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Nach der ersten Perestroika-Begeisterung Anfang der 1990er Jahre ebbte das Interesse des Westens an der zeitgenössischen Kunst Russlands wieder ab. Aber was passierte nach Gorbatschow und Kabakov? Welche Künstler folgten auf Pavel Pepperstejn oder Komar und Melamid?

Dem Russlandreisenden begegnet heute eine lebendige Kunstszene, in der sich Performance mit Gesellschaftskritik, Clownesk-Aggressives mit zarter, literarisch und philosophisch wohl informierter Poesie trifft. Die zeitgenössische Kunst Russlands, die sich vor allem in Moskau prismatisch bündelt, berichtet von einer Gesellschaft im rapiden Wandel mit großartigen Perspektiven und extremen Härten.

Die Auswahl (in Zusammenarbeit mit dem Moskauer Kurator Georgij Nikitsch) spiegelt die wichtigsten Tendenzen des künstlerischen Schaffens in Russland von den frühen 1990er Jahren bis heute wieder. Sie umfasst 35 Künstler und Künstlerinnen mit gesellschaftsbezogenem Ansatz (Sergej Schutow, Wikentij Nilin, Gruppe Radek), einer neokonzeptionellen Richtung (Viktor Alimpijew, Wladimir Archipow) bis hin zu idiosynkratisch energetischen, eigensinnigen Künstler-persönlichkeiten wie Oleg Kulik, Natalia Turnowa, Irina Korina, Tatjana Antoschina ud Wladislaw Mamyschew-Monroe.

Bei der Auswahl wurden auch im Ausland lebende russische Künstler, die weiterhin mit der Moskauer Kunstszene vernetzt sind, berücksichtigt (Genia Chef, Aleksandra Koneva, Alexej Kostroma, Berlin).

Einige der in der Ausstellung vertretenen Arbeiten sind eigens für die Ausstellung entstanden und nehmen auf Baden-Baden und auf die deutsch-russische Vergangenheit dieses Ortes Bezug. So wird beispielsweise Wladislaw Mamyschew-Monroe, der sich performativ in zeitgenössische und historische Persönlichkeiten versetzt, die Figur von Fjodor Dostojewski in Baden-Baden wieder beleben.

Da die Performance-Kunst ein wichtiges Ausdrucksmittel für junge Künstler in Russland ist, wird als Schwerpunkt der Ausstellung am Eröffnungswochenende ein Performance-Programm durchgeführt (Elena Kovylina, „La Rose Sauvage“, Natalia Mali / Andrei Prigov, Marina G. M. Ljubaskina-S., Leonid Sochranski u.a.).

Das Ausstellungsprojekt wird durch die Kulturstiftung des Bundes gefördert und vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg unterstützt. Pressetext

Die russische Kunst in den 1990er Jahren: Vom Neorussischen zum Postkommunistischen Essay von Jekaterina Degot

Die 1990er Jahre begannen in Russland ganz plötzlich – zugleich mit Russland selbst. Als nämlich die Sowjetunion 1991 als Staatsgebilde zu existieren aufhörte, erwachten die Bewohner des Landes in einem anderen Staat, umgeben von anderen Adjektiven: Alles “Sowjetische” war nun “russisch” geworden. Die Generation, die zu Beginn der 1990er Jahre die Kunstszene in Russland betrat, musste sich zwangsläufig mit diesem Land identifizieren – eine ganz neue Erfahrung für einen Künstler aus der UdSSR, der sich in der Position des mehr oder weniger offen bekennenden Dissidenten durchaus wohl gefühlt hatte. Die Generation davor – die Künstler der inoffiziellen Kunst in den 1970er bis 1980er Jahren, vor allem der Kreis der Moskauer Konzeptualisten – war physisch an ihren Wohnort gefesselt gewesen, hatte sich jedoch innerlich keineswegs an ihn gebunden gefühlt und ihre Lebens- und Schaffensstrategie in Distanz zu ihm entwickelt. Die neue Generation konnte dagegen reisen; doch im Ausland merkten die Künstler erstaunt, dass sie als Vertreter eines ihnen reichlich fremden Landes namens Russland wahrgenommen wurden.

