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von heute bis gestern Gemeinhin wird Giulio Paolini einer der einflußreichsten und erfolgreichsten europäischen Künstlerbewegungen nach 1945, der Arte Povera, zugeordnet, weil er (neben P. Pascali, J. Kounellis, A. Boetti, L. Fabro, E. Prini) einer der sechs Künstler war, die Germano Celant 1967 unter diesem Titel erstmals ausstellte. Das Buch zu dieser Ausstellung versucht, ein differenzierteres und präziseres Bild des Künstlers Paolini jenseits der kunsthistorischen Klammer zu entwerfen, und durch eine Auswahl signifikanter Arbeiten des Künstlers und Essays bekannter AutorInnen die Kernzonen der von Paolini in 35jähriger Arbeit entwickelten multimedialen und mehrdimensionalen Ästhetik aufzuzeigen. Zu den von Paolini eröffneten Problemfeldern gehören seit 1960 der Ausstieg aus dem Bild, die Dialektik des Blickes, die Position des Beobachters, die Kunst als Sprachspiel. Paolini geht über die Probleme von Form und Gestalt hinaus. Die mentalen und visuellen Mechanismen, die kulturellen geschichtlichen Codes, die Form und Gestalt konditionieren, sind sein Thema. Im Netz der visuellen Codes hat Paolini das Verborgene sichtbar gemacht; die Geschichte und Kultur der visuellen Codes hat er dekonstruiert; Sichtbarmachen ist sein ästhetisches Programm. Es geht ihm also nicht so sehr um die armen Materialien, sondern um konzeptuelle Entmaterialisierung.

Das komplexe Feld von Bild, Blick, Beobachter, Raum hat er neu kartographiert. Paolini hat dadurch die Erfahrung des Sehens von Kunst selbst zur Kunst gemacht, das Sehen der Bilder und das Erleben einer Ausstellung selbst ausgestellt. Der Künstler wird zum Betrachter, der dem Betrachter seine Empfindungen als Betrachter vermittelt. Wiederholung, Rückkehr sind also in Paolinis Werk nicht nur Momente der Kulturgeschichte, sondern auch werkimmanente Strategien, innere Referenzen und Schleifen des visuellen Apparates, des Sehvorganges. Diese Decodierungen der ästhetischen Akte gehören bis heute zum zentralen Corpus der europäischen Konzeptkunst. Paolini ist ein "Ausstellungskünstler" (O. Bätschmann), jener neue Künstlertypus, der die Ausstellungsmechanismen (z.B. deren visuelle Codes) selbst zum Thema einer Ausstellung macht. Für diese Ausstellung hat Paolini ein eigenes Ausstellungskonzept entwickelt, das weder Retrospektive noch Anthologie ist, sondern ein Ausstellen bzw. Sichtbarmachen seiner künstlerischen Kernkodifikate. Diese Ausstellung und das Buch zeigen also einen Paolini von außerordentlicher Gegenwärtigkeit. (Peter Weibel)

Zum Ausstellungsprojekt (aus einem Text von Paolini) Im Laufe der Zeit hat sich die Idee zu dieser Ausstellung, anstatt sich auszubauen und im weiteren Verlauf verschiedene neue Entwicklungen anzunehmen, immer mehr zurückgezogen. Sie hat sich reduziert und konzentriert und das natürliche Wachstum einer chronologischen und linearen Abfolge verlassen, um die Aufmerksamkeit auf ein Zentrum, einen expandierenden Punkt hin zu lenken. Die Ausstellung erscheint somit wesentlich in zwei komplementäre Bereiche aufgeteilt zu sein: in einen zentralen, der immer gleich an all jenen Orten sein wird, an denen die Ausstellung gezeigt wird, in den "Ort" des Werkes, wo also jedes Werk sich mit den anderen vermischt, um gemeinsam die Entstehung eines mehrteiligen Kerns zu bewirken 1) Ein labyrinthischer und in ganz besonderem Ausmaß zentraler Ort, ohne den der seitliche oder radiale "Raum" keine Berechtigung hätte, sich in der Umgebung anzuordnen. Dieser zweite Bereich, der an allen Ausstellungsorten verschieden sein wird, setzt sich aus einem oder mehreren neueren oder unveröffentlichten Werken zusammen, eben jenen, die ich heute in einer Personale ausstellen würde. Seit einiger Zeit wiederhole ich es mit aller Sturheit: der Ort der Darstellung ist der Raum, den man zu ihrer Verkündigung benötigt.

1) Im zentralen Bereich sind die Werke in einem engen Kontakt zueinander, Rücken an Rücken, im Halbschatten angeordnet: eine besondere Vorrichtung bewirkt das Einschalten eines Scheinwerfers, der die verschiedenen Teile des Ganzen eines nach dem anderen in chronologischer Reihenfolge beleuchtet. Dazu kommt ein elektronisches Blitzgerät, das in regelmäßigen Zeitabständen einen blendenden Blitz auf die ganze Szene wirft, der viel zu intensiv und kurz ist, um eine umfassende und vollständige Betrachtung zu ermöglichen.

Giulio Paolini geb. 1940 in Genova, lebt in Torino Bis 1960 Ausbildung als Bühnenbildner und Grafiker, danach Beschäftigung mit Malerei und Collagen zur Analyse der künstlerischen Mittel sowie Untersuchungen zu linguistischen Systemen. Von 1960 stammt die erste dokumentierte Arbeit "Geometric Design". Seit 1965 thematisiert Paolini Kunst und Kunstgeschichte in ihren Aussagemöglichkeiten. 1964 fand seine erste Einzelausstellung in der Galleria La Salita in Rom statt; seither war er in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen in Italien und anderen Ländern vertreten. Er war 1967 Teilnehmer an der ersten Ausstellung der "Arte Povera" in der Galleria La Bertesca in Genova und nahm u.a. an mehreren Documenta-Ausstellungen in Kassel teil und an der Biennale di Venezia 1970 und 1997. Paolini konzentriert sich auf das Phänomen des Sehens, dabei berührt er Themen wie Raum und Zeit, Perspektive oder die kulturelle Konditionierung von Autor und Betrachter. 1970 begann er, sich mit Fotografie zu beschäftigen. Seit 1972 entstanden aufeinander bezogene Werkgruppen mit dem Titel "Idem". Im Laufe der 70er Jahre befaßte er sich mit klassisch-mythologischer Symbolik, durch Fotografie und klassische Skulpturen in Gips, da sie die Bedeutung von Kunst, Originalität und Reproduktion in Frage stellen. Seit Beginn der 80er Jahre sind seine konzeptuellen Installationen körperlicher und vielschichtiger, durch die Einbindung architektonischer Elemente, künstlicher Lichtquellen und von Video. Seine philosophischen und kritischen Essays, die seit 1975 in diversen Magazinen veröffentlicht wurden, erschienen zum Teil auch als eigene Publikationen, z.B. "Idem" (1975), mit einer Einführung von Italo Calvino, "Contemplator Enim", "L'arte e lo spazio" (1983) und "Lezioni di pittura", 1996 publizierte er "La verità" (Einaudi).

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Giulio Paolini
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