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Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Gregory Williams und der Sammlung Grässlin, St. Georgen, 02.03.2009 Erstveröffentlichung:
STIFTUNG GRÄSSLIN, Hrsg.
"Martin Kippenberger/Schon wieder Kippenberger" St. Georgen: Sammlung Grässlin, 2008
Bildstrecke mit Fotos der Sammlung Grässlin, St. Georgen

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In einem Aufsatz für die politische Zeitschrift Kursbuch von 1977 versuchte Johann August Schülein aus gesellschaftspsychologischer Perspektive zu erklären, inwieweit die Tendenzwende, ein Mitte der 70er Jahre in Westdeutschland häufig benutzter Begriff zur Beschreibung eines Wandels in Richtung politischer Gleichgültigkeit und Neokonservatismus, dazu führte, dass sich zahlreiche Linke aus der Öffentlichkeit zurückzogen. Mit dem Begriff Rückzug ins Private bezeichnete Schülein typische Probleme und Reaktionen, die in jüngster Zeit aufgekommen waren, als sich schöpferischer Protest in starren Dogmatismus verwandelt hatte. Schülein rief dem Leser ins Gedächtnis, dass das Moment der Selbstkritik für eine Kritik der Gesellschaft unabdingbar sei. Er schrieb: „Die Identität, über die ein Subjekt verfügen muss, um unter den Bedingungen der Tendenzwende politisch oppositionell zu werden, muss wesentlich selbstreflexiv sein. Kritische Phantasie allein reicht nicht mehr aus.“ (1)

Laut Schülein war die den Problemen des Alltags entgegengebrachte Aufmerksamkeit nicht nur negativ zu deuten, vielmehr bedeutete der Rückzug ins Private eine „historisch notwendige Konzentration auf die Alltagsprobleme, die bisher politische Praxis behindert und verzerrt haben.” (2)

Für die Generation Martin Kippenbergers barg die wiederbelebte Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen eine Verlagerung des Fokus von der makrokosmischen Welt des Politischen hin zum mikrokosmischen Bereich des Prosaischen. Während Joseph Beuys mit seiner „sozialen Plastik“ und der in ihr wirksamen Verflechtung von Leben und Kunst mittels bewährter Avantgarde-Prinzipien gescheitert zu sein schien, war Kippenberger mehr Erfolg beschieden, indem er sich bescheidenere Ziele setzte. Er stellte Beuys’ Leitspruch „Jeder Mensch ein Künstler“ auf den Kopf und verkündete: „Jeder Künstler ist ein Mensch.“ Der Alltag wurde entsprechend künstlerisch neu erfunden und dabei jede Gelegenheit genutzt, ein Objekt zur Kennzeichnung eines möglichst gewöhnlichen Ereignisses zu schaffen. Im Gegensatz zu Beuys, der den Eindruck vermittelte, sein künstlerischer Output folge einem kryptischen Masterplan, neigte Kippenberger eher zur Vermeidung von Metakonzepten. Der Wert, den er der unmittelbaren Umgebung, einfachen Vergnügungen und häuslichen Obsessionen beimaß, schmälerte die Bedeutung des Künstlers im Sinne eines großen Vermittlers beziehungsweise einer mit gewisser Autorität ausgestatteten Stimme.