Das Trauma der Russifizierung Jeder sah sich vor die Frage gestellt, ob er sich als “Künstler im Allgemeinen” oder als “russischer Künstler” positionieren sollte. Die Entscheidung darüber war zwar nicht von existenzieller Wichtigkeit, hatte aber für den Verlauf der Karriere Bedeutung. Das internationale System zur Förderung des Multikulturalismus, das sich just in den 1990er Jahren konstituierte, bewog die Künstler mit seinen Stipendien, Quoten und anderen Belohnungen für die Ausrufung der eigenen nationalen Identität dazu, die zweite Antwort zu wählen. Von einem Künstler aus aus Osteuropa oder dem Baltikum – also aus Ländern, die sich, wie man glaubte, nach der Befreiung vom sowjetischen Joch auf die eigene nationale Tradition besinnen würden – wurde die Repräsentation seiner ethnischen Zugehörigkeit erwartet. Diese sollte natürlich kritisch ausfallen, aber die Identität durfte nicht touristisch inszeniert, sondern musste echt sein. Damit war jeglicher Kritik der Boden entzogen. Für die Künstler, die nun plötzlich “russisch” waren, blieben diese bald versteckten, bald unverhüllten Forderungen bis heute unannehmbar. Weder die Sowjetunion noch die in sie eingebettete Russische Republik waren jemals mononational gewesen, und der Zerfall der Sowjetunion hatte sich nicht nach ethnischen Grenzziehungen vollzogen. Die Künstler fühlten sich weder in ethnischer noch in kultureller Hinsicht (das Bildungswesen in der UdSSR orientierte sich an der Weltkultur) als hundertprozentige Russen – doch die Nachfrage des internationalen Kulturmarktes deckte sich paradoxerweise mit den Wünschen der russischen Staatsmacht, eine neue nationale Ideologie zu schaffen. So wurden die Stereotypen des Russischen wieder – erstmalig seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts – als Alternativen zum westlichen Rationalismus aktualisiert. Die traditionelle Vorstellung vom “echt Russischen” stellt die Logik unter Verbot und behauptet, dass man Russland nur von innen heraus verstehen könne, wenn man dort lebe; jeder Blick von außen sei falsch. Unter den ersten, die dieses Stereotyp des Russischen inszenierten, waren der Künstler Oleg Kulik und der Schriftsteller Wladimir Sorokin, in ihrem gemeinsamen Buchprojekt “In die Tiefe Russlands” (1997). Dort wechseln sich Sorokins Texte (avantgardistische Variationen über die russische Folklore und den russischen Roman) mit Kuliks Fotografien ab: Landschaften mit Blockhäusern, Gesichter von Bauern, gestellte Szenen von Sex mit Tieren. Auf der ersten Seite steckt Kulik den Kopf in die Scheide einer Kuh und inszeniert damit das groteske “Eintauchen in die Tiefe des russischen Unbewussten”. Diesem Buch folgte die Posse “Russische Fragen” von Wladislaw Mamyschew-Monroe (1997), eine Karikatur auf die russische Folklore und ihre versteckten bzw. offenen antisemitischen Konnotationen. Olga Tschernyschowa übernahm in ihrer Fotoserie “Warten auf ein Wunder” (2000) das von den Medien bevorzugte Stereotyp Russlands – Winter, Schnee, alte Frauen in Strickmützen –, radikalisierte es jedoch: Diese von hinten fotografierten, mehrfach vergrößerten Mützen verwandeln sich in rätselhafte sphärische Gebilde, in Planeten, von denen jeder eine für andere verschlossene Innenwelt beherbergt, die auf das Wunder der Entdeckung wartet. Die “unentdeckte Insel” Russland, die man von außen und innen in ein kulturelles und ethnisches Getto zu verwandeln sucht, birgt aber auch ein riesiges Gewaltpotenzial in sich. In der Demonstration dieses Gewaltpotenzials haben die Künstler Russlands eine Möglichkeit gefunden, die Nachfrage des internationalen Kunstmarkts an Russischem zu befriedigen. Ursprünglich spielte Kulik die Rolle des tollwütigen Hundes in seiner Aktion des Jahres 1994 in Moskau , doch schon bald verlegte er Performances dieser Art ins Ausland, wo er sich ganz bewusst als Vertreter des “wilden Russlands” präsentierte, das über die Ausgrenzung aus dem europäischen Staatenverbund verärgert ist (Performance im Künstlerhaus Bethanien, Berlin). In ihrem “Islamischen Projekt, AES Zeugen der Zukunft” (1996–2003) veränderte die Gruppe “AES” am Computer typische Ansichten von Paris, Berlin, New York und Moskau so, als wären die Städte von den Taliban erobert worden. Diese bewusst und provozierend doppeldeutige Arbeit löste zahlreiche Diskussionen aus und wurde in manchen Ländern sogar als islamfeindlich zensiert, aber es geht darin um etwas ganz anderes: Der Islam ist die einzige Religion, die offen ihre Ambitionen zum Ausdruck bringt, eine Alternative zur jüdisch-christlichen Zivilisation zu bilden. Doch waren dies stets auch die Ambitionen der russisch-orthodoxen Kirche gewesen, die in den 1990er Jahren eine gefährliche Liaison mit der neuen russischen Staatsmacht einging. Der neue russische Nationalismus wird hier zur Zielscheibe der Satire – aber auch die grundsätzliche Suche nach der ethnischen Identität, da sie aus der Sicht der Künstler eine große Gefahr darstellt. Nicht von ungefähr beziehen sich alle drei Künstler der Gruppe “AES” auf die starke intellektuelle und kulturelle sowjetisch-jüdische Tradition, Nationalität als eine Einengung zu empfinden. Für sie kam nur eine internationalistische, universalistische und kosmopolitische Identität in Betracht.

