer zur Geltung seiner Vorläufer in der europäischen Kunstgeschichte bekannt, und so stehen seine frühen Interieurs unverkennbar in der Tradition niederländischer und französischer Gattungsmalerei des 17. und des 18. Jahrhunderts. Das Gemälde Die bre-tonische Serviererin (Abb. 3) von 1896 kann als sein Abschiedstribut an diese große Tradition gelten. Die weibliche Figur ist mit häuslichen Tätigkeiten am gedeckten Tisch befasst und damit durch ihre Funktion in die Darstellung des Innenraumes eingebunden. Anders als in dem intimen Interieurgemälden der Tradition schließt sich in Die bretonische Ser-viererin der Raum jedoch nicht wie ein dunkler Kokon um die häusliche Szenerie; die nach links geneigte Figur wird vielmehr vom rechten Bildrand überschnitten und ragt mit ihrem Kopf in den Bereich der Tür auf der Rückwand, die das Interieur zum Nebenraum hin öffnet. Bereits hier zeigt sich Matisse’ Interesse an der weiblichen Figur als vermittelnde Gestalt, die die Tiefenflucht des horizontalen Tisches und die Vertikalität der Rückwand, die Türöffnung in der Mitte und die Grenze des Bildes miteinander verbindet. Die Figur erfüllt in ihrer dezenten Farbigkeit und in ihrer markanten Platzierung am Rand des Bildes gleichsam eine doppelte Rolle: eine funktionale im Zusammenhang des häuslichen Interieurs und eine strukturelle als »Scharnier« im Bildraum zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, zwischen Innen und Außen. Die funktionale Einbindung der weiblichen Figur ins Interieur wird Matisse bald hinter sich lassen, um statt dessen die dynamischen Interaktionen zwischen Körper und Raum zu akzentuieren.

Das Gemälde Carmelina (Abb. 4) aus dem Jahr 1903 markiert entschieden einen Neuanfang in Matisse‘ Darstellungen von Figur und Raum. Die niederländisch-französische Tradition der intimen Interieurs hat der Künstler nun hinter sich gelassen, um die Erfahrung der modernen Raumdarstellung, die ihm durch Cézannes Werk vermittelt wurde, zur Geltung zu bringen. In Carmelina wird erstmals eine extrem artifizielle Bild-Raum-Konstruktion mit der vieldeutigen Figurenkonstellation von Maler und Modell durch Farbbeziehungen verzahnt. Die Raumstruktur von Carmelina erweist sich als spannungsreiche Durchdringung von Zwei- und Dreidimensionalität. Auffällig ist das zentral platzierte Aktmodell, das den Betrachter durch seine Frontalität und durch seine monumentale Körperlichkeit direkt anspricht. Ihr üppiges Körpervolumen kontrastiert mit der Staffelung unterschiedlicher flächiger Elemente, wie Bilder, Spiegel und Rahmen, die die Bildfläche rhythmisieren. Die zahlreichen vom Bildrand überschnittenen Flächen geben dem Gemälde eine expansive, über die Bildränder hinausweisende Qualität. Der gerahmte Spiegel hinter Carmelina fügt sich einerseits wie ein »Bild im Bild« in die flächige Ordnung, andererseits ändert er die räumliche Anlage des Gemäldes entscheidend: Der durch die Figuren, das Modell und den im Spiegel sichtbaren Maler hergestellte Tiefenzug endet an der reflektierten Rückseite eines Leinwandbildes, das sich wiederum in die geometrischen Streifen und Flächen der Bild- und Rahmenmotive des Atelierinterieurs einfügt. Durch gezielte Farbsetzungen werden überraschende Zusammenhänge zwischen Motiven aus unterschiedlichen Raumschichten herstellt: So ist die rechte Hand des Modells entgegen jeder naturalistischen Wahrscheinlichkeit in demselben leuchtenden Rot dargestellt wie die Bekleidung des Künstlers, der sich im Spiegel zeigt.