Auf der Skala dessen, worin sich in den 80er Jahren künstlerische Kompetenz ausdrückte, verortete man Kippenberger irgendwo zwischen der Figur des Experten und der des Dilettanten. Einerseits lässt sich nicht bestreiten, dass Kippenbergers Strategie zur Erlangung eines Namens innerhalb der Kunstwelt auf lange Sicht gesehen äußerst wirkungsvoll war. Seine permanente Präsenz in zahlreichen deutschen und internationalen Städten, verbunden mit seinem unerschöpflichen Materialausstoß, sicherte ihm allein aufgrund seiner Hartnäckigkeit einen gewissen Rang. Allerdings berief er sich, was das Fehlen einer technischen Ausbildung, seine Bereitschaft zur Erprobung aller einer bestimmten Idee dienlichen Medien sowie die Projektion des Amateurhaften in vielen seiner Arbeiten betrifft, auf die lange Tradition des Dilettantismus. Zweifellos trug eine Mischung aus beiden Merkmalen zur Konsolidierung von Kippenbergers Stellung innerhalb des Kunstmarktes bei, auch wenn er bisweilen stärker in die eine oder andere Richtung tendierte. Gert Mattenklott argumentiert, dass die klassische Rolle des Dilettanten, die Ende des 18. Jahrhunderts den Höhepunkt ihrer Popularität erreicht hatte, heute, da jene ältere Funktion durch den „Intriganten“ übernommen wird, nicht mehr existiert. Anstelle des Dilettanten steckt der „Selbstmacher“ sein neues Territorium ab: „Mit neuem Pathos ist schließlich in das alte Haus des Dilettanten auch der Selbermacher aus Skepsis gegen das Wissen eingezogen.“(3) Wissen in Gestalt von Kompetenz entsprach nicht dem neuen Modell des Kunstmarkterfolgs, was allerdings nicht besagt, dass man dafür dem Erfolg an sich entsagte. Lediglich die Regeln für die Auseinandersetzung mit ihm änderten sich.

Diedrich Diederichsen betont, dass die Jahre 1982 – 84 einen Wandel im Hinblick auf Kippenbergers Entscheidung zugunsten einer eigentlichen Künstlerkarriere markieren, „wo der Einflussraum größer geworden war.“ (4) In diese auf seinen Aufenthalt in Berlin und anderswo folgende Zeit fallen Kippenbergers erste große Einzelausstellungen und der Beginn der Zusammenarbeit mit den Galeristen Bärbel Grässlin und Max Hetzler, die ihre Aktivitäten 1983 von Stuttgart nach Köln verlagerten. Der Übergang zum Vollprofi wurde laut Diederichsen schließlich mit der 1984 im Essener Museum Folkwang stattfindenden Ausstellung Wahrheit ist Arbeit vollzogen, die Arbeiten von Kippenberger, Albert Oehlen und Werner Büttner umfasste.(5) In Kunstkreisen wurden Büttner, Oehlen und Kippenberger, deren Gemeinsamkeit man eher in ihren Galeriebeziehungen als in einer formalen, selbstbestimmten kollektiven Identität sah, nun erstmals als „Hetzler-Gruppe“ tituliert. Diese Gruppe trat allerdings weder durch ein Manifest noch durch einen Namen wie Mülheimer Freiheit hervor, den sich einige Kölner Künstler aus dem Umfeld der Galerie Paul Maenz gegeben hatten.

Die Gespräche dieser Künstlergeneration wechselten in den 80er Jahren häufig zwischen öffentlichen und privaten Themen und überschritten, sofern sie in einem spezifisch öffentlichen Umfeld stattfanden, oftmals die für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen geltenden Grenzen. Dies lässt sich am eindrücklichsten an den Crossover-Aktivitäten Kippenbergers während der späten 70er Jahre in West- Berlin ablesen, als es in seiner noch ungeformten Künstlerkarriere leichter zu Verschmelzungseffekten mit der örtlichen Punk-Musikszene kam. Andererseits zeugen während dieser Zeit entstandene Arbeiten auch von den inneren Problemen, die sich dann einstellen, wenn sich das eigene Publikum vom Künstler entfremdet oder sich von ihm unzureichend repräsentiert fühlt. Nach Schließung des Punk-Clubs SO36, den er zwei Jahre lang mitgeführt hatte, wurde Kippenberger von ehemaligen Stammgästen vermeintlich wegen der überhöhten Getränkepreise in seinem ehemaligen Laden krankenhausreif geschlagen. Ein Polaroidfoto des verletzten Künstlers tauchte im folgenden Jahr als Motiv einer Einladungskarte zu der Ausstellung Dialog mit der Jugend in der Stuttgarter Galerie Achim Kubinski auf und diente als Vorlage für Kippenbergers berühmtes Selbstbildnis mit lädiertem Gesicht aus dem Jahr 1982. In Kippenbergers Fall blieb der öffentlich-private Bereich offen, solange er sich noch nicht definitiv entschieden hatte, welche Art von Karriere er verfolgen würde. Als er sich im Jahr 1984 endgültig entschloss, eine Künstlerlaufbahn einzuschlagen, verengte er seinen Wirkungsbereich etwas, ohne ihn dabei wirklich zu beschneiden, um den Erfordernissen der zunehmend professionalisierten Kunstwelt gerecht zu werden.