Utopie der Wirklichkeit Der überstürzte Aufbau eines Systems nationaler Identitäten in den 1990er Jahren war durch den Fall der Berliner Mauer ausgelöst worden. Nach dem Ende des Kalten Krieges schien die Welt ihre wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede eingebüßt zu haben – sie waren offenbar dekonstruiert worden, die Gegensätze hatten sich ekstatisch vereinigt. Um keine totalitäre Ganzheit zu schaffen, versuchte man nun kulturelle und nationale Unterschiede an ihre Stelle zu setzen. Das künstlerische Vorbild zeichnete sich in den 1990er Jahren durch einen ausgeprägten Idealismus aus: Alles, was gut war, wurde mit den Worten “lebendig und offen” bezeichnet; Begriffe wie “Nomadentum”, “Kommunikation” und “Möglichkeit” waren in Mode. Eine eindeutige Interpretation galt als Falle, die den lebendigen Sinn des Kunstwerks einengte. Der Schlüsselbegriff der Epoche war das “Beliebige” (Giorgio Agamben), in dem das Wort “Liebe” durchklingt – er bezeichnet eine positive Einstellung zur Welt anstelle einer totalen Kritik und negativen Sichtweise. Die Kunst erwies sich als absolut tolerant (genauer gesagt: gleichgültig) den verschiedenen Medien und Materialien gegenüber. Ebenso der Frage gegenüber, ob ein Werk original oder appropriativ ist – all das war nicht mehr relevant, so wie es einst keine Rolle mehr gespielt hatte, ob der Maler seine Farben selbst herstellte. Nicht nur die Unterteilung in die Gattungen Malerei, Skulptur und Grafik wurde aufgegeben, sondern sogar diejenige in Bild, Performance und Readymade. Die in den 1990er Jahren adäquate Klassifikation war die Unterscheidung in Darstellungen (jeglicher Art, besonders bewegliche), Räume (“totale Installationen” und sensualistische Attraktionen, die mithilfe von Licht, Geruch, Bewegung und Rauch erzeugt wurden) und Gesten (pseudosoziale Projekte wie die Massage der Besucher oder die Verteilung von exotischen Speisen). Das Jahrzehnt verging in Kunst und Design im Zeichen der Utopie des hier und jetzt; nicht dem Dokument wurde Vorrang eingeräumt, sondern der Praxis, Wahrnehmung oder Handlung. Die Kunst der 1990er Jahre hatte im Grunde einen jugendlichen Charakter (und behält ihn auch im neuen Jahrhundert bei), der stark mit der Nachtclubkultur zusammengewachsen ist. Die gesamte Kunst des 20. Jahrhunderts, bei der abstrakten Malerei angefangen, basierte auf der asketischen Reduktion der Wirklichkeit auf das Zeichen, den Text, das Schema. Die 1990er Jahre versuchten alles zu rehabilitieren, was dieser Reduktion zum Opfer gefallen war. Das sogenannte “Leben”, die “Wirklichkeit” und das “Begehren” zogen in die Kunst ein. Die russische Kunst der 1990er Jahre schloss sich diesem Trend mit ungeheurem Enthusiasmus an: Das Land mit seinen