Cézannes Bedeutung, den Matisse als »unser aller Vater« verehrte, zeigt sich hier vor allem in der neuartigen Ausdeutung der Farben, die als Kräfte im Bild zur Konstruktion räumlicher Gefüge unabhängig von den alten Perspektivmitteln eingesetzt wurden. Cézannes Malerei bildet gleichsam die kunsthistorische Voraussetzung für Matisse’ Einsicht in die äquivalente Bedeutung der bildlichen Zonen zwischen den gegenständlichen Motiven, die mittels Farbe die Konstellationen von Figur und Raum dynamisieren. Markant ist im Falle von Carmelina die Ersetzung der rechten Hand des Modells durch einen leuchtend roten Fleck in der Farbe der Bekleidung des Künstlers im Spiegel. Es geht in Carmelina offensichtlich um das Vermessen der Distanz zwischen Maler und Modell, die sich in Farbrelationen, in Plastizität und in Flächenwerte übersetzt.

Für Matisse‘ war das bewohnte Interieur oft identisch mit dem Atelierraum, der Produktionsstätte seiner Kunst. Aus diesem Grund treten seine eigenen Werke häufig als Requisiten seiner Stillleben- und Interieurbilder in Erscheinung. In Stillleben mit Statuette von 1906 (Abb. 5), einem Werk der fauvistischen Phase, verbindet der Künstler drei verschiedene Gegenstandsbereiche: nordafrikanisches Kunsthandwerk, das Matisse im Mai 1906 von seiner ersten impulsgebenden Algerien-Reise mitgebracht hatte, einige Früchte sowie seine figürliche Plastik Stehendes Mädchen, Arme am Körper anliegend von 1906 (Abb. 6) und – kaum als solches auszumachen – sein Blumen-Gemälde Blumen, dessen Kante sich als leicht geneigte vertikale Farbspur rechts im Bild zeigt. Die Gipsplastik Stehendes Mädchen nach dem Modell von Matisse‘ Tochter Marguerite scheint mit eng an den Körper angelegten Armen und den zur Einheit verblockten Beinen afrikanischen Vorbildern verpflichtet. Doch ihre Position im Bild unterstreicht nicht die symmetrisch-frontale Anlage der Figur; die Stehendes Mädchent ist aus der Achse nach links gedreht, sodass sich die geschwungene Konturlinie der Figur in Dreiviertelansicht zeigt. In der Konfrontation der Statuette mit dem Blumengemälde eröffnet Matisse den Dialog zwischen Haptischem und Visuellem, zwischen Malerei und Plastik.

Matisse hat seine Bronzen parallel und in enger Wechselwirkung mit seiner Malerei gefertigt, wobei er die Bedeutung seines plastischen Werkes als bloßes Komplement seiner Malerei unterordnete. Während die Plastik physisches Gewicht bewahrt, übersetzt der Pinsel des Malers die Plastik im Medium der Farbe in die abstrakteren Flächenwerte des Gemäldes. Dort behauptet sie dennoch einen anderen Realitätsgrad als die Stilllebenge-genstände im Vordergrund des Bildes, die »natürlichen« Früchte und die kunstgewerblichen Gegenstände. Die Plastik Stehendes Mädchen tritt in Wechselwirkung mit den gemalten Blumen in Blumen, die als freie Farbflecken den Hintergrund besetzen.

Zeitgleich mit den zahlreichen Darstellungen von weiblichen Figuren in Landschaften, die Matisse im Sommer 1906 in Collioure malte, entwickelte der Künstler eines der tragenden Themen seines Werkes: die femme-fleur, die weibliche Figur in Verbindung mit Pflanzen und Blumen, die sich in zahlreichen Interieurs bis in Matisse’ Spätwerk findet. Der Künstler hat die Analogie von weiblicher Figur und pflanzlicher Natur, Modell und Blume, Akt und floralem Dekor für seine Kunst der Balance immer wieder betont: »Wenn ich Frauen sehe und studiere, denke ich oft an Blumen, nie umgekehrt.«

In Stillleben mit Statuette sind beide Elemente – die weibliche Figur und die Blumen – als Selbstzitate von Matisse‘ eigenen Werken gegeben. Durch die Einbeziehung der bereits künstlerisch interpretierten Figur der Stehendes Mädchen geht Matisse auf Distanz zum »natürlichen« Körper seines Modells Marguerite. In gleicher Weise geht die Darstellung der Blumen nicht aus der Anschauung der Natur hervor, sondern ist durch seine eigene künstlerische Deutung in dem Gemälde Blumen vermittelt. Durch diesen doppelten Schritt der Entfernung von den natürlichen Vorbildern steigert Matisse die Künstlichkeit des Kunstwerks. Figur und Pflanzen erscheinen als zweifache Projektion der künstlerischen Fantasie.