Zu Kippenbergers wirksameren Strategien zur Sicherung seiner Position innerhalb des Kunstmarktes zählte die Zementierung seiner Beziehungen zu Sammlern, Kritikern und Kuratoren. Zahlreiche Kontakte mit Menschen, die in Kippenbergers Alter waren, entstanden in Form von Freundschaften und Gruppenzugehörigkeiten auf der Basis gemeinsamer kultureller Vorlieben. Tatsächlich entspricht die Bedeutung generationsbedingter Verbindungen in der Bundesrepublik der 80er Jahren beinahe den Beziehungen zwischen Sammlern und Künstlern.Wie der Katalog zur Ausstellung mit Werken aus der Sammlung in den Hamburger Deichtorhallen belegt, fungiert die Familie Grässlin bei vielen der von ihr gesammelten Künstler im Sinne eines „Ermöglichers“ oder sogar „Koproduzenten“.(6) Wilfried Dickhoff lenkte in den frühen 90er Jahren den Blick auf jenen dynamischen Austausch zwischen in Köln tätigen Künstlern und ihren Freundeszirkeln, zu denen in entscheidender Weise auch Sammler zählten.(7) Auch wenn Köln für Kippenberger offensichtlich von zentraler Bedeutung war, verließ er wie andere Künstler seiner Generation (beispielsweise Albert Oehlen, Georg Herold oder Günther Förg) die Mauern dieser internationalen Kunsthauptstadt, um mit Sammlern in St. Georgen und in anderen an der kulturellen Peripherie gelegenen Städten zusammenzuarbeiten. In kleinerem Maßstab konnte St. Georgen in Sachen finanzieller und moralischer Unterstützung durchaus mit dem Ruhrgebiet mithalten, wenn auch in einem weniger konkurrenzartigen Zusammenhang. Darüber hinaus vertrug sich der Geschäftssinn der Familie Grässlin gut mit Kippenbergers Neigung zu unermüdlicher künstlerischer Produktion. Die Frage des Kontextes hing in der bundesrepublikanischen Kunst der 80er Jahre zum Teil entscheidend vom Aufbau und der Erhaltung derartiger gesellschaftlicher Verbindungen ab, die solange wirksam waren, wie sie den Beteiligten zur Erreichung ihrer persönliche Ziele verhalfen. Obwohl die so entstandenen Arbeiten zuweilen auf die ausgesprochen soziale Komponente ihrer Entstehung verwiesen (Kippenbergers Dialog mit der Jugend spricht den im öffentlichen Umfeld stattfindenden Moment, der Anregung zu diesem Bild war, direkt an), lieferten sie im Großen und Ganzen keinen selbstreflexiven Kommentar zum Ort beziehungsweise Milieu ihrer Entstehung. Auf das unmittelbare soziale und kulturelle Umfeld wurde eher intuitiv und unreflektiert reagiert, und dabei konzentrierte Kippenberger sich auf Realitätsaspekte, denen er im Alltag – vermittelt durch andere Künstler, die Massenmedien oder durch die Werbung – begegnete. Erst Anfang der 90er Jahre fand der Begriff der Kontextkunst in den deutschsprachigen Ländern allgemeine Verbreitung zur Beschreibung einer Vielzahl künstlerischer Praktiken, deren vorrangiges Thema die „gesellschaftliche Konstruktion von Kunst“ war.(8) Kippenberger selbst kommentierte diese Tendenz nicht bloß reflektiert aus der Distanz, sondern stützte sich auf Freundschaften als wesentlichen Bestandteil seiner Arbeitsweise.