gewaltigen Wachstums-, Karriere- und Bereicherungsmöglichkeiten, aber auch mit der Gefahr, bei Schießereien der Mafia umzukommen (was zum Teil ein Mythos ist, den die Massenmedien im In- und Ausland pflegen), war markiert als Raum der Veränderungen, Chancen, intensiven Wünsche, als Ort der Teilnahme am Leben – im Gegensatz zur kritischen Reflexion, zur Ironie und Entschlüsselung von Codes. Anstelle der kommunistischen Utopie, die sich die künftige Gesellschaft als Paradies vorgestellt hatte, frei von finanziellen und anderen Entfremdungen zwischen Menschen und Gegenständen, trat die Utopie des Kapitalismus. Sie ist es, die nun von der russischen Gesellschaft (durchaus ernsthaft) und vom russischen Künstler (lachend) als Garten Eden aufgefasst wird. Der junge Petersburger Künstler Andrej Ustinow erschien in seiner Performance des Jahres 2002 nackt im örtlichen McDonald’s, begleitet von seiner ebenfalls unverhüllten Freundin; sie gingen zwischen den Tischen hindurch, bissen von fremden Hamburgern ab und reichten sie strahlend ihren Besitzern zurück, bis sie – wie vorhergesehen – hinausgejagt wurden. “Die Kunst ist eine Liebesaffäre mit der Wirklichkeit, die die Politik durch ein Surrogat zu ersetzen versucht”, schrieb der Moskauer Künstler Gia Rigwawa zu Beginn der 1990er Jahre. Seine eigene “Liebesaffäre mit der Wirklichkeit” (1993) präsentierte er in einem Videoprojekt, bei dem er auf dem Monitor die “ganze Wahrheit” sagt: “Glaubt ihnen nicht, sie lügen alle.” Oleg Kulik nannte die neue Richtung in der Kunst “Durchsichtigkeit”. Der Künstler betrachtete es nun als seine Aufgabe, alle Widersprüche und das ganze Chaos seiner Zeit auszudrücken. Sprache und Logik, Code und Text kapitulierten angesichts der unmittelbaren Realität. “Nach der Postmoderne kann man nur schreien” hieß ein Projekt von Anatolij Osmolowski (1992). Es bestand aus Fotografien von Künstlern, die der Autor aufgefordert hatte, so laut wie möglich zu schreien. Mitte der 1990er Jahre kam ich darauf, diese Bewegung als “terroristischen Naturalismus” zu bezeichnen. Alexander Brener fiel den Referenten in seinen provokativen Performances ins Wort. Auf einem Symposium in Graz wurde ich mit seinem höflichen, aber lauten und ununterbrochenen “Oh, really?” konfrontiert. Ich war nicht beleidigt: Wir alle hegen die Illusion, dass man uns zuhört, aber nur die Anwesenheit Breners – eine Art Stimme des Schicksals – demonstrierte uns, dass diese Illusion naiv ist. Die physische Realität (Oh, really!) war stärker als der Text, und Brener als Künstler aus dem russischen Kontext weniger idealistisch als manche seiner westlichen Kollegen: Er demonstrierte wirkungsvoll, dass die Wirklichkeit kein schöner Traum ist, sondern eine Quelle der Gefahr und Gewalt.