Matisse’ hochproduktive experimentelle Periode wird üblicherweise in zwei Phasen unterteilt: die erste von 1908 bis 1910, in der organisch-flüssige und arabeske Formen dominieren, und die zweite von 1911 bis 1917, in der – als Resultat seiner Auseinandersetzung mit dem Kubismus – stärker geometrisierende Formen vorherrschen. Das Porträt Yvonne Landsberg von 1914 (Abb. 7), ein Hauptwerk seiner Porträtkunst, belegt, dass Matisse seine Malerei zu keiner Zeit einer einheitlichen Stilistik untergeordnet hat, dass vielmehr der Künstler fortwährend überraschende Kehrtwendungen und Positionswechsel vollzog. Während Matisse in Stillleben mit Statuette durch die Einbeziehung eines plastischen Körpers Distanz zum Modell herstellte, hat er im Porträt Yvonne Landsberg eine radikal anti-naturalistische Form erdacht, um sich von der Verpflichtung auf Porträtähnlichkeit zu lösen. Die Dargestellte ist die 19-jährige Yvonne Landsberg, ein junges Mädchen brasilianischer Herkunft, dessen schüchternes Wesen immer wieder betont wird. Während der langwierigen Arbeit am Gemälde entfernte der Künstler die Darstellung immer weiter von den individuellen Zügen seines Modells – bis zur völligen Ablösung vom Vorbild der menschlichen Physis: In der letzten Porträtsitzung kratze Matisse mit dem Ende des Pinselstiels in die noch feuchte Farbe einige lang ausgezogene Bögen und Linienbündel, die die Kör-perkontur wie ein Echo aufnehmen und übersteigern. Er habe, so bemerkt Matisse später, »Konstruktionslinien, ... um die Figur gezeichnet, um ihr eine größere Fülle im Raum zu geben«. Für diese ungewöhnliche Deutung der weiblichen Figur ist es aufschlussreich, dass der Künstler während der Arbeit am Porträt eine Reihe von Grafiken und Zeichnungen anfertigte, die die Dargestellte in Analogie zu Blüten und Pflanzen setzen. Die an sich banale, weil allzu naheliegende Verknüpfung von Frau und Blume ist im Bildnis der Yvonne Landsberg als ästhetisches Prinzip produktiv gewendet und damit keineswegs mehr konventionell, sondern Anlass für eine eigenständige Formschöpfung. Durch die Nähe zur aufbrechenden Blütenknospe entindividualisiert der Künstler die Darstellung. Andererseits findet er für die Dargestellte eine sehr individuelle Form der ästhetischen Transformation, die sich in keinem seiner anderen Porträts wiederfindet.

