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Die Ausstellung "Meisterwerke muhammedanischer Kunst" von 1910

Vor hundert Jahren fand in München eine Ausstellung statt, die als "die Kulturtat Münchens im Jahre 1910 schlechthin" galt. Die Organisatoren dieser Ausstellung traten mit dem Anspruch an, das gesamte Spektrum visueller Kultur der islamischen Welt zu würdigen. Mit etwa 3.600 Exponaten war die Schau im Ausstellungspark auf der Münchner Theresienhöhe mehr als reich bestückt.

Aus dem Titel "Meisterwerke muhammedanischer Kunst" sprach zwar der eurozentrische Blick von damals, doch bildete sich bei den Ausstellungsmachern gleichzeitig schon ein Bewusstsein für künstlerische Avantgarde heraus: Ihre Bilderwelt war nicht die akademische orientalistische Malerei, sondern die der Impressionisten, Postimpressionisten, Fauves und, nur wenig später, der Kubisten. So war es logisch, dass sich die Ausstellungsmacher von der damals üblichen, salonartigen Darstellungsweise der Exponate distanzierten. Durch eine bahnbrechend puristische Präsentation ergaben sich neue kunsthistorische Bezüge in erster Linie über eine Konzeption der Form. Die Präsentation zelebrierte die ausgestellten Gegenstände auch erstmalig als Meisterwerke, deren Herkunft und Chronologie man für den Katalog systematisch erfasste.

Insgesamt gelang es der Ausstellung von 1910, neue Maßstäbe für Rezeption und Erforschung islamischer Kunst im Westen zu setzen: Der dreibändige Katalog dient bis heute als Nachschlagewerk; zwei Besucher unter den vielen hunderttausend, nämlich Wassily Kandinsky und Franz Marc, waren von der islamischen Abstraktion nachweislich beeindruckt und nahmen sie als Richtwert.

Dreißig "müde" Objekte

Zum 100. Jahrestag dieser Ausstellung, und zum 200-jährigen Jubiläum des Oktoberfests, knüpft das Haus der Kunst an die Bestandsaufnahme von damals an. Ein Prolog versetzt den Besucher zunächst in den Sommer des Jahres 1910: Im ersten Raum ist die Ausstellung von damals durch ein Modell des Ausstellungsparks, Briefe von berühmten Besuchern, eine nach einem Exponat entstandene Skizze von Kandinsky, Kataloge, Installationsaufnahmen und Werbemittel (von der Postkarte bis zum Bierkrug) gegenwärtig.

Im zentralen Ausstellungssaal, der sich daran anschließt, werden von den damaligen Leihgaben etwa 30 Exponate erneut gezeigt: Teppiche, Vasen, Gebrauchsgegenstände wie Schalen, ein elfenbeinfarbenes Schreibgefäß, eine illuminierte Handschrift, eine Streitaxt, ein Bronzepferd und andere historische Objekte aus namhaften Sammlungen. Weil sie ihren hohen kunstgeschichtlichen Rang bis heute behauptet haben, sind sie in den vergangenen hundert Jahren entsprechend viel gereist, abgebildet und ausgestellt worden. Sie sind dadurch - wie die Kuratoren es einmal formuliert haben - "müde" geworden, und der Betrachter hält ihre Anwesenheit fast für selbstverständlich. Mit der erneuten Präsentation im Haus der Kunst ist daher der Wunsch nach einer Wiederbelebung dieser Ikonen verbunden. Der Architekt Samir el Kordy (geb. 1974 in Kairo) hat für diese Objekte nun mit von der Decke abgehängten, blickdurchlässigen Stoffbahnen eine textile Architektur geschaffen. In islamisch geprägten Ländern haben Stoffbahnen nicht nur ästhetische, sondern auch soziale und religiöse Konnotationen; sie bilden zeltähnliche Räume zum Wohnen, für Hochzeiten und Trauerfeiern, politische Versammlungen und andere Anlässe. Die Stoffbahnen, die Samir el Kordy für das Haus der Kunst entworfen hat, ergeben eine Anzahl von Einfassungen, von denen jede ein oder mehrere Objekte in sich aufnimmt. Zwischen diesen auf der Grundform von Dreiecken gebildeten Räumen verläuft ein Wegenetz. Wie im Jahr 1910 entfalten die einzelnen Exponate durch die Art der Präsentation neue Wirkung.