Der neue Markt Die Kunst der 1990er Jahre trat auf der ganzen Welt unter der Parole “Freiheit und Aufrichtigkeit” an, sodass es scheinen konnte, als sei sie weit entfernt vom Kapitalismus und seinen Einschränkungen. In Wirklichkeit aber handelte es sich um den Aufbau eines vollkommen neuen Marktes, auf dem nicht Kunstwerke (über Galerien) verkauft werden, sondern der Künstler selbst als Medienfigur – auf den großen internationalen Biennalen, wo er nicht mit einem Werk, sondern mit einem Projekt auftritt, das nicht einmal Merkmale eines Werks haben muss. Ein noch größerer Popstar ist freilich der Kurator dieser Ausstellungen, der sich nicht mehr als intellektueller Forscher, sondern als Promotor und Manipulator auf dem Markt geriert. Russland, in dem der Handel mit Sachwerten nur rudimentär vorhanden war, das aber eine immense Erfahrung mit der sowjetischen Propaganda hatte, die selbst nichts anderes als ein medialer Markt war, fügte sich in dieses System problemlos ein. In den 1990er Jahren entwickelte es vor allem auf der Informationsebene seinen eigenen Kontext (und begab sich damit in den weltweiten Kontext). Obwohl in Moskau, Petersburg, Nischnij Nowgorod, Jekaterinburg und Kaliningrad neue Institutionen entstanden – Galerien, staatliche und öffentliche Zentren und Institute für zeitgenössische Kunst –, blieben diese doch weitgehend im Schatten der neuen Megainstitutionen der Medien, also der Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender, die von Skandalen leben. Aus Kritikern wurden Journalisten. Als natürlichste Informationsquelle für einen Skandalbericht erwies sich die Performance; eine Ausstellung oder ein Projekt hatte nun den Charakter eines Events. Auch die Malerei wurde als Performance und Projekt verstanden, was die meterlangen Gemälde von Wladimir Dubosarski und Alexander Winogradow belegen, die für Ausstellungen und Kunstmessen in verschiedenen Ländern gemalt wurden und berühmte historische Persönlichkeiten des jeweiligen Landes darstellen. Die Bilder sind so aufgebaut, dass man einzelne Stücke von ihnen abschneiden (und kaufen) kann. Zum wichtigsten Medienhelden ist der nackte Künstler geworden. Er muss nicht unbedingt physisch nackt sein, obwohl alles mit diesen skandalösen Gesten begonnen hatte, aber ein Mensch ohne Institutionen, ungeschützt durch reflexive Praktiken der Universitäten, marktwirtschaftliche Praktiken der Galerien oder politische Praktiken, die seine sozialen Strukturen repräsentieren. Die Performances der 1990er Jahre spielten sich im Blitzlichtgewitter der Fotoapparate ab und wurden begleitet vom Surren der Videokameras. Die Welle der selbstzerstörerischen Performances, die zu Beginn der 1990er Jahre einsetzte (Kulik, Brener, Osmolowski), wird heute von der in Berlin und Moskau lebenden Künstlerin Jelena Kowylina fortgesetzt. Sie zog in einer ihrer Performances eine Militäruniform mit Orden an, um sich im Siegestaumel besinnungslos zu betrinken. Die Gruppe “Die Blauen Nasen” (Wjatscheslaw Misin, Konstantin Skotnikow und Alexander Schaburow) aus Jekaterinburg und Nowosibirsk hingegen hat die Illusion der Performance als heroische Geste aufgegeben (Kowylina spielt quasi noch in einem “ernsthaften Film” die Rolle der tragischen Heldin) und parodiert in ihren Filmen fröhlich die dümmsten Werbespots und Fernsehserien. Dieser Markt, auf dem materielle Werke sekundär, die Künstler primär und die Institutionen dazu da sind, Projekte zu sponsern, faktisch aber die Hobbys der Künstler vorführen (die zum Beispiel Suppe für die Besucher kochen oder ein beinahe echtes, aber dennoch “spielzeughaftes”, kommerzielles Produkt anbieten), dieser Markt war den Künstlern aus der ehemaligen Sowjetunion wohlvertraut. Die Rolle des großzügigen Sponsors spielte damals (wenn auch mit begrenzten Mitteln) für alle Bürger des Landes der Staat. Ein Mitglied der “Blauen Nasen”, Alexander Schaburow, erbat Mitte der 1990er Jahre von dem damals in Russland noch aktiven Soros-Fonds Geld für die Verwirklichung eines neuen Kunstprojekts. Das Projekt sah die Implantation neuer Zähne ins Gebiss des Künstlers vor. Der zeigte dann in Ausstellungen ein Foto dieser erfolgreich eingesetzten Zähne, die in einem breiten ironischen Lächeln entblößt waren.