Was sich für Matisse‘ Deutung der menschlichen Figur beobachten lässt, gilt auch für seine Auffassung des Raumes: Er ist keine gegebene Größe mehr, keine in sich geschlossene Einheit, die sich mit den Mitteln der Perspektive angemessen darstellen ließe. Es geht dem Künstler vielmehr darum, auf der beschränkten Fläche des Leinwandbildes eine Vorstellung von Öffnung und Weite, von Unendlichkeit zu vermitteln. 1916, in der Zeit des Ersten Weltkrieges, die zur Trennung von seiner Familie führte, schuf Matisse Die Klavierstunde (Abb. 8). Die monumentale Darstellung einer häuslichen Szenerie weitet sich zu einer umfassenden Aussage über sein Künstlertum. Dargestellt ist Matisse’ Sohn Pierre als Junge am Klavier im Esszimmer des Wohnhauses der Familie Matisse. Die beiden weiblichen Figurationen sind verschleierte Selbstzitate: Rechts oben adaptiert Matisse ein Porträt, das er im selben Jahr gefertigt hatte. Die Dargestellte, Germaine Raynal, die Frau eines Kunstkritikers, ist hier als gesichts- und beinahe körperloses Schemen wiedergegeben. Links unten zitiert er seine Bronze Dekorative Figur von 1908 (Abb. 8), die als seine sinnlich-erotischste Plastik gilt. Diese gegensätzliche Charakterisierung der weiblichen Figuren entspricht dem Spiel zwischen Natur und Geometrie, das die Gesamtheit des Bildes prägt, und das auch den Klavierspieler erfasst: Sein linkes Auge wird von einem grauen keilförmigen Schatten überlagert, der ein formales Grundelement des Bildes, das Dreieck, auf die Figur überträgt. Jede der drei Figuren gehört einer anderen Realitätsebene an, was sich in der totalen Isolierung voneinander ausdrückt. Auf dem Klavier befinden sich zwei symbolisch lesbare Objekte: ein Metronom, das die Dreiecksform aufnimmt, als Zeichen für Maß, Ordnung, Logik, Rationalität, und ein Kerzenständer, der sich als Flamme der Inspiration deuten lässt.

Auffällig sind die zahlreichen formalen und motivischen Korrespondenzen innerhalb des Gemäldes. Der Ebene der Geometrie treten die ornamentalen Formen am Fenster und am Notenständer gegenüber. Eine Diagonalachse des Bildes wird von dem grünen Naturausschnitt und dem formal verwandten Metronom geometrisch bestimmt, die andere von den zwei weiblichen Figuren. Diese repräsentieren ihrerseits polare Eigenschaften wie plastisch versus malerisch, taktil versus flach, unbekleidet versus bekleidet, sinnlich-posierend versus streng-kontrollierend. Die Rhythmik der Geometrie, das Fließen der geschweiften Ornamentformen und die Farbkorrespondenzen beziehen die figürlichen wie die nicht-figürlichen Motive des Bildes gleichermaßen mit ein. Diese Aspekte des Bildes entsprechen der künstlerischen Intention auf Ausgleich und Ganzheit, die sich auch in dem durchgehenden grauen Fond materialisiert. Sie vermögen allerdings den vorherrschenden Eindruck der grafischen Zerlegung des Raumes in unterschiedliche Bildebenen und der rigorosen Isolation der einzelnen Bildelemente nicht zu entkräften. Diesem häuslichen Interieur fehlt jede Intimität; es wird zu einer geometrischen Flächenkonstruktion, die in ihrem Bedeutungsgehalt die Sphäre des Familiären weit übersteigt und das den exemplarischen Charakter des Interieurs für Matisse’ Kunst vorführt. Die künstlerischen Selbstzitate, die Zeichen für das Kunstschaffen zwischen Geometrie und Ornament, die exemplarische Bedeutung der Musik lassen Die Klavierstunde als verschleiertes Selbstporträt des Musiker-Künstlers Matisse erscheinen.

In den Jahren nach 1918 ist das von weiblichen Figuren besetzte Interieur nicht nur das wichtigste, sondern fast das einzige von Matisse‘ künstlerischen Sujets. Nach der Trennung von seiner Familie und dem Umzug nach Nizza sind nicht mehr die Mitglieder seiner Familie die Protagonisten seiner Bilder; erstmals arbeitet Matisse konsequent mit professionellen Modellen, die ihren Auftritt in den angemieteten Räumlichkeiten seiner wechselnden Atelier-Wohnungen haben. Die bezahlten Modelle treten dort entweder als zeitgenössischer Typ der Neuen Frau der Nachkriegszeit in Erscheinung, oder sie werden – als Odalisken verkleidet – zu Darstellerinnen in einer vom Künstler mit zahlreichen Requisiten »orientalisch« ausgestatteten Inszenierung. Im ersten Fall zeichnen sich die gemalten Räume zumeist durch eine durchlässige Struktur von Innen und Außen mit architektonischen Öffnungen wie Erker, Fenster, Türen und Balkone aus, während diese im zweiten Fall, den »Odalisken-Bildern«, zumeist durch ornamentale Stoffe, Paravents, Moucharabieh genannte Vorhänge und andere Dekorationen verschlossen werden.