Ende 1980 war Kippenberger erstmals über einen längeren Zeitraum Gast der Familie Grässlin in St. Georgen, wo er fast ein Jahr lebte und arbeitete. Der Ort diente ihm dabei als Operationsbasis und, bezeichnend für das strapaziöse Leben Kippenbergers, als Rückzugsort gegenüber den Versuchungen der Großstadt. In St. Georgen strukturierte er seine Zeit entsprechend dem Doppelmotto Sahara/ Anti-Sahara, wobei Sahara eine Trockenperiode nach einer längeren Alkoholphase, Anti-Sahara hingegen eine nur kurze Unterbrechung des alkoholfreien Lebens in St. Georgen bezeichnete, die Kippenberger für nötig erachtete, um Weihnachten feiern zu können. Hier lässt sich ein frühes Beispiel für seinen Drang ausmachen, sich freiwillig in den Schoß einer Wahl-„Familie“ zu begeben. In den Wochen vor dem Anti-Sahara-Ereignis hatte Kippenberger bereits etwa 150 Bilder im Format 50 x 60 cm gemalt. Er überredete Anna Grässlin, ihn an Heiligabend alle seine neuen (und zum Teil noch feuchten) Bilder salonartig in ihrem Wohnzimmer aufhängen zu lassen. Im Kreise der Familie wurden die Serien zusammengestellt und die Titel dafür gemacht. Dieser Bericht deckt sich mit den vielen Beschreibungen hinsichtlich Kippenbergers Angewohnheit, sich im Hinblick auf Ideen und Titel bei Assistenten, Kollegen und Freunden zu bedienen, die Credits dafür jedoch selbst einzustreichen.

Bei Kippenberger bilden die zwischen Künstler, Sammler und Kritiker herrschenden Beziehungen häufig den Inhalt seiner Arbeiten. Unabhängig vom konkreten Verlauf seiner Karriere sorgte Kippenberger dafür, dass alle, die mit ihm zusammenarbeiteten, freiwillig oder unfreiwillig aus allen möglichen Einflussbereichen in seinen Orbit gerieten, um ihm letztlich bei der Entscheidungsfindung und der Eingrenzung vorgegebener Projekte zu helfen. Man sagt, dass eine zunehmend breite Basis internationaler Sammler heute über eine nie da gewesene Macht verfügt, egal ob sie nun erstklassige Künstler kaufen oder die Kunstakademien auf der Suche nach jungen Talenten plündern. Dies mag stimmen, doch der von diesen Jetset-Sammlern des 21. Jahrhunderts ausgeübte Einfluss scheint sich häufig eher auf dem finanziellen als auf dem materiellen beziehungsweise konzeptuellen Aspekt des künstlerischen Produktionsprozesses zu gründen. Bei Kunstobjekten, die auf Kunstmessen oder in Galerien erworben werden, handelt es sich in der Regel eher um „Endprodukte“ als um „Works in Progress“. Das soll nicht heißen, dass ein heutiger Sammler nicht direkt in das Arbeitsleben des von ihm geförderten Künstlers einbezogen sein kann, doch wird unter den Auswirkungen der Globalisierung die kollaborative Verbindung, die durch eine auf einer lokalen Grundlage produzierten und rezipierten Kunst erzeugt wird, unter Umständen abgeschwächt.

Kippenbergers Multiples verdeutlichen in kompakter Form die Bedeutung lokaler Wurzeln für seine Arbeiten. So thematisierte er bereits 1981 in seinem Bild Alkoholfolter seinen Hang zur Sucht. Er ist mit ängstlichem Blick dargestellt, während seine erhobenen Hände in zwei Plastikringen stecken, die zu beiden Seiten von der mittleren Büchse eines Dreierpacks Bier ausgehen, wie sie die berühmte Schlösser-Alt-Brauerei in Düsseldorf produzierte. In einem für seine Arbeitsweise typischen Schachzug integrierte er die Bierdosen-Handschellen in spätere Arbeiten, benutzte sie 1984 für ein Zeitschriftencover und schuf 1989 aus dem dreidimensionalen Objekt ein (in der vorliegenden Ausstellung gezeigtes) Multiple. Hatte sich Kippenberger erst in ein Motiv verbissen, egal ob selbst produziert oder aus der Bilderwelt der Massenmedien übernommen, so verarbeitete er dieses Motiv immer wieder, bis sein Gebrauchswert schließlich erschöpft war. Das Multiple, ein besonderes Format mit deutlichen Konnotationen lokalen sozialen Lebens, führt den Betrachter am deutlichsten zum Ausgangspunkt der Referenz zurück.