Die Euphorie der Gemeinschaft Die internationale Kunst der 1990er und frühen 2000er Jahre wird als Kunst des “euphorischen Kollektivismus” in die Geschichte eingehen: Mit Gruppenprojekten, in denen die Künstler vor allem zum Ausdruck bringen, wie viel ihnen der Umgang miteinander gegeben und wie sich ihre Persönlichkeit dadurch entwickelt hat, die aber dem Publikum kein Ergebnis vorstellen; Projekte, in denen sie sogar auf Namensschilder verzichten, damit das Gezeigte als kollektives Werk erscheint (zum Beispiel das Projekt “Utopia Station” auf der Biennale 2003 in Venedig) – sie prägen das Antlitz des Jahrzehnts. Der Betrachter soll die Freude der Autoren teilen – in interaktiven Installationen oder in Projekten, bei denen auf etlichen Monitoren die Dokumentation des monatelangen Kontakts aller am Projekt Beteiligten zu sehen ist. Zum Wort des Jahrzehnts wurde der Begriff “Kommunikation” (ob sich hier die Entwicklung des Handymarktes auswirkte?), der in der Kunst als Garant für den authentischen Umgang miteinander hoch im Kurs steht. Der Kontrast zwischen dem leeren Schema und der überraschenden Lyrik wirkte auch als Federkraft für das Projekt “Bewohner” der Gruppe “Radek” (2002). Darin tauschen die Autoren im Ambiente einer Durchschnittswohnung durchschnittliche unnatürliche Sätze aus einem Lehrbuch der russischen Sprache für Ausländer aus: “Iwan, möchtest du Fleisch und Würstchen? Komm rein, wir essen gleich Fleisch und Würstchen!”. Sie sprechen sie jedoch mit überzeugender, übergroßer Aufrichtigkeit und herzlichem Wohlwollen aus. Das Duo “Fabrik Gefundener Kleidung”, zu dem sich zwei Petersburger Künstlerinnen unter den Pseudonymen Gljuklja und Zaplja zusammengeschlossen haben, thematisiert in seinen Performances das Thema der Beziehung und der Gefühle zwischen zwei beliebigen Egos – es kann die Freundschaft zwischen den Künstlerinnen sein, die Liebe zwischen geschichtlichen Persönlichkeiten (etwa die zwischen Adolf Hitler und Eva Braun), das innere Band zwischen Vätern und Töchtern. Nikolaj Polisski gibt der Kollektivität ihren ursprünglich bäuerlichen, antiindividualistischen Sinn zurück, wenn er ein ganzes Dorf dazu bringt (kostenlos, aus Freundschaft und Hilfsbereitschaft), seine fantastischen Konstruktionen aus Weidenruten zu bauen – mal einen primitiven Fernsehturm, mal eine Hybride aus einer russisch-orthodoxen Kirche und einem Zelt für Gemeinschaftsmahle. Dieser Idealismus des Menschlichen beschreibt einen Pol der Kunst der 1990er Jahre, den anderen besetzt der Skeptizismus in Bezug auf die Nähe. Igor Muchins Fotografie – Moskauer Schulabgänger bei ihrem gemeinsamen Fest – stellt die jungen Menschen als ekstatische Menge dar, die (aus irgendeinem Grund) gebannt in den Himmel starrt. In der Kunst der 1990er Jahre lässt sich nur schwer ein entlarvenderes Bild für die Freude am “endlosen Begehren” finden. Eine