Exemplarisch sei von den 30 historischen Objekten die Innsbrucker Schale aus dem 12. Jh. hervorgehoben, deren Herkunft für die Forschung ein Rätsel ist. Auf der Schauseite dieser Schale ist die Himmelfahrt Alexanders des Großen dargestellt. Was auf den ersten Blick bescheiden anmutet, ist doch technisch und kompositorisch von so besonderer Qualität, dass die Schale nur als Produkt einer hoch entwickelten Werkstattproduktion gelten kann: kleinteilig bunter Zellenschmelz, mit ursprünglich vergoldeten Kupferstegen emailliert. In den damaligen Zentren islamischer Emailtechnik wurden allerdings keine vergleichbar komplexen und großformatigen Arbeiten in Zellenschmelztechnik auf Kupfer gefertigt. Ein persisches Schriftband auf der Außenseite ist nicht vollständig entziffert. Zudem sind beide Inschriften - auch die arabische auf der Innenseite - in Kalligrafie und Rechtschreibung nachlässig ausgeführt. All diese Auffälligkeiten weisen darauf hin, dass die Schale nicht zwingend ein Werk aus der Hand islamischer Künstler ist. Ihre nicht geklärte geografische Herkunft und die hohe Qualität ihrer Fertigung macht sie zu einem Solitär - zu einem einzigartigen Beispiel für mittelalterliche Emailkunst.

Moderne und Zeitgenossenschaft

Die historischen Objekte im zentralen Ausstellungssaal sind von Werken des 20. und frühen 21. Jahrhunderts umgeben, die Elemente der islamischen Kunsttradition wie Ornament und Kalligrafie bewahren: Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen und Schmuck von Saloua Raouda Choucair (geb. 1916 in Libanon), Monir Sharoudy Farmanfarmaian (geb. 1924 in Iran), Choreh Feyzdjou (1955-1996, Iran/Frankreich), Nassar Mansour (geb. 1967 in Jordanien), Mahmoud Said (1897-1964, Ägypten) und Ibrahim El Salahi (geb. 1930 in Sudan). Die Werkproben dieser Künstler stehen beispielhaft für unterschiedliche Entwürfe einer Moderne, die einzelne Elemente der westlichen Avantgarde integriert, ohne sie absolut zu setzen.

Die Installation "The Invisible Masters" von Rachid Koraïchi (geb. 1947 in Algerien) vollendet die Komposition des Hauptsaals. Koraïchi ist Mitglied eines Ordens islamischer Mystiker (Sufis) und hat in 99 elfenbeinfarbene Stoffbanner arabische Buchstaben, Symbole und Ornamente eingearbeitet. Sie beziehen sich auf Aussprüche berühmter Sufis wie z.B. "Ich bin Gott, die Wahrheit" von al-Halladsch. Dieser Sufi hatte die Auslöschung des eigenen Selbst erreicht und war mit dem eins geworden, den er liebte: Gott. Seine Zeitgenossen empfanden seinen ekstatischen Ausruf aber als Lästerung und richteten al-Halladsch grausam hin. Die 99 Banner sollen in ihrer Gesamtheit beschützend wirken wie ein Talisman.

Der äußere Ring aus zehn Kabinetten bietet jüngeren zeitgenössischen Künstlern, Kuratoren und Institutionen ein Forum. Ein Trakt ist urbanistischen Themen gewidmet: Samir el Kordy beschäftigt sich mit den laufenden Planungen für ein "New Cairo" und ein "New Damascus"; der Palästinenser Wafa el Hourani präsentiert ein traurig-heiteres Zukunftsmodell des Flüchtlingslagers Qalandia; Stagnation, Abschottung von der Festung Europa, Raubbau an der Natur und Wachstum um jeden Preis sind in den Arbeiten von Yto Barrada aus Marokko spürbar; Reem al Ghaith macht die rasanten Veränderungen in der Golfregion erfahrbar; und der türkische Künstler Emre Hüner mischt in seinem Animationsfilm "Panoptikon" Elemente aus Paradiesgarten, mittelalterlicher Hafenanlage, Werkstatt, Labor und Gefängnis.

In einem anderen Trakt sind Typografie, Design, Mode, Malerei und Buchproduktion zusammengeführt. Dort präsentiert die Grafikdesignerin Huda Smitshuijzen AbiFares fünf Designerinnen, die arabische Buchstaben in industrielles Design umgesetzt haben; Tala Madani (geb. 1981 in Iran) führt in ihren Gemälden und Animationen den Mann als 'Krone der Schöpfung' in Situationen vor, die ihn der Lächerlichkeit preisgeben; Nadine Touma hat in Beirut den Verlag Dar Onboz gegründet, der auf Kinderliteratur spezialisiert ist, und richtet im Haus der Kunst einen Raum für Kinder ein.