Der schwarze Tisch aus dem Jahr 1919 (Abb. 9) ist ein Werk des Übergangs zur Odalisken-Periode. Die weibliche Figur im Bild ist Antoinette Arnoud, ein professionelles Modell aus Nizza, das im Sommer 1919 gemeinsam mit Matisse aus dem Süden nach Paris gereist war, wo das Gemälde im Atelier in Issy-les-Moulineaux entstand. Der schwarze Tisch verbindet die malerische Wiedergabe dekorativer Textilien in der kraftvollen Art der großen Stillleben der Zeit um 1909 und die strengere Bildsprache der Abstraktion aus der unmittelbar vorausgehenden Periode, die sich in der schwarzen Tischfläche zeigt, mit der Darstellung der in ein »orientalisches« Jäckchen gekleideten Antoinette, die auf die sogenannte Odalisken-Periode vorausweist.

Antoinette schaut den Betrachter frontal und direkt an, doch vermag ihr Blick nicht, dessen Aufmerksamkeit auf ihre physisch-körperliche Er-scheinung zu fixieren. Dieser Blick wirkt eher kühl und unnahbar, ihre Körperdarstellung wirkt nicht als erotische Einladung an den Betrachter. Der erotische Appell wird vielmehr an die Umgebung weitergegeben: Der Blick des Betrachters schweift von der weiblichen Figur und ihrer Einkleidung mit transparentem Unterkleid zu dem »orientalischen« Kostüm, zu den Blumen, zu den ornamentalen Dekorationen und dem Streifenmuster des Holzbodens. Wie die Figur, so ist auch der Raum »verkleidet«, verborgen unter den fließenden Rapporten des Dekors.

Die undurchdringliche schwarze Fläche des Tisches und die weibliche Figur im transparenten Gewand sind als gleichwertige Bildmotive gestaltet. Beide sind gleichermaßen räumlich ambivalent: Der Tisch erscheint als schwarzes Trapez und vermittelt deshalb nur begrenzt den Eindruck von Tiefenräumlichkeit. Die Vase, ein klassisches Bild für Körper und Volumen, ist transparent dargestellt; sie wird als vollplastisches Motiv von der schwarzen Fläche des Tisches aufgesogen. Die weibliche Figur ist zwar scheinbar realistisch gestaltet, doch ist auch sie in auffälliger Weise nicht plastisch beziehungsweise volumenhaltig gegeben, sondern tendiert ebenfalls zur Zweidimensionalität. Der Blick auf den Körper der weiblichen Figur ist durch die geöffnete Bluse und das durchsichtige Gewebe des weißen Stoffes partiell freigegeben. In den figürlichen wie in den nicht-figürlichen Motiven befasst sich Matisse mit dem Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Zeigen und Verbergen. Damit ist das durchgängige Thema der Odaliskenbilder angestimmt: Es geht dem Künstler darin nicht um das Stimulieren des Betrachters durch die Darstellung von erotisch aufgeladenen Körpern. Matisse setzt vielmehr eine innerbildliche Dynamik in Gang, die den Blick schweifen lässt: von den Figuren zu den exotischen Requisiten, zur räumlichen Umgebung. Auf diese Weise lässt er den Betrachter an dem dynamischen – mentalen, emotionalen und visuellen – Austauschprozess zwischen Maler und Modell teilhaben, der sich der Gesamtheit des Bildes mitteilt.

Die Nizza-Periode ist bestimmt von einer quasi-seriellen Atelierpraxis mit einem relativ gleichmäßigen Strom an Bildern verwandter Sujets, aus dem immer wieder singuläre Bildfindungen wie Inseln herausragen. Ab Mitte der 1930er Jahre verstärkte sich die Tendenz zur prozessualen Aufspaltung des Werkes bei einer gleichzeitigen Tendenz zur formalen Klärung und Monumentalisierung. In dieser Zeit reduzieren sich die räumlichen Volumina in seinen Gemälden zugunsten prägnanter Figur-Grund-Beziehungen.