Performance der Gruppe “SAiBI”, “Für Anonyme und Kostenlose Kunst – FAuKK” (2000), begann mit der fröhlichen Einladung zu einem Beisammensein: Die Künstler luden Freunde zu einer Aktion im kalten Winterwald ein, wo sie in einem winzigen, geheizten Raum sehr laute Musik machten. Trotz der Enge und der fürchterlichen Kakofonie, bei der man sein eigenes Wort nicht verstand, mussten sich ihnen die Gäste anschließen, um die “Freude am Umgang miteinander” zu teilen. Bei diesem Projekt begriffen sowohl die Künstler als auch ihre Betrachter (die ihre reine Betrachterrolle jedoch nicht aufrechterhalten konnten), dass kollektive Projekte ihrem Wesen nach totalitär sind. Den Willen zur Totalität bezeugt jede für die Kunst der 1990er Jahre typische Arbeit auf der ganzen Welt, sei es eine Installation, ein Videofilm oder ein quasisoziales Projekt. Sie will die ganze Zeit und/oder den ganzen Raum des Betrachters sowie seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Dabei macht sie aus ihrer Ausrüstung mit den Methoden der Massenkultur und -kommunikation, vor allem der Benjaminschen “Zerstreutheit”, keinen Hehl. Aber aufgrund der traditionellen Vorurteile zählt sich die zeitgenössische Kunst problemlos zur Hochkultur, die lediglich am individuellen Konsum orientiert ist. In Wirklichkeit sieht sie ihren Betrachter (zumindest in ihrer “Jugendversion” der 1990er Jahre) als Masse, findet ihre Verbreitung vor allem durch Medien- (also Massen-)distribution und berücksichtigt dies in ihrer Ästhetik. Der neue Kunstmarkt, auf dem weniger das Werk, als vielmehr sein Autor die Ware ist, erzeugt in der Struktur und Rolle des Kunstwerks eine Ähnlichkeit mit der Werbung: Alles, was in diesem System keine Ware ist, kann nur Werbung sein. All das wirft erneut und sehr dringlich die Frage auf, ob die zeitgenössische Kunst ihre Kritikfähigkeit behalten hat oder schon längst affirmativ geworden ist, ob der Künstler die Distanz wahrt oder sich in der Konsumgesellschaft auflöst. Eine scharfsinnige Antwort auf diese Frage haben die Künstler der Gruppe “Radek” in ihrer Performance “Demonstration” (2000) gegeben. Sie standen an einem belebten Fußgängerübergang in der Menge; als die Ampel auf Grün schaltete, gingen sie zusammen mit der Menge los, entfalteten dabei Transparente und verwandelten damit die Alltagshandlung – gegen den Willen der zufälligen Passanten – in eine politische Kundgebung. Diese Performance stellt vor allem die modernistische Position des Künstlers als “Flaneur” in Frage, diejenige des distanzierten Analytikers, Kommentators und Kritikers der Wirklichkeit. Wie der geistige Vater der Gruppe “Radek”, Anatolij Osmolowski, in den 1990er Jahren schrieb, darf “die Prozedur des Verstehens nicht die Form der Metaposition des ‚uninteressierten‘ und ‚unparteiischen‘ Analytikers annehmen. Der Analytiker erlangt echtes