Ein weiteres Beispiel lässt sich in diesem Sommer an den Wänden von Sabine Grässlins Wohnung in St. Georgen betrachten. Angeordnet in einfachen Holzrahmen finden sich hier sämtliche bis in die späten 70er Jahre zurückreichende Kippenberger-Einladungskarten aus der Sammlung. Die Grässlins hegen seit langem ein Interesse an Details von Künstlerkarrieren und sammeln Ephemera aller in der Familiensammlung vertretenen Künstler. 1993, gegen Ende eines mehrjährigen Aufenthaltes in St. Georgen, fügten Kippenberger und Thomas Grässlin Einladungskarten zu einer neuen Arbeit zusammen. Grässlin schickte die gesammelten Kippenberger-Einladungen an einen Kölner Rahmer, der sie so anordnen sollte, dass sie in die entsprechenden Rahmen passten. Kippenberger und Grässlin waren mit dem Ergebnis so zufrieden, dass Kippenberger die Gesamtserie schließlich zu einer eigenständigen Arbeit erklärte. Das so entstandene Raster aus Einladungskarten erinnert entfernt an Gerhard Richters Projekt Atlas, das, begonnen in den frühen 60er Jahren, inzwischen mehr als 600 Tafeln mit unterschiedlichen Bildern verschiedenen Ursprungs (Zeitungsfotos, Schnappschüsse, Reproduktionen) umfasst. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden „Werken“ liegt natürlich im Bereich der verwendeten Bilder, denn während Richter bekanntermaßen extrem disparate und häufig nicht miteinander harmonierende, gegensätzliche Bilder (beispielsweise Fotos aus Konzentrationslagern und Abbildungen bunter Blumen) miteinander mischt und kombiniert, bleibt bei Kippenberger die komplette Bildgruppe der eigenen singulären Karriere verhaftet.Während sich der eine Künstler auf die Seite des aggressiven Allgemeinen schlägt, zielt der andere auf das in hohem Maße Spezielle ab. Jeder Künstler vertritt auf seine Art den Begriff des Allumfassenden, wobei Kippenberger allerdings niemals zuließ, dass sich die Bilder zu weit von seiner Person und seinem sozialen Umfeld entfernten.(9)

Selbst in seinen umfangreichsten Arbeiten wahrte Kippenberger stets den Eindruck des Privaten, während der ausgesprochen öffentliche Charakter seines Werks wirksam jede Privatheit innerhalb seines Alltags eliminierte. So bereitete er beispielsweise seine größte Einzelinstallation, The Happy End of Franz Kafka’s Amerika (erstmals ausgestellt im Jahr 1994) in einem Atelier in St. Georgen vor, das ihm die Familie Grässlin zwischen 1991 und 1994 vermittelt hatte. Im Feriendomizil seines Freundes Michel Würthle in Griechenland entstand Kippenbergers Museum of Modern Art Syros (MOMAS, ab 1993). Sowohl St. Georgen als auch Syros dienten Kippenberger als halbprivate Rückzugsorte, an denen er neue Energie tanken konnte, die er aber auch zwangsläufig zur Planung und Produktion umfangreicher Projekte nutzte.