Die Musik aus dem Jahr 1939 (Abb. 10) zeigt zwei weibliche Figuren, Lydia Delektorskaya und Hélène Galitzine, im Interieur des Hôtel Regina in Cimiez. Eine Serie von Fotografien dokumentiert den Werkprozess von Die Musik in achtzehn Aufnahmen. Sie vermitteln keine allmähliche Annäherung an die endgültige Bildform, sondern ein fortwährendes Verschieben und Neukonfigurieren der Bildelemente, wobei jede der Zwischenstufen als in sich gültige Lösung zu betrachten ist. Im Entstehungsjahr von Die Musik beschrieb Matisse sein prozessuales Vorgehen folgendermaßen: »Alles in Allem: Ich arbeite ohne Theorie. Ich bin mir nur der Kräfte bewußt, die ich benütze, und ich schreite fort, angespornt von einer Idee, die ich wirklich erst kennenlerne dadurch, daß sie nach und nach in meinem Bild Gestalt annimmt.« Matisse hat die neue zeitliche Dimension des Werkes akzentuiert, indem er den früher im Verborgenen vollzogenen Werkprozess in Form von fotografischen Serien in zwei Kunstzeitschriften, in Cahiers d’Art und Art News, veröffentlicht hat. In den achtzehn Stationen des Werkprozesses von Die Musik gestaltet er eine flexible, beinahe tänzerische Konfiguration zweier Körper. Ihre weit ausgreifenden Gliedmaßen umfangen einzelne Partien ihres räumlichen Umfeldes und integrieren sie in die Radien ihrer Körperformen. Auch die räumliche Umgebung hat sich aus einer flexiblen Struktur bildparalleler Elemente verdichtet. Im letzten Bild besteht sie aus vier nebengeordneten Bereichen: dem roten Feld mit gelbem Gittermuster links, dem roten Quadrant mit weißem Zackenmuster rechts, dem Tisch mit dem Stillleben unten und dem Fries aus Philodendronblättern, der sich oben über die ganze Breite des quadratischen Bildes ausdehnt. Es entsteht der Eindruck einer dynamischen Gesamtanlage aus mehreren Ebenen, die durch eine latente Diagonale von links unten nach rechts oben (aus roten Beinen und Gitarre) ein Gegengewicht erhält.

Bereits 1935 hat Matisse das Bild als paradoxe Einheit von prozessualem Geschehen und vexierbildartiger Figur-Grund-Beziehung charakterisiert und in Analogie zur Musik gesetzt: »Für mich sind Gegenstand und Hintergrund in einem Bild gleich wichtig oder, um es deutlicher zu sagen, es gibt keinen Hauptgegenstand, nur auf die Anordnung kommt es an. Das Bild wird gestaltet durch die Kombination von verschiedenfarbigen Flächen, die schließlich einen ›Ausdruck‹ hervorbringen. So wie in einem Musikstück jede Note der Teil eines Ganzen ist, so will ich, daß jede Farbe ihr Gewicht als Beitrag zum Ganzen hat.« In den 18 Werkstufen von Die Musik hat der Künstler die Figuren, die Elemente ihrer räumlichen Umgebung und die Muster und Zierformen in einem luziden Gesamtrhythmus versetzt. Was auf den ersten Blick wie ein homogenes Bild erscheint, ist tatsächlich aber ein konzentrierter Moment in einem potentiell unendlich oft teilbaren zeitlichen Kontinuum. Für Matisse‘ letzte künstlerische Errungenschaft – die Papierschnitte der 1940er und 1950er Jahre – ist die Gleichzeitigkeit dieser zwei an sich gegensätzlichen Phänomene die entscheidende Voraussetzung: die Prozessualität der Formen bei zeichenhafter Prägnanz der Figur-Grund-Relationen.

