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„Sehen ist immer mehr, es ist immer soviel wie affektive, leibliche Betroffenheit. Nirgends ist dies augenfälliger als in der Architektur“, sagt der Architekturtheoretiker Jörg Gleiter. Denn, so Gleiter weiter: „Leiblich wechselweise bei etwas und gleichzeitig bei sich selbst zu sein, das ist Architekturerfahrung.“

Nun beherbergen die wenigsten Architekturen eine ‚innere Leere’. Erst recht nicht, wenn es sich um Kulturhäuser handelt, in denen Konzerte gegeben werden, Opern, Tanz und Schauspiel zur Aufführung gelangen oder Kunst gezeigt wird. In den fünf nordischen Ländern – Dänemark mit Grönland, Finnland, Island, Norwegen und Schweden – sind oder entstehen gerade solch bedeutsame Kulturhäuser. Zwei Häuser, das neue Königliche Schauspielhaus in Kopenhagen und die Nationaloper & Ballett in Oslo wurden bereits im Jahr 2008 eröffnet, in Reykjavíks Konzerthalle und Konferenzzentrum „Harpa“ sowie im Musikzentrum Helsinki stehen die Haupt-Einweihungen im August diesen Jahres bevor, die Stadt Malmö eröffnet ihr Konzert-, Kongress- und Hotelcenter voraussichtlich im Jahr 2013/14 und in Nuuk wurde im Februar der Sieger der Aus-schreibung für eine Nationalgalerie Grönlands bekanntgegeben.

Die hier erstmalig gemeinsam präsentierten neuen nordischen multifunktionalen Konzert-, Schauspiel- und Opernhäuser sowie die geplante Nationalgalerie in Nuuk, verbindet die Berücksichtigung des von bestimmten Volumen, Farben, Stilen und Bewohnern geprägten Umfelds. Mithin das Kriterium des Ortsbezuges scheint in seiner Flexibilität, seinen Möglichkeiten und auch seiner Modernität als übergreifendes Entwurfsmotiv bei Politikern, Architekten und Bauherrn, auf Interesse gestoßen zu sein. So ist die von Henning Larsen Architekts und dem Künstler Olafur Eliasson gewählte Formensprache des Gebäudes der Konzerthalle Harpa in Reykjavik von den Elementen der isländischen Natur inspiriert. Die Fassade aus Glas und Stahl spiegelt die Bewegungen des Himmels und des Meeres und reflektiert das Licht in kaleidoskopartigen, auf einer fünfachsigen Symmetrie aufbauenden Strukturen, die von Einar Thorsteinn im Studio Eliasson entwickelt wurden. Für das neue Königliche Schauspielhaus in Kopenhagen entwickelten dagegen die Architekten von Lundgaard&Tranberg einen speziellen Ziegelstein, der die Bauweise und Optik der historischen Gebäude im Umfeld des Neubaus reflektiert. Diese neuen Kulturhäuser setzen Signale im urbanen Raum und Maßstäbe für das städtische Bauen. Sie wollen Spiegelbild einer innovativen aufgeschlossenen Identität einer Stadt und darüber hinaus eines Landes sein. So wünschte sich die Regierung von Norwegen für die Nationaloper und das Ballett von Snøhetta Architects in Oslo vor allem, dass das neue Bauwerk über nationale Grenzen hinaus Aufmerksamkeit erregt – zu einem Wahrzeichen avanciert, das Norwegen als Kulturnation markiert und daraus folgend die soziale und kulturelle Wichtigkeit der Norwegischen Oper und des Balletts hervorhebt. Nicht ein elitärer Ort für eine Minderheit sollte entstehen, sondern eine Plattform der Begegnung von Gemeinschaft, Kunst und Kultur. Nicht weniger ambitioniert lesen sich die Vorstellungen und Zielsetzungen für die Grönländische Nationalgalerie für Kunst der Bjarke Ingels Group in Nuuk: (...) als Treffpunkt einer grönländischen Bevölkerung, soll das Museum dienen, es soll als Bauwerk und Einrichtung einfache Menschen sowie Gebildete, Jäger wie Akademiker gleichermaßen ansprechen – es soll ein Ort werden, wo Grönländer und Gäste aller Schichten und Nationalitäten sich willkommen fühlen werden“, so die Planer. Während die Architekten des neuen Musikzentrums in Helsinki, LPR Architrects Oy, sich Transparenz auf die Fahnen geschrieben hatten – so gewährt der gläserne Teil des Musikzentrums Einblick in die Funktionen des Hauses und schafft zugleich eine Verbindung zur neuen Architektur der benachbarten Gebäude – eröffnen schmidt hammer lassen architects mit ihrem Konzert-, Kongress- und Hotel Center in Malmö neuen öffentlichen Raum sowie eine Verbindung zwischen der Altstadt von Malmö und neuen Erweiterungsflächen. Jedoch: Die Inszenierung des Stadtraums mit spektakulären Architekturen, mit Kunst- und Kultur darf nicht zu einer Politik der Ausgrenzung führen. Tom Cannon, Professor für Strategische Entwicklung an der Universität von Liverpool, warnte erst kürzlich davor, dass Städte zunehmend zu Opfern ihrer eigenen Attraktivität werden. Denn die Inszenierung des städtischen Raums zur Ankurbelung des Tourismus und für die Wohnbedürfnisse einer neuen urbanen Bohème bezahlen die an den Rand der Gesellschaft Gedrängten mit einer Verschlechterung ihrer Wohn- und Lebenssituation. Nun ist die Situation in den Städten der hier vorgestellten Kulturhäuser nicht vergleichbar mit etwa der baskischen Provinzhauptstadt Bilbao, die einst verrufen durch Eta-Terrorismus, siechender Industrie und hohen Arbeitslosenzahlen mit einem spektakulären Museumsneubau für eine Dependance des New Yorker Guggenheim-Museums zum neuen Mekka des internationalen Kunsttourismus avancierte; was zu Attraktivität und Wohlstand für einige und einer Abwanderung derer, die sich die Mieten nicht mehr leisten konnten, führte. Bei den hier vorgestellten Standorten geht es nicht um die Aufwertung maroder Standorte durch Kultur. Ob aber diese neuen nordischen Kulturhäuser sich in der Tat als Flagships of Culture erweisen, darf und muss als Frage im Raum stehen und wird sicher immer wieder neu verhandelt werden müssen: mit denen, die im Umfeld, in den jeweiligen Stadträumen dieser Kulturhäuser leben, mit denen, die im Verteilungskampf von finanziellen Mitteln aus den Kulturetats vielleicht außen vor bleiben und nicht zuletzt mit denen, die ihre Architektur-, Kunst- und Kulturerfahrung aus einem Wechselweisen-leiblichen-bei-sich-selbst und bei einem Visuellen- und Hörbarem-sein ziehen.