Eine der wichtigen Installationen der frühen 90er Jahre, Birkenwald – die im Kunstraum Grässlin zusammen mit Tiefes Kehlchen und Broken Kilometer präsentiert wird –, war zuerst in Lund, San Francisco und Wien zu sehen. Als man die Arbeit 1990 in der Galerie Anders Tornberg im schwedischen Lund aufbaute, umfasste sie sowohl echte Birken als auch Attrappen. In der Wiener Ausstellung (1991) benutzte Kippenberger ausschließlich künstliche Baumstämme – mit Rindentapete kaschierte Kunststoffröhren –, die ein wenig fiktive Natur in jenen ungenutzten U-Bahn-Tunnel brachten.(10) Bei der Installation der Arbeit in Anna Grässlins Haus (1994) standen echte, vom Fußboden bis zur Decke reichende Birken aus dem umliegenden Schwarzwald neben künstlichen Nachbildungen, was dem Gesamtensemble eine eigentümlich ländliche Form der Ortsspezifik verlieh, die sich auf Kippenbergers Aufenthalt in St. Georgen bezog.

Die Tatsache, dass Kippenbergers Kritiker, Sammler und Kollegen gelegentlich eine kollaborative Funktion übernahmen, gewährleistete mehr oder weniger, dass seine Arbeiten zumindest von einigen stets freundlich aufgenommen wurden. Ebenso wichtig war in seinem Fall, dass der Rezipient über einen gewissen Sinn für Humor verfügen musste, vorausgesetzt, dass das Lachen vollständig von der Disposition des Publikums gegenüber einer durch den Witz verursachten Erschütterung kommunikativer Codes abhängt. Der Soziologe Arthur Asa Berger bezeichnet die kleinsten Elemente innerhalb der Witzstruktur als „Jokeme“.(11) Immer dann, wenn das Publikum die unpassende Anordnung der Jokeme nicht versteht oder, ebenso entscheidend, nicht akzeptiert, fällt eine Arbeit zwangsläufig durch. Kippenbergers Witze konnten durchaus leicht verständlich, um nicht zu sagen flach sein, wenn auch zuweilen nur ein enger Personenkreis die Deutungshoheit besaß.

Bei den auf unverhohlene Weise unverständlichen Witzen, insbesondere bei den Gemäldeserien und gruppenspezifischen Insider-Jokes, kalkulierte Kippenberger eine ausgesprochen flexible Interpretation mit ein. Dies erklärt unter anderem seine heutige posthume Popularität, denn es ist kaum anzunehmen, dass sich alle Sammler, die sich derzeit um seine Arbeiten reißen, gerade durch Kippenbergers spezifischen Humor auszeichnen. Der Rezeptionstheoretiker Hans Robert Jauß trifft eine praktische Aussage im Hinblick auf die Geschichte der Deutung anerkannter literarischer Werke: „Wenn der literarische Text primär als Antwort aufgenommen wird oder der spätere Leser zunächst eine überlieferte Antwort in ihm sucht, setzt dies mitnichten voraus, daß der Autor selbst eine ausdrückliche Antwort in seinem Werk formuliert haben muß.“ (12) Die Bestimmung des auktorialen Gehalts im Werk deutscher Künstler aus Kippenbergers Generation ist zweifellos ein riskantes Unterfangen; häufig entstanden die Arbeiten so hastig, dass für eine Reflexion ihrer anschließenden Rezeption wenig Zeit blieb. Andererseits ist jede Behauptung einer vollständigen Bedeutungswillkür entschieden zurückzuweisen. Letztendlich konnten die Künstler weiterhin Arbeiten mit einem hohen Grad an semantischer Verspieltheit produzieren, da es ausreichend viele loyale Kritiker und Sammler gab, die sie einem nicht initiierten Publikum erklären konnten.