Film als Leitmedium

Im Ausstellungspark auf der Theresienhöhe im Jahr 1910 war der 'Kinematograph' noch eine Sensation, vor deren Gesundheitsrisiken gewarnt wurde. Hundert Jahre später ist gerade der Wechsel von statischen und fließenden Eindrücken die Signatur der Ausstellung, und der künstlerische Film erhält viel Raum.

Doa Aly führt in "The Girl Splendid in Walking" Tanz, Musik und Dichtung zusammen; in "Couscous Aftermaths (3000 years old movements)" zeigt Kader Attia als Sinnbild der Vergeblichkeit eine Frau, die scheinbar endlos Glasscherben in einer Schüssel wendet, als wäre es Couscous; Mounira al Solh erzeugt surreale Situationen, indem sie arabische Redewendungen und Sprichwörter in bewegte Bilder umsetzt.

Drei Langfilme ergänzen die Auswahl: das Liebesdrama "Shirin" des bekannten iranischen Filmemachers Abbas Kiarostami, die Parodie auf ägyptischen Inlandtourismus "Domestic Tourism II" von Maha Maamoun, und die Erfolgsgeschichte einer Bier brauenden Familie in Palästina, die ihre eigene Miniversion vom Münchner Oktoberfest feiert: der Dokumentarfilm "Taste the Revolution" von Buthina Canaan Khoury.

Literarische Vorlage für "Shirin" (2008, 91 min) ist das Epos "Chosrou und Shirin" von Nizami aus dem 12. Jh. Dieses Liebespaar ist in der persischsprachigen Welt so bekannt wie Romeo und Julia. Beide verlieben sich früh ineinander, doch heiratet Chosrou zunächst eine andere. Jahre vergehen. Als sie schließlich zusammenkommen, sind beide längst gefangen zwischen Sehnsucht, Verhärtung und Reue. Ihr Glück ist kurz: Chosrou wird von seinem Sohn ermordet, und Shirin nimmt sich daraufhin das Leben. Der iranische Filmemacher Abbas Kiarostami filmt die Zuschauer dieses Liebesdramas. Mehrheitlich sind diese Zuschauer Iranerinnen, aber auch Juliette Binoche ist unter ihnen. Sie sehen sich eine filmische Version von "Chosrou und Shirin" an und identifizieren sich mit der Heldin. So spiegeln sich auf ihren Gesichtern die unterschiedlichsten Gefühle. Kiarostamis Kameraführung ist fast statisch, die Gesichter der Zuschauer werden frontal gezeigt mit langsamen Abblenden. Dieser Film-im-Film erreicht mit minimalistischen Methoden die Spannung eines Spielfilms und erfindet das Kino als Universalsprache für Gefühle neu.

Ähnliches gilt für "Domestic Tourism" (2008), eine Collage von Sequenzen aus ägyptischen Spielfilmen. Diese Spielfilme sind im Zeitraum von 1959 bis 2006 entstanden und in der Reihenfolge ihres Erscheinens aneinander gefügt. Alle Szenen spielen vor Pyramiden. Einige dieser Filme sind Romanzen, in denen der Liebhaber seine Gefährtin zu verführen sucht. Wenn das - oft nächtliche - Rendezvous freizügig zu werden droht, wird das Paar von außen gestört, z.B. durch eine Polizeistreife. Andere Sequenzen gehören zum Genre Science Fiction oder haben Feminismus, Nationalismus, die Schönheit Ägyptens oder den Kampf gegen das Böse als zentrales Thema. Maha Maamoun nennt ihr Projekt eine "informelle Typologie von Pyramidenszenen". Für den Betrachter fügen sich diese Szenen zu einem amüsanten Panorama aus Stadtgeschichten.

