press release only in german

„P.S. Last night I dreamt of a bluetit that stared at me for a few minutes and then, without a twitter, flew away. As I turned around to speak to you, instead of words, a melodic twitter of a bird emitted from my mouth.“ (Walt Kuhn an Vera Kuhn, Oktober 1912)

Der Fund eines gut 100 Jahre alten Briefes zwischen Marmorplatten in den Galerienräumen (eine ehemalige Wohnvilla), bildet den Anlass der Ausstellung „Die Marmory Show“. Dieser niemals abgeschickte Brief, datiert auf den 24.10.1912, stammt mit größter Wahrscheinlichkeit von Walt Kuhn, Maler, Organisator und Promoter der Armory-Show 1913, und ist an seine Frau Vera Spier Kuhn adressiert. Während seiner ausgedehnten Europareise zwischen September und November 1912 stand er in einem regen Austausch mit ihr. Diese unveröffentlichten Korrespondenzen geben detaillierte Einblicke in die Überlegungen und Planungen zur Armory Show. Im Oktober hielt sich Walt Kuhn für eine Woche in München auf, um eine Künstlerliste für die geplante Verkaufsausstellung zusammenzustellen. Diese Liste liest sich wie das Verzeichnis des Who-is-Who der klassischen Moderne. Mit der Armory-Show, die mit großer Wucht die europäische Avantgarde nach New York brachte, startete die Moderne in den USA. In diesem gefundenen Brief berichtet Walt Kuhn von außergewöhnlich intensiven Naturerlebnissen, die er gemeinsam mit Wassily Kandinsky bei der Lektüre der Schriften der russischen Okkultistin Helena Blavatsky machte. Doch Kuhns ebenso überraschende und zu jenem Zeitpunkt fortschrittliche Überlegung, diese Erlebnisse in das kuratorische Konzept der Armory-Show zu überführen, wird nie umgesetzt. Über die Gründe dafür kann nur gemutmaßt werden: Die turbo-avantgardistischen Arbeiten der Zeit waren an sich schon eine Überforderung des amerikanischen Kunstpublikums, so dass man es vor zudem kuratorisch-experimentellen Konzepten womöglich verschonen wollte. Plausibler erscheint uns aber, dass das damalige wissenschaftlich-kulturelle Verständnis von „Natur“ einen derartigen kuratorischen Zugang gänzlich versperrte.

Die jüngere Kunstentwicklung bestätigte uns darin, Kuhns vage formuliertes Ausstellungskonzept, in dessen Fokus das Naturerlebnis steht, aufzugreifen und umzusetzen. Sowohl im Sozialen als auch in der Natur beobachten wir, dass die Kunst die unmittelbare Transformation von Wirklichkeiten anstrebt. Künstlerinnen und Künstler lassen die Grenzziehungen zwischen Tier/Mensch, Mensch/Pflanzen porös werden, sie nehmen eine anti-essentialistische Perspektive ein, suspendieren Herrschaftsansprüche des anthropozentrischen Wissenschaftsprinzips und werfen neue Fragen zur Natur und Verantwortung ihr gegenüber auf.

Für das innerhalb der Pflanze-Mensch-Tier-Beziehung aktive Spannungsfeld sucht die Marmory Show mit den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern eine temporäre Form.

Kuratiert von Gürsoy Doğtaş und Deborah Schamoni

Abschrift des gefunden Briefes.

24 October 1912

Dear Vera,

an meinem letzten Abend in München wurde ich per Zufall Zeuge eines außerordentlichen Erlebnisses. Hiervon kann ich dir bloß schemenhaft berichten, bevor ich nach Paris aufbreche. Bitte gehe sehr vertraulich mit diesen Informationen um, in falschen Händen wäre es ein endloser Grund für Spott und Hohn.

Gestern Nachmittag auf meinem Weg zum Hotel traf ich Kandinsky, der mich überredete, an einem Treffen von Theosophie Interessierten teilzunehmen. Er meinte, sie würden sich regelmäßig treffen und gemeinsam Helena Blavatsky lesen und einiges aus ihren Büchern in die Praxis umsetzen. Heute sei wieder ein Praxisabend. Nur einige Straßen von meinem Hotel entfernt, in einer beeindruckende Villa, hatten sich Personen (mit mir sieben) versammelt (unter anderem auch Marianne von Werefkin). Zwar war ich willkommen, aber man bat mich in einem ernsten Ton, nur zu sprechen, wenn es gar nicht anders ginge und ansonsten solle ich mich in die Abläufe schnell und geschickt einfinden. Alles begann mit einer angeleiteten Konzentrationsübung auf einen Schneeflocken-Obsidian. Während dessen verflüssigte sich auf eine komische Weise das Außen mit dem Inneren. Also irgendwie war es, als wäre ich dieser Stein selbst oder hätte seine Frequenz.

Das Nächste woran ich mich erinnere ist, dass jeder von uns ein sehr kleines Stück eines Pilzes aß und wir uns draußen im waldähnlichen Park befanden. Obwohl das Ganze kräftig dem gesunden Menschenverstand widerspricht, war es doch sehr real. Ich trat mit einer Buche (ja, einem Baum) in Kontakt. Dies kann man keineswegs mit der Kommunikation zu einem anderen Menschen vergleichen. Vielmehr befand ich mich im energetischen Feld diese Baumes, in seiner Aura, so erzählte man mir später. Über ein feinstoffliches Energiesystem strömten seine Kräfte in meinen Körper, aber in einer unglaublichen Wechselbeziehung strömten auch meine Kräfte in den Baum.

Mit dem Versuch diese sensationellen Energien und Vibrationen in einen Text zu überführen, kann ich nur scheitern: Baum, Bahn, Band, bannen, bändern, beben, bedanken... Meinst du solche Erlebnisse könnten auch in der Ausstellung hergestellt werden? Neben der umfangreichen Sammlung radikaler europäischer Kunst. Mal sehen, vielleicht fällt mir in der nächsten Zeit eine Form hierfür ein.

Love, W

Ps.: Heute Nacht träumte ich von einer Blaumeise, die mich Minuten lang anblickte und ohne einmal gezwitschert zu haben, wegflog. Als ich mich dann umdrehte, um mit dir zu sprechen, kamen keine Worte aus meinem Mund, sondern nur die melodischen Piep-Töne eines Vogels.

only in german

DIE MARMORY SHOW

Künstler:
Aaron Angell, Tue Greenfort, Pierre Huyghe, Anne Imhof, Dani Jakob, Josephine Pryde, Yorgos Sapountzis, Hannah Weinberger.

Kuratoren:
Gürsoy Dogtas, Deborah Schamoni