Das sich in den 80er Jahren entwickelnde Werk Kippenbergers schien symptomatisch für allgemeinere Gegensätze (zwischen Theorie und Praxis, Kritiker und Künstler, Ernsthaftigkeit und Ironie usf.) zu werden, die inzwischen die Kunstproduktion und -rezeption Mitte der 90er Jahre bestimmten. In drei zwischen 1993 und 1997 realisierten Projekten widersprach Kippenberger entschieden der Vorstellung, er würde lediglich eine Macho-Schocktaktik verfolgen: In der Arbeit Metro-Net (1993–97) realisierte er seine Vision eines erdumspannenden U-Bahn-Systems (13); in seinem Museum of Modern Art Syros, untergebracht in einem abgelegenen, unfertigen Sichtbetonbau, machte er sich über die Ausbreitung regionaler Museen moderner beziehungsweise zeitgenössischer Kunst lustig; und in seiner Arbeit The Happy End of Franz Kafka’s Amerika arrangierte er Dutzende von Designermöbeln auf einem künstlichen Fußballfeld zu einem potenziellen Happy End für Kafkas unvollendeten Roman. Diese drei Arbeiten behandelten weniger hermetische, private Themen und wiesen stattdessen gar in Richtung einer „ernsthafteren“ Institutionskritik.Würden sich die späteren Arbeiten Kippenbergers nicht nach wie vor durch Humor und Sprachwitz auszeichnen, könnte man fast annehmen, dass er selbst in den 90er Jahren einen aktiven Beitrag zum schrittweisen Verzicht auf Ironie geleistet hätte. Der Kunsthistoriker Boris Groys erklärte 1993 in einem Interview, dass die Gegenwart noch von Ironie geprägt sei, obwohl Ironie und Witze im herrschenden westlichen Pluralismus eigentlich bereits ausgestorben seien. Groys erläutert: „Denn in einer pluralistischen Gesellschaft denkt jeder vom anderen, dass er dumm sei. Es gibt keinen gemeinsamen hermeneutischen Hintergrund, vor dem ein Witz überhaupt sinnvoll wäre.“(14)

Kippenberger und andere Vertreter seiner Generation enthüllen in ihren eigenen Worten das Fehlen gemeinsamer Codes, durch die ein Witz erst funktioniert oder „ankommt“. Gleichzeitig ziehen sie sich in den Mikrokosmos des Insider-Witzes zurück und verhindern damit, dass ein Witz nicht funktioniert. Für Groys allerdings erklärt das Problem der Erhaltung der kollektiven Kraft des Witzes im Pluralismus letztlich nicht das Ende der Ironie. Ganz im Gegenteil: Die Welt, das Leben sind ihrerseits in dem Maße zur Ironie verkommen, wie die ironische individuelle Subjektivität im Wettkampf mit der Gesellschaft stets den Kürzeren ziehen wird: „Die Welt in der wir leben ist viel, viel ironischer als alle Witze, die wir denken können.“ (15) Vielleicht entspricht dies Kippenbergers eigener Einsicht zum Zeitpunkt der Entstehung seiner späten, umfangreichen Projekte. Indem er in ihnen ein langsameres, überlegteres Tempo vorgab, verzichtete er auf hastig herausgehauene Witze zugunsten des Anzapfens der makroskopischen Ironien heutiger gesellschaftlicher und kultureller Strukturen.

Doch trotz wesentlicher Verschiebungen innerhalb seines Ansatzes bestimmte Kippenbergers in den späten 70er Jahren vollzogener „Rückzug ins Private“ weiterhin seine Existenz. Die Tatsache, dass die zuletzt entstandenen, groß angelegten Projekte sich häufig privaten oder halbprivaten Situationen verdankten, zwingt Kritiker und Kunsthistoriker, die mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Tod über ihn schreiben, zur allmählichen Besinnung, insbesondere was die Tatsache anbelangt, dass auch nachfolgende Interpretatoren seiner Karriere von jener geheimen Absprache heimgesucht werden, selbst wenn man Kippenbergers Gegenwart heute nicht mehr als „Bedrohung“ empfinden muss. Seine Arbeitsweise wurde als Errichtung von Manipulations- und Assistenznetzwerken bezeichnet, die sich bei der Herstellung eines Objektes, bei der Titelfindung oder beim Vertrieb von Arbeiten innerhalb des öffentlichen Sektors nutzen ließen. Je mehr ein Autor über die Kippenberger eigene Überzeugungsgabe erfährt, desto weniger zuversichtlich wird er seine eigene Fähigkeit zu unvoreingenommener, objektiver Beurteilung des konkreten Kunstwerks einschätzen, ob es sich dabei nun um ein Gemälde, eine Musikaufnahme oder eine Ausstellungseinladung handelt. Die Geschichten und Anekdoten, die sich geradezu als Teil der Erklärung einer Arbeit aufdrängen, dienen tatsächlich nur dazu, den Rezipienten fester in Kippenbergers Kontroll-Netzwerk einzubinden. Bei der Vorstellung eines künftigen Besuchs der Sammlung Grässlin in St. Georgen kann man sich daher nur schwer des Gefühls erwehren, dass der Künstler hier noch immer Einfluss auf die Handlungen des Kritikers ausüben wird. 
Gregory Williams 
Übersetzung Ralf Schauff 