Teilnehmende zeitgenössische Künstler

Doa Aly (geb. 1976 in Kairo, Ägypten; lebt in Kairo, w) Kader Attia (geb. 1970 in Dugny, Frankreich; lebt in Paris, m) Yto Barrada (geb. 1971 in Paris, Frankreich; lebt in Paris und Tanger, Marokko, w) Farah Behbehani (geb. 1981 in Kuwait City, Kuwait; lebt in Messila, Kuwait, w), Khatt Foundation Karen Chekerdjian (geb. 1970 in Beirut, Libanon; lebt in Beirut, w), Khatt Foundation Saloua Raouda Choucair (geb. 1916 in Beirut, Libanon; lebt in Beirut, w) Nada Debs (geb. 1962 in Beirut, Libanon; lebt in Beirut, w), Khatt Foundation Monir Sharoudy Farmanfarmaian (geb. 1924 in Qazvin, Iran; lebt in Teheran, w) Chohreh Feyzdjou (geb. 1955 in Teheran; gestorben 1996 in Paris, w) Reem al-Ghaith (geb. 1985 in Dubai, VAE; lebt in Dubai, w) Wafa Hourani (geb. 1979 in Hebron; lebt in Ramallah, Palästina, m) Emre Hüner (geb. 1977 in Istanbul, Türkei; lebt in New York, USA, m) Raya Khalaf (geb. 1973 in Beirut, Libanon; lebt in Beirut, w), Khatt Foundation Buthina Canaan Khoury (geb. 1966 in Palästina; lebt in Ramallah, Palästina, w) Abbas Kiarostami (geb. 1940 in Teheran, Iran; lebt im Iran, m) Rachid Koraïchi (geb. 1947 in Ain Beida, Algerien; lebt in Paris, m) Samir el Kordy (geb. 1974 in Kairo, Ägypten; lebt in Kairo, m) Maha Maamoun (geb. 1972 in Kairo, Ägypten; lebt in Kairo, w) Tala Madani (geb. 1981 in Teheran, Iran; lebt in New Haven, Connecticut, USA, w) Nassar Mansour (geb. 1967 in Amman, Jordanien; lebt in London, m) Milia Maroun (geb. 1971 in Beirut, Libanon; lebt in Beirut und Istanbul, w), Khatt Foundation Walid Raad (geb. 1967 in Chbanieh, Libanon; lebt in New York, USA, m) Mahmoud Said (geb. 1897, gestorben 1964, Ägypten, m) Ibrahim el Salahi (geb. 1930 in Omdurman, Sudan; lebt in Katar und Oxford, England, m) Bahia Shehab (geb. 1977 in Beirut, Libanon; lebt in Kairo, w), Khatt Foundation Huda Smitshuijzen-AbiFarès (geb. 1965 in Beirut, Libanon; lebt in Amsterdam, w), Khatt Foundation Mounira al Solh (geb. 1978 in Beirut, Libanon; lebt in Amsterdam, w) Nadine Rachid Laure Touma (geb. 1973 im Bekaa Valley, Libanon; lebt in Beirut, w) Akram Zaatari (geb. 1966 in Saida, Libanon; lebt in Beirut, m) (m = männlich, w = weiblich)

Kuratorenteam Chris Dercon, Direktor am Haus der Kunst Dr. León Krempel, Kurator am Haus der Kunst Prof. Dr. Avinoam Shalem, Professor für Geschichte der islamischen Kunst an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Max-Planck-Fellow am Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Florenz

Der Katalog erscheint bei Prestel, ISBN 978-3-7913-5085-1, 120 Seiten, 75 Farbabbildungen, mit Beiträgen von Avinoam Shalem, Eva-Maria Troelenberg, David Roxburgh, Remy Labrusse, Salah M. Hassan, Nada Shabout, Charles Merewether, Chris Dercon, León Krempel, Birgitt Borkopp, Filiz Cakir Philipp, Miriam Kühn und Kaelen Wilson-Goldie

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Die Zukunft der Tradition - die Tradition der Zukunft
100 Jahre nach der Ausstellung "Meisterwerke muhammedanischer Kunst"
Kuratoren: Chris Dercon, Leon Krempel, Avinoam Shalem

Künstler: Doa Aly, Kader Attia, Yto Barrada, Farah Behbehani, Karen Chekerdjian, Saloua Raouda Choucair, Nada Debs, Monir Sharoudy Farmanfarmaian, Chohreh Feyzdjou, Reem Al-Ghaith, Wafa Hourani, Emre Hüner, Raya Khalaf, Buthina Canaan Khoury, Abbas Kiarostami, Rachid Koraichi, Samir el Kordy, Maha Maamoun, Tala Madani, Nassar Mansour, Milia Maroun, Walid Ra´ad, Mahmoud Said, Ibrahim El-Salahi, Bahia Shehab, Huda Smitshuijzen-AbiFares, Mounira al Solh, Nadine Rachid Laure Touma, Akram Zaatari