Verständnis, wenn er sich als Teil des aktuellen Prozesses erkennt […]”. Man kann diese Erklärung als Apologie der unmittelbaren Aktion und des linken sozialen Aktivismus auffassen, zu dem die russische Kunst zu Beginn der 2000er Jahre tendiert. (Jelena Kowylina bezieht in ihre Performances obdachlose Kinder ein, die Gruppe “Radek” veranstaltet Ausstellungen in einem Einkaufszentrum, Dmitrij Wilenski gibt eine Zeitung heraus – das Manifest des politischen, sozialen und ästhetischen Programms der neuen Generation.) Doch auch dieser soziale Aktivismus wird sofort der ironischen Kritik unterzogen: Die Aktivisten ziehen die Menge nicht hinter sich her, sondern gehen in ihr auf, wobei sie sich den sozialen Regeln des Fußgängerübergangs unterordnen. Die Performance der “Radek”-Künstler dekonstruiert die Begriffe “Avantgarde” und “Mainstream”; ihre “Demonstration” entlarvt die ganze Naivität des Anspruchs auf Avantgardismus in unseren Tagen und die klare Erkenntnis der sowjetischen Avantgardisten: Um einen sozialen Akt zu vollbringen, muss sich der Künstler von der “heiligen Kuh” der Moderne trennen, von der Position des “Kritikers an was auch immer”. Ist das nicht eine Rückkehr auf die Position des Neorussischen, Unreflektierten, Unbewussten? Nein, eher das Gegenteil: Befreit vom Druck der Ausstellungskuratoren aus Russland und anderen Ländern, die die Künstler in die Rolle der vornehmlich russischen Künstler zu drängen versuchen, werden sie sich ihrer postkommunistischen Identität bewusst, die sozialpolitisch und wirtschaftlich fundiert ist, nicht aber ethnisch. Damit integrieren sie diese Erfahrung in die geistige, intellektuelle und künstlerische Tradition Europas. Der euphorische Rausch im Strudel der Ereignisse, den die Zerstörung der Berliner Mauer verursacht hatte, wird von dem Wagnis abgelöst, bewusst an der eigenen Zeit teilzuhaben. Das allein kann helfen, sich auf den Beinen zu halten.

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HA KYPOPT! Russische Kunst heute
Kuratoren: Nicole Fritz, Georgij Nikitsch, Nina und Torsten Römer, Matthias Winzen

Künstler:
Viktor Alimpijew, Tatjana Antoschina, Wladimir Archipow, Jelena Berg, The Blue Noses Group , Sergej Bugajew Afrika, Genia Chef, Escape Group , Olga & Alexander Florenski, Archi Galentz, Aleksandra Koneva, Irina Korina, Valery Koshlyakov, Alexej Kostroma, Oleg Kulik, Marina Ljubaskina, Vladislav Mamyshev-Monroe, Boris Mikhailov, Wikentij Nilin, Nikolaj Owtschinnikow, Georgij Perwow, Nikolaj Polisski, Vitaly Pushnitsky, Radek Community , Sergej Schutow, Anatolij Shurawljow, Wasilij Slonow, Dmitrij Zwetkow, Natalia Turnowa, Where dogs run ,
Elena Kovylina, La Rose Sauvage , Marina G. M. Ljubaskina-S., Natalia Mali / Andrei Prigov, Leonid Sokhranski, Nina & Torsten Römer

nächste Station:
Internationales Zentrum der KünstlerIniativen Neue Manege, Moskau