1 Johann August Schülein, „Von der Studentenrevolte zur Tendenzwende oder der Rückzug ins Private“, Kursbuch 48 (Juni 1977), S. 112.
2 A. a.O., S. 116 [Hervorhebung Schülein].
3 Gerd Mattenklott, „Das Ende des Dilettantismus“, Merkur 9/10 (Sept./Okt. 1987), S. 760.
4 Diedrich Diederichsen, „Virtueller Maoismus: Das Wissen von 1984“, Werner Büttner, Martin Kippenberger, Albert Oehlen,
Malen ist Wahlen, Ausst.-Kat., Kunstverein München 1992, S. 32.
5 Ebd.
6 Zdenek Felix (Hrsg.), Vom Eindruck zum Ausdruck – Grässlin Collection, Ostfildern-Ruit 2001.
7 Vgl.Wilfried Dickhoff, „ ‚Matratzenlager‘. Ein Gespräch mit dem Sammler über ‚Ars Pro Domo‘ und die Kunst nach der Kunst“,
ders. (Hrsg.), Ars Pro Domo. Zeitgenössische Kunst aus Kölner Privatbesitz, Köln 1992, S. 11.
8 Vgl. Peter Weibel (Hrsg.), Kontext Kunst. Kunst der 90er Jahre, Köln 1994.
9 Als geistreiche Würdigung des grässlinschen Wunsches nach einer „vollständigen“ Sammlung schenkte Kippenberger der Familie 1993
mehrere kleinformatige Kopien von Werken, die sie zum Enstehungszeitraum nicht für ihre Sammlung angekauft hatte.
Die Zuerst nicht gekauften Bilder lassen sich als Geste der Freundschaft deuten, die es Kippenberger ermöglichte, seine Stellung in
St. Georgen zu festigen.
10 Bei der in Wien gezeigten Fassung handelte es sich um eine Kopie der in San Francisco ausgestellten Originalversion.
Die Replik entstand, um Transportkosten zu sparen und direkt aufeinander folgende Ausstellungstermine zu gewährleisten.
Vgl. zur Wiener Installation Susanne Neuburger, „ ‚Mir scheint, ich habe zu tief gesägt…‘ Assoziation und Dissoziation in
Martin Kippenbergers Tiefem Kehlchen“, Eva Meyer-Hermann, Susanne Neuburger (Hrsg.), Nach Kippenberger,
Ausst.-Kat., Wien, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, und Eindhoven, Van Abbemuseum, 2003, S. 152–163.
11 Arthur Asa Berger, „Anatomy of the Joke“, Journal of Communication 26, Nr. 3 (Sommer 1976), S. 114.
12 Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt am Main 1970, S. 241.
13 Die Grässlins besitzen die verwandte Arbeit Transportabler Lüftungsschacht, die 1997 für die Skulptur Projekte Münster entstand.
14 Brigitte Franzen, Michael Scholz-Hänsel, „ ‚Die Welt in der wir leben ist viel, viel ironischer als alle Witze, die wir denken können. ‘
Ein Interview mit Boris Groys“, Kritische Berichte: Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften 21, Nr. 1, 1993, S. 11.
15 Ebd. Dieses Zitat bildet auch den Titel des Interviews.

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