Die Arbeit an den Papierschnitten hat Matisse in einem dreistufigen Werkprozess organisiert. Der erste Schritt bestand im Einfärben der Papiere mit Gouache, der zweite im Schneiden in das gefärbte Papier mit der Schere, der dritte im Arrangement der Elemente auf der Papierfläche beziehungsweise auf der Wand. Zwei Tätigkeiten dieses dreistufigen Werkprozesses – das Auftragen der Farbe und die Applikation auf die Wand – wurden unter Matisse‘ Regie von Assistenten, insbesondere von Lydia Delektorskaya, seiner Vertrauten der späten Jahre, ausgeführt. Damit löste sich der Werkprozess in zwei wesentlichen Aspekten vom Künstler und ging partiell an beteiligte Dritte über. Im entscheidenden zweiten Arbeitsschritt, dem Prozess der Gestaltung der Form mit der Schere, der allein von der Hand des Künstlers ausgeführt wurde, änderte sich ein zentrales Moment seiner langen Atelierpraxis: die Unterstützung durch das Modell wurde überflüssig. Bereits 1942, am Beginn seiner Arbeit mit den Papierschnitten als autonomem Medium, hatte Matisse seine Hoffnung geäußert, »eines Tages ganz ohne Modell auszukommen«; die Hervorbringung der Formen im Papierschnitt sollte auf der Grundlage von Erinnerung realisiert werden.

Die Blauen Akte zählen zu den wichtigsten Formfindungen des produktiven Jahres 1952. In Blauer Akt I (Abb. 11) erscheint die Figur gleichsam in sich selbst verschlungen, sich dabei ihr Umfeld, den weißen Papiergrund, einverleibend. Die blauen und weißen Formen werden dadurch in doppelter Weise lesbar. So kann beispielsweise die stabilisierende Achse am rechten Rand als Arm oder als Rücken angesehen werden. Die parallele weiße Fläche visualisiert das radikale Eingreifen des Umraumes oder des Grundes in das Innere der Figur – das Moment der Drehung annulliert jede Idee von Dualität oder Grenze. In Venus (Abb. 12), seiner radikalsten Figuration, verkehrt Matisse die Beziehung von Figur und Grund und kombiniert zwei Ansichten der Figur, die sich nur im zeitlichen Nacheinander entfalten können. In einer spiralförmigen Windung schraubt sich die Figur von links aus der Fläche des weißen Papiers und wird in mehrfacher Ansichtigkeit fixiert: als Figuration jenseits des anatomisch Möglichen – mit zwei Brüsten, die in der Höhe leicht versetzt als Silhouetten zu beiden Seiten des Rumpfes in Erscheinung treten. Venus ist eine Figur der Leere, die allein durch die Fragmente ih-res Umfeldes hervorgebracht wird.

Die besondere Erfahrung, die der Betrachter von Matisse‘ Werken macht, resultiert nicht aus der künstlerischen Vision eines Goldenen Zeitalters oder anderen paradiesischen Verheißungen, vielmehr aus der beglückenden Erfahrung einer lebendigen, ungeheuer beweglichen Welt. Die Realität nahm Matisse nicht in starren Ordnungen und festen Strukturen wahr. Figur und Raum sind für ihn disponible Elemente, die sich im Bild auf vielfältige Weise miteinander verschränken können. Der Künstler lässt uns teilhaben an seinen emotionalen Schwingungen, die sich der Gesamtheit seiner Bilder mitteilen, er macht den Betrachter zum Mitspieler seines dynamischen Energieaustausches mit der modernen Welt.

Pia Müller-Tamm

Pressetext

Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog in deutscher, englischer und französischer Sprache. Am 2./3. Dezember 2005 findet ein wissenschaftliches Symposium zu Henri Matisse in der Kunstsammlung statt.

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Henri Matisse: Figur Farbe Raum
Kuratorin: Pia Müller-Tamm

Stationen:
29.10.05 - 19.02.06 Kunstsammlung Nordrhein Westfalen, Düsseldorf
09.03.06 - 09.07.06 Fondation Beyeler, Riehen / Basel